Joseph Wirth, Reichstagsrede anläßlich der Ermordung Walther Rathenaus, 24. Juni 1922

Einleitung

Der dem linken Spektrum der katholischen Zentrumspartei zugehörige Joseph Wirth (1879-1956) wurde im Mai 1921 Reichskanzler. Deutschland hatte den Ersten Weltkrieg verloren und sah sich nach dem Abschluß des Friedensvertrages von Versailles (1919) Reparationsforderungen der alliierten Siegermächte (vor allem Frankreichs und Großbritanniens) gegenüber. Viele Fragen zur Höhe der vom Deutschen Reich zu entrichtenden Schuld blieben ungeklärt. Auf der Finanzkonferenz von Spa im Juli 1920 wurden deutsche Politiker und Finanzexperten zu dieser Frage erstmals von den Alliierten gehört.

Der damalige Reichsfinanzminister Joseph Wirth hatte im Frühjahr des Jahres Walther Rathenau kennengelernt, den er nun zur Teilnahme als Sachverständiger an der deutschen Delegation für Spa aufforderte. Beider Biographien konnten in den vergangenen Jahren besser als bisher erforscht werden, da dank der Öffnung russischer Archive seit den frühen 1990er Jahren umfangreiches neues Quellenmaterial zugänglich geworden ist.

Rathenau war der Sohn des AEG-Gründers Emil Rathenau. Wie der Vater wurde er Industrieller. Vor dem Ersten Weltkrieg besaß er über die Mitgliedschaft in den Führungsgremien zahlreicher Unternehmen und deren Beteiligungen maßgeblichen Einfluß in zeitgleich etwa 300 Firmen. Als einer der wichtigsten Vertreter der verarbeitenden Industrie strebte er eine politische Position an. Mit der ehrenamtlichen Übernahme des Aufbaus und der Leitung der Kriegs-Rohstoffabteilung im Preußischen Kriegsministerium von August 1914 bis März 1915 leistete er einen wichtigen Beitrag zur staatlich kontrollierten Bewirtschaftung der Rohstoffe in der deutschen Volkswirtschaft für den Kriegsbedarf. Um die Zeit des Kriegsendes war Rathenau von staatlichen Stellen erneut sehr gefragt. Seine Mitwirkung als Experte für Fragen der weltwirtschaftlichen Finanzen in Spa war Ausdruck dieser Situation.

Während der Konferenz spaltete sich die deutsche Delegation in zwei Flügel. Eine national gesinnte Gruppe um den Ruhrindustriellen Hugo Stinnes (1870-1924) wollte dem französischen Druck zur Zahlung als überhöht empfundener Reparationsforderungen nicht nachgeben. Andere, kooperativer gesinnte Teilnehmer um Rathenau und Wirth entwickelten dagegen das kurz darauf pejorativ als "Erfüllungspolitik" geschmähte außenpolitische Konzept, den Forderungen der Westmächte bis zur Grenze des "Erfüllbaren" nachzugeben. Es galt, Kooperationsbereitschaft zu zeigen, internationale wirtschaftliche Außenkontakte in der Nachkriegszeit wieder herzustellen und mit dem kalkulierten Scheitern der eigenen Zahlungsfähigkeit zugleich den Siegermächten die Unsinnigkeit ihrer überzogenen Forderungen vor Augen zu führen. Wirth und Rathenau arbeiteten von nun an kontinuierlich eng in der Reparationsaußenpolitik zusammen.

Als Wirth im Mai 1921 mit der Bildung einer Reichsregierung beauftragt wurde, machte er Rathenau zum Minister für Wiederaufbau. In dieser Funktion schloß Walther Rathenau mit seinem französischen Amtskollegen Louis Loucheur das Reparationsabkommen von Wiesbaden. Nach der innenpolitisch motivierten Auflösung des ersten Kabinetts Wirth Ende Oktober 1921 konnte der alte und neue Regierungschef Rathenau erst Ende 1922 zum Reichsaußenminister ernennen. Während Wirth etwa seit Herbst 1921 einen rigideren Kurs gegenüber den Westalliierten einzuschlagen bereit war, hielt der neue Leiter des Reichsaußenministeriums weitgehend an seiner kooperativen Haltung fest. Das während der internationalen Finanzkonferenz von Genua am 16. April 1922 geschlossene deutsch-sowjetische Abkommen von Rapallo über die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen und verbesserter Zusammenarbeit nach dem Kriege zeigte dies. Während Rathenau die Westmächte in das Abkommen einbinden wollte, konnte sich der Teil der deutschen Diplomatie, u.a. Wirth, durchsetzen, der ein bilaterales Separatabkommen vorzog.

