Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, 14. Juli 1933

Einleitung

Vor dem Hintergrund zunehmend naturwissenschaftlich-technischer Welterklärung einerseits und einer steigenden Degenerationsfurcht durch die sichtbaren Probleme von Industrialisierung, Urbanisierung und Verelendung andererseits erwies sich der Gedanke einer rationalen und kontrollierten Fortpflanzung der Bevölkerung seit dem späten 19. Jahrhundert als hoch attraktiv. Hatte Darwins Neffe Francis Galton bei seiner "Eugenik" genannten Abstammungslehre noch die planmäßige Höherzüchtung des Menschengeschlechts im Blick, konzentrierten sich die Überlegungen in den Industriestaaten schon bald darauf, die Vermehrung unerwünschter Bevölkerungsgruppen zu verhindern. Dazu zählte man neben Trägern von tatsächlichen oder nur vermuteten Erbkrankheiten insbesondere die sogenannten "Schwachsinnigen", deren vermeintlich übergroße Fruchtbarkeit die geburtenschwachen Oberschichten als Bedrohung empfanden. Durch das gehäufte Auftreten unangepaßten Verhaltens in bestimmten Bevölkerungskreisen schienen Familienstudien die Erblichkeit von Kriminalität und sozialer Devianz zu belegen. Soziale Kriterien und die Abweichung von moralischen Normen erhielten so den Status einer biologischen Gefahr.

Das beginnende 20. Jahrhundert sah eugenische Bewegungen in mehr als 30 Ländern dieser Erde, unterschiedlich ausgeformt je nach spezifischen Verhältnissen, aber einig in dem Ziel, mit Hilfe eines biologischen Programms die sozialen und politischen Probleme der Moderne zu lösen. Während Männer wie Madison Grant in den USA vor dem Rassenselbstmord der weißen Angelsachsen durch die Vermehrung der Immigranten warnten und Münchner Rassenhygieniker von einer "Aufnordung" des arischen Menschen träumten, setzten auch englische Sozialisten, die neugegründete Sowjetunion und die skandinavischen Wohlfahrtsstaaten auf die Vorteile des eugenischen Programms. Vertreter fast aller politischen Richtungen betrachteten die eugenische Bevölkerungskontrolle als erfolgversprechenden und humanen Weg zur gesellschaftlichen Modernisierung.

Die sich als Wissenschaft formierende Lehre von der Optimierung der menschlichen Reproduktion setzte sich auch in der Weimarer Republik in immer breiteren Bevölkerungskreisen durch. Nach dem Aderlaß des Weltkrieges standen zunächst Maßnahmen zur Eheberatung und Geburtenförderung im Vordergrund, Vorstöße für ein Sterilisationsgesetz fanden keine Mehrheit. Erst im Zusammenhang mit der Weltwirtschaftskrise und den dadurch überforderten öffentlichen Haushalten verlagerte sich das Interesse. Während die katholische Eugenik durch die 1930 erlassene Papst-Enzyklika "Casti connubii" auf die eugenische Eheberatung beschränkt wurde, plädierte die protestantische Innere Mission im Jahr darauf bei "Träger(n) erblicher Anlagen, die Ursache sozialer Minderwertigkeit und Fürsorgebedürftigkeit sind" für "Sterilisierung aus Nächstenliebe" zur kommenden Generation. In den Beschlüsse der Treysaer Konferenz forderte sie zugleich, an die Stelle "unterschiedsloser Wohlfahrtspflege" eine "differenzierte Fürsorge" zu setzten. Besondere Aufwendungen sollten nur noch jenen zugute kommen, die voraussichtlich ihre volle Leistungsfähigkeit wieder erreichen konnten. Ansonsten hatte sich die Fürsorge auf die "menschenwürdige Versorgung und Bewahrung" der betroffenen Personen zu beschränken (Treysaer Resolution des Central-Ausschusses für die Innere Mission (1931), zit. nach Kaiser/Nowak/Schwartz 1992, S. 106-110). Ähnlich sahen das auch die finanziell überforderten Kommunen. Weil die Reichsregierung die Verschiebung der Wohlfahrtslasten von der staatlichen Arbeitslosenversicherung auf die städtischen Haushalte betrieb, hatten sie die Hauptlast der Wohlfahrtskrise am Ende der Weimarer Republik zu tragen. In Preußen forderte ihre Vertretung im Januar 1932 daher, die Ausgaben "für die Pflege und Förderung der geistig und körperlich Minderwertigen" auf dasjenige Maß zu beschränken, "das von einem völlig verarmten Volk noch getragen werden kann" (zit. nach Vossen 2001, S. 166). Das Sofortprogramm, das dem "Anwachsen der Minderwertigkeit" ein Ende setzen sollte, sah allerdings nur eine vermehrte eugenische Unterweisung der Bevölkerung vor. Auch in einer Parlamentsdebatte erwies sich, daß eine Sterilisation aus eugenischen Gründen noch im Frühjahr 1932 in der Öffentlichkeit nicht mehrheitsfähig war.

