Otto Braun, Erziehung zur Demokratie. Rundfunkrede des preußischen Ministerpräsidenten, 17. Dezember 1930

Einleitung

Otto Braun (1872-1955), Regierungschef einer Koalition aus SPD, Zentrum und DDP, hielt seine Rundfunkansprache am Ende des Jahres, das einen Wendepunkt in der Geschichte der Weimarer Republik markierte, nämlich den Übergang von der parlamentarischen Regierungsweise zum Präsidialsystem. Am 27. März 1930 war die Große Koalition unter dem Sozialdemokraten Hermann Müller wegen unüberbrückbarer Gegensätze wegen der Sanierung des Reichshaushalts zurückgetreten, die letzte Reichsregierung, die sich im Reichstag auf eine parlamentarische Mehrheit stützte.

Ihr folgte eine Minderheitsregierung bürgerlicher Parteien unter dem Zentrumspolitiker Heinrich Brüning, ohne Beteiligung der SPD, die vom Vertrauen des Reichspräsidenten Paul v. Hindenburg abhing. Mit Kürzungen sowie Steuer- und Beitragserhöhungen in der Sozialversicherung wollte Reichskanzler Brüning den Etat ausgleichen, fand aber im Reichstag dafür keine Mehrheit, und erließ das Haushaltsgesetz aufgrund des Artikels 48 der Reichsverfassung als Notverordnung des Reichspräsidenten. Der Reichstag hob die Notverordnung mit Mehrheit auf, worauf der Reichspräsident auf Brünings Wunsch den Reichstag auflöste und für den 14. September 1930 Neuwahlen ansetzte. Das Wahlergebnis war für die Demokratie eine Katastrophe: Die NSDAP, bisher mit 12 Abgeordneten eine Splitterpartei, zog als zweitstärkste Partei nach der SPD mit 107 Vertretern in den Reichstag ein, außer der KPD erlitten alle Parteien Verluste. Bei der Reichstagseröffnung am 13. Oktober 1930 marschierten die NSDAP-Abgeordneten im Braunhemd, der Parteiuniform, ein, und auf den Geschäftsstraßen Berlins organisierte die SA antisemitische Ausschreitungen, die in ihrer Brutalität auf den "Judenboykott" vom 3. April 1933 und die "Reichspogromnacht" vom 8./9. November 1938 vorauswiesen. Diese Krawalle, dazu Misstrauensanträge gegen die Reichsregierung und Resolutionen zur Einstellung der Reparationszahlungen führten zur Kündigung ausländischer Kredite und zur Verschärfung der wirtschaftlichen Probleme. Die Regierung bereitete eine neue umfangreiche Notverordnung vor, die am 1. Dezember 1930 in Kraft trat. Die Reichstagsfraktion der SPD beendete die Opposition und unterstützte mit ihrer "Tolerierungspolitik" die Regierung Brüning. Für diesen Kurswechsel der SPD hatte sich auch Otto Braun eingesetzt.

Mit welchem Anliegen richtete sich Otto Braun an die Rundfunkhörer? Ihm ging es um die Erziehung des Volkes zur Demokratie und zur Einsicht in die Spielregeln des parlamentarischen Systems. Allerdings seien die Deutschen durch die monarchische Herrschaft über Jahrhunderte unmündig gehalten worden; die kurze Aufbruchszeit der Revolution von 1848/49 mit der Frankfurter Nationalversammlung und den verfassunggebenden Versammlungen in den deutschen Einzelstaaten sei nur die kurze Periode einer parlamentarischen Vorschule gewesen. Ein Zeichen für die politische Unreife, so Otto Braun, sei die Zersplitterung des Parteiensystems. So waren am 14. September 1930 fünfzehn Parteien in den Reichstag gewählt worden, darunter Parteien "nackter, enger privatwirtschaftlicher Interessen" wie die Wirtschaftspartei als Vertretung der kleinen Gewerbetreibenden und des Handwerks, oder das Deutsche Landvolk, die Deutsche Bauernpartei und der Landbund für die unterschiedlichen agrarischen Interessen. Das reine Verhältniswahlrecht, das keine Sperrklausel kannte, förderte die Parteienvielfalt im Parlament und erschwerte die Regierungsbildung. Diese Interessenpolitik, so Braun, sei an die Stelle einer Politik getreten, die dem Staat und dem Volk diene. Dadurch hätten sich die Demokratie und der Parlamentarismus beim Volk diskreditiert, das den Glauben an eine positive Entwicklung verloren habe. Wenn Otto Braun mit dieser Analyse scheinbar den Gegnern der Weimarer Republik recht gab, so war es in Wahrheit seine Überzeugung, dass nicht das demokratische System, sondern die Menschen, die mit ihm nicht richtig umgehen können, schuld an der Krise sind. Die NSDAP-Abgeordneten im Reichstag waren "geschworene Todfeinde" der Demokratie, die, wie es Joseph Goebbels, der Gauleiter von Berlin, nannte, als "IdIs", "Inhaber der Immunität", den Parlamentarismus von innen aushöhlen wollten.

