Joseph Wirth, Reichstagsrede anläßlich der Ermordung Walther Rathenaus, 24. Juni 1922

Dr. Wirth, Reichskanzler: Meine Damen und Herren! Die Reichsregierung schließt sich den ehrenden Worten, die der Herr Präsident für den schmählich ermordeten Reichsminister Dr. Rathenau zu sprechen die Güte hatte, von ganzem Herzen an. Ich darf einen bedeutsamen Vorgang in Ihre Erinnerung zurückrufen. Wenige Wochen sind vergangen, da versammelten sich im Palast San Giorgio in Genua die Vertreter aller Nationen zu der Schlußsitzung der Konferenz. Es war ein großer denkwürdiger Augenblick. An unserem Ohr rauschten die Reden der Staatsmänner vieler Staaten vorbei. Da erhob sich unser Freund, Herr Dr. Rathenau. Aus seinem Munde quollen Perlen edler Worte; getragen von größter humanitärer Gesinnung, hat er Worte der Verständigung, die ausgehen von den Tatsachen der wirtschaftlichen Nöte der Welt und der Weltverschuldung, in den Saal hineingesprochen in seiner edlen, vornehmen Ruhe, die die Herzen auch derer, die uns bis dahin vielleicht stark abgeneigt gegenüberstanden, geöffnet hat. Man hat seine Worte im Palazzo San Giorgio wohlverstanden, und ein nie gesehener, rauschender Beifall aller anwesenden Frauen und Männer dankte dem Manne, der über die Grenzpfähle seiner Nation hinaus der Welt den Weg zur wirtschaftlichen Verständigung und damit zum Frieden mit bewegtem Herzen gewiesen hat.

Nun liegt er tot vor uns. Seinen Platz schmückt ein umflortes Rosenbukett. Er fiel nicht nur für sein Volk, er fiel, um die Menschen Versöhnung zu lehren. Aber wehe denen, die dieses große Werk der Versöhnung der Nationen mit diesem Morde störten! Das Werk darf nicht unterbrochen werden. Wir müssen dieses Werk, das wir unter schweren Nöten begonnen haben, fortsetzen. Es ist auch das Werk der Rettung unseres Volkes, es ist das Werk der Rettung von ganz Europa.

Wir sind Herrn Dr. Rathenau näher gestanden; wir nannten ihn unseren Freund. Ich darf in Ihrer Mitte aufrichtig sprechen. Gewiß hat Herr Dr. Rathenau viele Gegner gehabt. Ich weiß nicht, woraus die Gegnerschaft geflossen ist. Aber von dem Augenblick an, wo er öffentlich in den Dienst des deutschen Volkes und in den Dienst der Deutschen Republik getreten ist, hatte er nicht nur Feinde, da hatte er Todfeinde.

(Sehr Wahr! links.)

Und nun, meine Damen und Herren, dieses Werk, das er sich vorgesetzt hat, die Rettung des deutschen Volkes unter der Staatsform der Republik, darf durch diesen Mord und durch diesen Tod nicht unterbrochen werden.

(Bravo links!)

Im Gegenteil, alle wahren Republikaner Deutschlands und alle, die es gut meinen mit ihrem Vaterlande und ihrem Volke, werden aus diesem Tod die größte Kraft schöpfen, um denen einen Damm entgegenzusetzen, die unserem Volke Verwirrung und Tod bereiten wollen.

(Stürmischer Beifall und Händeklatschen im Zentrum, bei den Deutschen Demokraten, der Bayerischen Volkspartei und links sowie auf den Zuschauertribünen.)

Insbesondere geht mein Mahnruf an die Arbeiterschaft ganz Deutschlands. Die Arbeiterschaft hat in bitteren Tagen, wo das Chaos über uns hinwegging, keinem, der der alten Gewalt treu geblieben ist, auch nur ein Haar gekrümmt. Ich bin ihr dankbar dafür, und so soll es auch in Zukunft bleiben.

(Lebhafte Zustimmung links.)

Nennen Sie einen prononcierten Vertreter rechtsgerichteter Auffassung im deutschen Lande, dem auch nur ein Haar gekrümmt worden ist!

(Erneute Zustimmung links.)

Aber von dem Tage an, wo wir unter den Fahnen der Republik aufrichtig diesem neuen Staatswesen dienen, wird mit Millionengeldern ein fürchterliches Gift in unser Volk geleitet.