Schon im Sommer desselben Jahres allerdings legte der rassenhygienischen Fragen gegenüber aufgeschlossene preußische Landesgesundheitsrat nach einer Expertenanhörung einen Gesetzentwurf zur freiwilligen eugenischen Sterilisation vor. Nach internen Beratungen überwies ihn der preußische Ministerpräsident, der inzwischen Hermann Göring hieß, im Mai 1933 an das Reichsinnenministerium. Dort bildete der Entwurf, um eine große Zahl neuer "Erbkranken"-Gruppen und den entscheidenden Punkt der Zwangssterilisation erweitert, die Grundlage für das am 14. Juli 1933 verabschiedete Gesetz "zur Verhütung erbkranken Nachwuchses". Im Januar 1934 in Kraft getreten, sahen Ergänzungsbestimmungen in den darauf folgenden Jahren die Möglichkeit der Zwangsabtreibung und der Unfruchtbarmachung durch Röntgenstrahlung vor. Dem Zusammenspiel von Gesundheitsämtern und den neu geschaffenen Erbgesundheitsgerichten waren rund 400.000 Menschen ausgeliefert. Etwa 5.500 Frauen und 600 Männer starben an dem Eingriff.

In der Forschung ist umstritten, inwieweit die Zwangssterilisationen und -abtreibungen als Vorläufer der euphemistisch "Euthanasie" genannten Morde an geistig und körperlich behinderten Menschen zu werten sind. Während die ältere Literatur noch einen unmittelbaren Zusammenhang sah, ist die neuere Forschung hier zurückhaltender. Zwar geht auch sie davon aus, daß das eugenische Paradigma der "Volksgesundheit" und die seit der Weimarer Republik geführten Debatten um die Unterhaltskosten für die "geistig und körperlich Minderwertigen" einen kontextuellen Bedingungsrahmen bereitstellten, innerhalb dessen die Krankenmorde erst denkbar wurden. Direkte Kontinuitätslinien lassen sich jedoch kaum nachweisen. Die von Karl Bindung und Alfred E. Hoche 1920 eröffnete Debatte über die "Vernichtung lebensunwerten Lebens" fand innerhalb der eugenischen Bewegung der Weimarer Republik kaum Resonanz. Auch personelle Kontinuitäten waren eher schwach ausgeprägt. Nur wenige "Euthanasie"-Opfer waren zuvor zwangssterilisiert worden, und längst nicht alle Mediziner, die Eugenik und Sterilisierung befürworteten, unterstützten auch die Mordaktionen der "Aktion T 4", die ihren Namen nach dem Sitz der "Euthanasie"-Zentrale in der Berliner Tiergartenstraße 4 erhielt. Von den prominenten Rassenhygienikern war einzig Fritz Lenz an den Planungen eines – aus außen- und kirchenpolitischen Gründen nicht zustande gekommenen – "Euthanasie"-Gesetzes beteiligt, das darauf abzielte, die bis dahin praktizierten Ad-hoc-Vernichtungen in eine professionelle Systematik des Tötens aller unheilbar kranken "Ballastexistenzen" zu überführen. Auch das NS-Regime selbst behandelte die beiden Tatkomplexe unterschiedlich. Der formaljuristisch abgesicherten Sterilisationspraxis stand eine komplexe Verschleierungstaktik um die Anstaltsmorde gegenüber, für die es auf ausdrücklichen Wunsch Hitlers keine juristische Grundlage, sondern nur ein auf den 1. September 1939 rückdatiertes Ermächtigungsschreiben gab.