Dem Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung stand Otto Braun mit Misstrauen gegenüber. Dieser Artikel ermächtigte den Reichspräsidenten, durch die Reichsregierung auf dem Verordnungswege Gesetze zu erlassen, wenn der Reichstag hierzu nicht in der Lage war. Dieser Artikel war unter dem Reichspräsidenten Friedrich Ebert in den Jahren 1922 und 1923, in den Jahren der Inflation und der Besetzung des Ruhrgebiets durch Belgien und Frankreich, angewandt worden, und die Regierung Brüning berief sich auf diese Praxis. Otto Braun sah die Gefahr des Missbrauchs, aber in Zeiten des akuten Notstands – und den sah er durch die Stärkung der radikalen Parteien im Reichstag gegeben – konnte man auf den Artikel 48 nicht verzichten.

Was würde passieren, wenn Hitler in Deutschland Diktator würde? Braun brauchte nicht viel Phantasie, um sich die Folgen vorzustellen: die Machtübernahme würde zu einem Abzug ausländischer Kredite, dem Zusammenbruch des Geldsystems und danach der deutschen Wirtschaft führen. Tatsächlich waren amerikanische kurzfristige Anleihen häufig langfristig angelegt worden und konnten nicht zurückgezahlt werden. Dieses Szenario, eine Kreditkrise, hatte sich bereits nach der Reichstagswahl entwickelt. Mit der zweiten Alternative, Hitler, einmal an die Macht gekommen, würde sein Programm aufgeben, täuschte sich Otto Braun, wie die Ereignisse nach der "Machtergreifung" zeigen sollten; diese Fehleinschätzung teilte er aber mit den Verbündeten Hitlers ebenso wie mit dessen Gegnern.

Die eigentliche Ursache der deutschen Not sah Braun in der Weltwirtschaftskrise und dem Egoismus der Nationalwirtschaften, die sich mit Zollmauern voneinander abschlossen, und im Profitstreben der privatwirtschaftlichen Unternehmen. Vor allem empörte er sich über die Vernichtung von Lebensmitteln zur Eindämmung des Preisverfalls. Überhaupt erinnert seine Forderung nach einer Regulierung der Weltwirtschaft an die heutige Kritik an der Globalisierung.

Eine weitere Ursache für die Krise sah Braun in den deutschen Reparationszahlungen ein, die er als "Tributzahlungen" bezeichnete. Mit dieser abwertenden Formulierung zeigte Braun seine Ablehnung der Reparationen, die von allen Parteien geteilt wurde. Die deutsche Reparationsverpflichtung, die aus dem Artikel 231 des Versailler Vertrages abgeleitet wurden, wurde im Laufe der Jahre immer mehr verringert. Die ursprüngliche Gesamtsumme von 232 Mrd. Goldmark aus dem Jahr 1921 war 1924 durch den Dawes-Plan und dem Young-Plan von 1930 reduziert worden; im Juni 1931 waren durch das Moratorium des amerikanischen Präsidenten Herbert Hoover die deutschen Zahlungen unterbrochen worden, und in der Konferenz von Lausanne im Sommer 1932 verpflichtete sich Deutschland zu einer Restzahlung von 1 Mrd. RM, die aber von der nationalsozialistischen Regierung nicht mehr bezahlt wurde.

Die Abrüstung aller Staaten war als Absichtserklärung im Versailler Vertrag enthalten, doch dies erwies sich als Illusion. Deutschland musste als erster Staat abrüsten, ohne dass die anderen Nationen folgten. In der Abrüstungskonferenz vom Frühjahr 1932 erreichte die Regierung Brüning statt der Abrüstung der anderen Mächte die Anerkennung der Gleichberechtigung Deutschlands mit ihnen, also die deutsche Aufrüstung. Hitlers Regierung verließ im Herbst 1933 die Abrüstungskonferenz, dies war der Schritt von der heimlichen zur offenen Aufrüstung.

Die Rundfunkrede Otto Brauns war der Versuch, seine Hörer und Hörerinnen für die demokratische Idee zu gewinnen und ihnen in ihrer und des Staates schwierigen Lage Mut zuzusprechen. In den partikularen Interessenparteien und in der NSDAP sah er die Zerstörer der Volksherrschaft; die KPD als antiparlamentarische Kraft erwähnte er dagegen nicht ausdrücklich. Ob er mit seiner Ansprache seine Absicht erreichte? Wir wissen es nicht.

Tilman Koops