(Stürmische Zustimmung und Zurufe links.)

Es bedroht von Königsberg bis Konstanz eine Mordhetze unser Vaterland, dem wir unter Aufgebot aller unserer Kräfte dienen. Da schreien sie es hinaus in großen Versammlungen, daß das, was wir tun, ein Verbrechen am Volk wäre; da wird nach dem Staatsgerichtshof geschrieen,

(lebhafte Rufe links: Helfferich!)

und dann wundert man sich, wenn verblendete Buben nachher zur Mordwaffe greifen.

(Erregte Zurufe auf der äußersten Linken.)

Unser toter Freund, den wir kannten und den zu kennen ich mehr als zwei Jahre die Ehre hatte – ich glaube, ich kann meine Kollegen alle zu Zeugen anrufen – hat gegen die, die ihn seiner Rasse wegen schmählich angegriffen haben, die ihn weiter angegriffen haben als Diener der Republik und als Bahnbrecher einer wahren Verständigung der Völker, nie ein scharfes Wort gesprochen.

(Lebhafte Zustimmung bei den Deutschen Demokraten.)

Niemals kam über seine Lippen, weder im Kabinett, noch im Freundeskreise, noch in Gesprächen unter vier Augen, auch nur ein böses Wort gegen diese Feinde.

(Zustimmung.)

Er hat nicht nur verziehen mit den Lippen, er hat auch im Herzen allen denen verziehen, die ihn in den letzten Monaten und Jahren geschmäht hatten. Er war eine kindliche Seele. Noch gestern mittag hat er ihm neuerdings angebotenen Schutz unter allen Umständen abgelehnt.

(Hört! Hört!)

Er traute niemandem eine derartige Tat zu und hat noch in diesen Tagen den Gedanken, daß man ihm nach dem Leben trachten könne, als unmöglich abgetan.

(Zuruf von den Kommunisten: Er kennt aber Helfferich nicht!)

Meine Damen und Herren! Nachdem die Reichsregierung in Dr. Rathenau einen unermüdlich für das Wohl des Vaterlandes besorgten verdienstvollen Staatsmann, einen Freund und das deutsche Volk einen großen Sohn verloren hat, wollen wir aus dieser Tat, aus dieser entsetzlichen Schandtat, die wir beweinen und betrauern, angesichts der ungeheuren, beispiellosen Hetze in einem Teil der Öffentlichkeit in aller Nüchternheit und bei aller Verantwortung doch das eine lernen, geehrte Herren von rechts: So wie es bisher gegangen ist, geht es nicht mehr in Deutschland.

(Stürmischer Beifall und Händeklatschen im Zentrum, bei den Deutschen Demokraten, bei der Bayerischen Volkspartei, bei den Sozialdemokraten, bei den Unabhängigen Sozialdemokraten und bei den Kommunisten. – Händeklatschen auf den Tribünen.)

Mahnend und flehend habe ich im letzten Jahre in Biberach am Grabe eines ebenfalls schmählich Ermordeten gerufen: Sorgt in deutschen Landen dafür, daß die Mordatmosphäre allmählich zurückgeht! Der Mahnruf war vergebens. Arbeiter aller Parteien und insbesondere Sie, Vertreter einer wirklich freiheitlichen bürgerlichen Auffassung, schützt die Republik und unser teures, geliebtes, deutsches Vaterland! An das ganze deutsche Volk, an alle Parteien richte ich erneut den dringenden Appell, dahin zu wirken, daß unser Land vor weiteren Erschütterungen bewahrt bleibt. Die Reichsregierung wird das tun, was ihre Pflicht ist.

(Stürmischer andauernder Beifall im Zentrum, bei den Deutschen Demokraten, bei der Bayerischen Volkspartei, bei den Sozialdemokraten, bei den Unabhängigen Sozialdemokraten und den Kommunisten. – Beifall auf den Tribünen.)

Hier nach: Verhandlungen des Reichstags. Stenographische Berichte. I. Wahlperiode 1920, Bd. 355, 234. Sitzung. Sonnabend, den 24. Juni 1922: Trauerkundgebung für den Reichsminister des Auswärtigen Dr. Rathenau, Berlin 1922, S. 8034-8035.