Schon im August 1939 verpflichtete ein Runderlaß aus dem Reichsministerium des Innern Ärzte und Hebammen dazu, behinderte Neugeborene und Kinder unter drei Jahren den zuständigen Gesundheitsämtern zu melden. Auf diese Weise wurden bis Kriegsende mindestens 5.000 Säuglinge und Kleinkinder in 30 eigens eingerichtete "Kinderfachabteilungen" verschiedener Krankenanstalten verlegt und dort durch überdosierte Medikamentengaben oder Nahrungsmittelentzug umgebracht. Im weiteren Kriegsverlauf fielen diesem Programm auch ältere Kinder und Jugendliche zum Opfer.

Am 9. Oktober 1939 begann die "Erwachsenen-Euthanasie" mit der "planwirtschaftlichen Erfassung" der Patienten aller Heil- und Pflegeanstalten. Das Reichsinnenministerium verlangte von den Direktoren Auskunft über Krankheit, Aufenthaltsdauer und Arbeitsfähigkeit ihrer Schützlinge, ließ sie aber im Unklaren darüber, daß Begutachtungsärzte anhand der ausgefüllten Fragebögen über Leben und Tod der Patienten entschieden. Die als nicht mehr "lebenswürdig" eingestuften Personen wurden mit Bussen abgeholt und nach einem Zwischenaufenthalt in eines der sechs Tötungszentren in Grafeneck auf der Schwäbischen Alb, Brandenburg an der Havel, Bernburg, Hadamar, Hartheim in Österreich und auf dem Sonnenstein bei Pirna transportiert. Dort wurden die Menschen durch Injektionen oder in neuentwickelten Gaswagen getötet, zunehmend auch in einen Raum getrieben, der einer Dusche ähnelte, um sie dann durch die Einleitung von Gas umzubringen.

Das Mißtrauen der Angehörigen, die sich mit Lügen über den plötzlichen Tod ihrer Familienmitglieder nicht zufrieden gaben, das Gerede über die grauen Transportbusse und der Rauch aus den Krematorien machten die "Aktion T 4" bald zu einem offenen Geheimnis. Nach Protesten von Geistlichen – am bekanntesten die Predigt des Münsteraner Bischofs von Galen – stellte man die "Aktion T 4" im Sommer 1941 offiziell ein. Die ausgestreute Flüsterpropaganda gab vor, der Stopp sei auf die persönliche Anordnung Hitlers zurückzuführen, der vorher nichts über die Tötungen gewußt habe. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten über 70.000 Menschen ihr Leben verloren.

Faktisch aber ging das Morden weiter. Während der so genannten "wilden", dezentral organisierten "Euthanasie" zwischen November 1941 und Juni 1943 töteten Ärzte und Pflegepersonal in etwa 30 Heil- und Pflegeanstalten in Deutschland, Österreich und den besetzten Gebieten Osteuropas die ihnen anvertrauten Schützlinge durch überdosierte Medikamentengaben und Nahrungsentzug. Auch Zwangsarbeiter aus Polen und der Sowjetunion, die sich beim Einsatz in der deutschen Kriegswirtschaft psychische Erkrankungen oder Tuberkulose zugezogen hatten, zählten zu ihren Opfern. Gleichzeitig versuchte die Zentrale in Berlin, alle Insassen öffentlicher Einrichtungen zu erfassen und dehnte die Registrierung mit dem Ziel der späteren Vernichtung auf die Bewohner von Arbeitshäusern, Fürsorge- und Altersheimen aus.