Am 24. Juni 1922 wurde Rathenau auf dem Weg von seinem Wohnhaus in das Außenministerium in Berlin ermordet. Wirths Verweis darauf, Rathenau habe den ihm angebotenen Personenschutz abgelehnt, ist weitestgehend zutreffend. Seit 1918 hatte es immer wieder Hinweise auf eine geplante Ermordung Rathenaus durch Antisemiten gegeben, die sich in den Amtszeiten Rathenaus als Minister verdichtet hatten. Zumeist lehnte Rathenau ihm angetragene Schutzmaßnahmen ab. Auch Wirth fürchtete im Juni 1922 als "Republikaner" ermordet zu werden (vgl. BArch Koblenz Nl 1342, russ. Teil, Fond 600, Opis 1, Delo 181, Bll. 46-48, 52-54). Die Mörder Rathenaus, Mitglieder des deutsch-völkischen Verschwörerbundes "Organisation Consul", wollten mit diesem und einer Reihe weiterer Attentate die junge Republik von Weimar "sturmreif" schießen und bomben. Das nächste Opfer der "Organisation Consul" sollte schon im Juli desselben Jahres der Journalist Maximilian Harden (1861-1927) werden, der einen Anschlag schwer verletzt überlebte. Die Attentäter zielten darauf ab, einen Bürgerkrieg zu provozieren. Mit dem jüdischen Rathenau als Mordopfer sahen sie zugleich ihre antisemitischen Ziele befriedigt.

Das Attentat rief weltweites Entsetzen hervor. Zugleich fühlten sich die republikanisch Gesinnten, zu denen auch Wirth gehörte, herausgefordert, die Demokratie gegen ihre Feinde zu verteidigen. Die Rede des deutschen Regierungschefs im Deutschen Reichstag folgte dieser Absicht. Während der Reichskanzler des Ermordeten etwa vier Stunden nach der Bluttat im Reichstag gedachte, verzeichnete das Protokoll große Unruhe im Plenum. Wirths Appell an die Einheit der Republikaner, die Einheit Deutschlands, stand die sichtbare Spaltung im Parlament gegenüber. Zurufe von der Linken gegen den deutsch-nationalen Karl Helfferich (1872-1924), Abgeordneter der DNVP, dem als langjährigen Gegner Rathenaus und der "Erfüllungspolitik" politische Verantwortung für den Mord vorgeworfen wurde, zeugten hiervon. Es kam im Reichstag zu Schlägereien zwischen Abgeordneten des republikanischen und des antirepublikanischen Lagers. Allein eine halbe Million Menschen nahmen am 25. Juni 1922 an einer Trauerkundgebung im Berliner Lustgarten teil. Es kam reichsweit zu Streiks und Tumulten, und viele Politiker und Industrielle, darunter Wirth, befürchteten einen Bürgerkrieg.

Wirth zeichnete Rathenau in seiner Rede als friedensbereiten Demokraten. Er gab damit zugleich das über die Zeit der Weimarer Republik hinaus wirkende dominante Erinnerungsmuster an die Person Rathenaus vor, welches mit den zwei Bezeichnungen "Schutzheiliger der Demokratie" oder "erstes Opfer der Nazis" pointiert umrissen werden kann. Wirths Rede zeigt, daß die Republik im Hinblick auf den Rathenau-Mord in Milieus, in "Lager", in "Gedächtniskollektive" (Dan Diner) zerfallen war. Dieses im europäischen Vergleich besonders in Deutschland hervortretende Charakteristikum der innergesellschaftlichen Partikularisierung führte wesentlich mit zum Untergang der Weimarer Republik, bekannten sich doch breite Kreise der Gesellschaft nicht zur pluralistischen Demokratie, nicht zu einem "westlichen Wertekanon", zu dem Deutschland erst ab 1945 finden sollte.

Vielleicht zeigte sich in der Zeit direkt nach dem Rathenau-Mord als eines der letzten Male die Einheit des republikanischen Lagers. Noch am Tag der Rede Wirths verfügte der Reichspräsident mittels des Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung die Einrichtung einer "Verordnung zum Schutze der Republik", die auch die Schaffung eines "Staatsgerichtshofs zum Schutze der Republik" vorsah, der Angriffe auf die Republik ahnden sollte.

Joseph Wirth kam auf das Thema Rathenau immer wieder zurück, nicht nur in seinen Redebeiträgen im Reichstag während der nächsten Tage (vgl. die Beiträge Wirths in den weiteren Sitzungen des Reichstags am 24., 25. und 27. Juni 1922), sondern auch bei Gedenkveranstaltungen oder in Gedenkschriften republikanischer Kreise zum Todestag Walther Rathenaus (Vgl. z.B. Joseph Wirth, Ein Brief, in: Stefan Grossmann, Das Tagebuch. Walther Rathenau-Heft. Berlin 16. Juni 1923, Berlin 1923, S. 850-856; BArch Koblenz Nl 1342 (dt. Teil) A. 119, o.P. – Joseph Wirth, Rede im Rathenau-Haus, 1930) wie auch im vor den Nationalsozialisten gesuchten Exil (vgl. BArch Koblenz Nl 1342 (dt. Teil), A. 38, o.P., Joseph Wirth, Äußerungen, 1938) oder in westdeutschen Debatten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, in denen der nun stärker politisch nach links orientierte Wirth Rathenaus Unterschrift in Rapallo 1922 als traditionsbildend für eine "friedliche Koexistenz" von UdSSR und Bundesrepublik in den Zeiten des Kalten Krieges ansah.

Christian Schölzel