Ab Mitte 1943 sorgte der Luftkrieg für die erneute Institutionalisierung der "Euthanasie". Um die Infrastruktur der psychiatrischen Kliniken und Behindertenheime zur Versorgung von Bombenopfern nutzen zu können, verlegte man die Kranken in die Zentren der "wilden Euthanasie", wo man sie mit Injektionen tötete oder systematisch verhungern ließ. Um die Leichen zu beseitigen, wurde noch im November 1944 in der Anstalt Kaufbeuren ein Krematorium errichtet. Auf diese Weise sind nach dem vermeintlichen "Euthanasie-Stopp" auf dem Gebiet des deutschen Reiches noch mindestens 30.000 Kranke ermordet worden.

Die Tötung von Psychiatriepatienten und Behinderten in Deutschland seit dem Sommer 1939 bildete nur den Auftakt zu weiteren Massenmorden. Unmittelbar nach dem Einmarsch in Polen und in der Sowjetunion ermordeten verschiedene Sonderkommandos in Absprache mit der Berliner "Euthanasie"-Zentrale mindestens je 10.000 Kranke, entweder durch Massenerschießungen oder in Gaswagen, die nach dem Vorbild der Vergasungsanlagen in Deutschland konstruiert worden waren (Schmuhl 1987, 363f.). Auf diese Weise wurden in den besetzten Gebieten Osteuropas ganze Anstalten, Krankenhäuser und Altersheime leergemordet, die später zur Aufnahme und Tötung von aus Deutschland verlegten Kranken dienten. Neuere Arbeiten schätzen die Gesamtzahl der "Euthanasie"-Opfer in den besetzten Ländern auf etwa 100.000 Menschen (Romey in Rudnick 1990, 71). Die nach 1941 frei gewordenen Gaskammern der Tötungsanstalten Sonnenstein, Bernburg und Hartheim nutzte man dazu, unter der Tarnbezeichnung "Sonderbehandlung 14f13" – 14f stand für Todesfall im KZ und 13 für Tod durch Vergasung – bis zum Dezember 1944 mindestens 20.000 KZ-Häftlinge umzubringen, die größtenteils von "T4"-Gutachtern als "arbeitsunfähig" oder "gemeinschaftsfremd" eingestuft worden waren. Zahlreiche Regionalstudien geben inzwischen Auskunft über die Morde in verschiedenen Anstalten und die Rolle der NS-"Gesundheits"bürokratie, doch bestehen gerade für die Vorgänge in Osteuropa noch erhebliche Forschungsdefizite.

Die Krankenmorde gaben das Modell für die Vernichtung der europäischen Juden ab und waren auch personell eng mit den ersten Stationen der Shoa verknüpft. Chelmno, das erste Vernichtungslager, wurde vom "Sonderkommando Lange" betrieben, das zuvor polnische Kranke mit Giftgas getötet hatte. 1942 schickte die Behörde in der Tiergartenstraße rund hundert ihrer Mordexperten in die Vernichtungslager Osteuropas, um ihre während der "Euthanasie" gewonnenen Kenntnisse weiterzugeben. Belzec, Sobibor und Treblinka wurden fast ausschließlich durch "T4"-Personal erbaut, eingerichtet und betrieben. Auch die Kommandanten kamen aus der "Aktion T 4" und wurden von ihr bezahlt. Durch personelle Kontinuität und den Transfer der Tötungstechnologie erwies sich die nationalsozialistische "Vernichtung lebensunwerten Lebens" als Vorstufe des Holocaust.

Ute Planert