Protokoll und Protokoll-Anlage der Passierscheinvereinbarung zwischen dem Senat von Berlin und der Regierung der DDR, 24. September 1964

Einleitung

Das Protokoll der II. Passierschein-Übereinkunft vom 24. September 1964 ist die zweite von fünf Übereinkünften, die der Senat von Berlin im Zeitraum zwischen Dezember 1963 und Oktober 1966 mit der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik abgeschlossen hatte.

Inhaltlich handelte es sich um eine zeitlich befristete Regelung des innerstädtischen Personenverkehrs, mit der es Bewohnern Westberlins ermöglicht wurde, an den hohen Feiertagen des Jahres (Weihnachten, Neujahr, Ostern, Pfingsten) ihre Verwandten im Ostteil der Stadt zu besuchen.

Die Verhandlungen, die zu den Übereinkünften geführt hatten, waren die ersten Verhandlungen, die zwischen Deutschen aus Ost und West seit der Gründung der beiden deutschen Teilstaaten im Jahre 1949 stattfanden. Diese Überwindung der politischen Sprachlosigkeit zwischen beiden Seiten war ein erster Erfolg der von Willy Brandt entwickelten neuen deutschen Ost- und Deutschlandpolitik. Das nach dem Bau der Berliner Mauer daraus entstehende Konzept einer "Neuen Ostpolitik" sah für den Beginn eine "Politik der kleinen Schritte" vor, die im sich entfaltenden politischen Klima der Entspannung und Koexistenz zwischen den Machtblöcken eine Annäherung an die andere Seite mit dem Ziel der Aufnahme von Verhandlungen ermöglichen sollte.

Da sich die Protagonisten des Konzepts, Willy Brandt und seine engsten Mitarbeiter und politischen Weggefährten Egon Bahr, Heinrich Albertz und Klaus Schütz in Westberlin in der politischen Führungsspitze der Stadt befanden, wurde der Gedanke, das Konzept in Berlin in die Praxis umzusetzen und die hautnahe Betroffenheit nach dem Mauerbau mit der unmittelbaren Not der Berliner Situation zum Motor des Handelns für die Brandt-Gruppe. Dabei wurde deutlich, dass das primäre Ziel die Wiederherstellung der familiären, verwandtschaftlichen und menschlichen Bindungen zwischen den Bewohner in beiden Teilen der Stadt sein musste.

Um die Öffnung oder zumindest die Durchlässigmachung der Mauer zu erreichen, mussten Verhandlungen mit Ostberlin geführt werden. Damit bestätigte der Zwang zum Handeln die Richtigkeit des theoretischen Ansatzes zur "Politik der kleinen Schritte".

Die öffentliche Ankündigung dieser Politik durch die Referate von Brandt und Bahr in Tutzing diente zugleich als Signal an Ostberlin, denn zu den Risiken und Chancen des Konzepts gehörte der Umstand, dass von der deutschen Politik bis dahin noch kein Versuch unternommen worden war, mit Ostberlin einen Dialog zu erproben. Zudem ließ die Hallstein-Doktrin Kontakte zur DDR grundsätzlich nicht zu. Die Öffnung der Mauer wurde auch von der Bundesregierung gefordert, ohne alternativ dafür jedoch eine Lösungs-möglichkeit anzubieten.

Die Kontaktaufnahme mit Ostberlin gestaltete sich schwierig, da keine Verbindungen zur Regierung der DDR existierten. Nach einer Reihe von fehlgeschlagenen Versuchen reagierte die Regierung der DDR im Dezember 1963 mit einem Schreiben des stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Alexander Abusch, an den Regierenden Bürgermeister Brandt, in dem die Einrichtung von Ausgabestellen für Passierscheine in Westberlin angeboten und Gespräche über die Regelung dieser Aktion vorgeschlagen wurden. Die Verhandlungen begannen nach Zustimmung des Senats am 12. Dezember 1963 und führten am 17. Dezember 1963 zur ersten Vereinbarung, die den Westberlinern eintägige Besuche in Ostberlin in der Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr ermöglichten. Diese Möglichkeit wurde von mehr als einer Million Westberlinern trotz langer Wartezeichen vor den Passierscheinstellen und strengen Winterwetters wahrgenommen.

Zu Beginn der Verhandlungen hatte der Verhandlungsführer Ostberlins, Staatssekretär Erich Wendt vom Kultusministerium der DDR, betont, dass es seiner Regierung ausschließlich um eine "Milderung menschlicher Härten" gehe und mit der Passierscheinfrage keine politischen Absichten verbunden seien. So konnte über die in einer Anlage zur Präambel fixierten technisch-organisatorischen Fragen schnell Einigung erzielt werden. Die Passierscheine sollten in den Passierscheinstellen in Westberlin beantragt, in Ostberlin geprüft, genehmigt und dann in Westberlin ausgehändigt werden, so dass der eigentliche Hoheitsakt nicht in Westberlin erfolgte. Außerdem bestand das Ostberliner Personal in den Passierscheinstellen nicht aus Grenzbeamten sondern aus Angestellten der Post der DDR. Die Textformulierung in der Präambel führte jedoch sofort zum Dissens. Ostberlin wünschte einen Vertrag mit dem Land Berlin, der die Unterschrift Willy Brandts tragen sollte. Diesem Vorschlag konnte der Verhandlungsführer des Senats, Regierungsdirektor Horst Korber, keinesfalls zustimmen.

In dieser Forderung Ostberlins offenbarte sich die gesamte Komplexität des deutsch-deutschen Verhältnisses. Berlin war ein Land der Bundesrepublik Deutschland mit durch Auflagen der Alliierten Schutzmächte eingeschränkten Rechten und wurde außenpolitisch – wie alle Bundesländer – durch die Bundesregierung vertreten. Einen Vertrag mit einem souveränen Staat, und als ein solcher wollte die DDR gesehen und anerkannt werden, konnte das Land Berlin ohne das Votum der Bundesregierung nicht abschließen. Eine Zustimmung der Regierung war jedoch ausgeschlossen, da die DDR von der Bundesregierung als Staat nicht anerkannt war.

Es spricht für den politischen Willen und das Verantwortungsbewusstsein der Berliner Politiker, dass man einen Weg fand und gegenüber der anderen Seite auch durchsetzte, mit dem die Absicht Ostberlins, über einen Vertrag mit internationalem Charakter Westberlin als eine unabhängig handelnde politische Einheit – als Freie Stadt – erscheinen zu lassen, ausmanövriert wurde. Die etwas gewundene Formulierung der Unterschriftsformel unter dem Protokoll gibt lediglich einen Hinweis auf die politische Endverantwortlichkeit Willy Brandts als Regierender Bürgermeister, trägt aber die Unterschrift Korbers. An dieser Form der Unterschrift sowie an der Aussage über die unterschiedlichen politischen und rechtlichen Standpunkte und an der so genannten Nichteinigungsklausel hielt der Senat ungeachtet massiver Pressionsversuche, die von der anderen Seite mit Beginn der Verhandlungen zur III. Vereinbarung begonnen wurden, unverändert fest.

Die II. Passierscheinvereinbarung weist nach über acht Verhandlungsmonaten eine Reihe wesentlicher Verbesserungen auf. Die neue Aussage in der Präambel, dass spätestens drei Monate vor Ablauf der Gültigkeitsdauer der I. Vereinbarung Besprechungen über die Verlängerung des Protokolls geführt werden sollen, bedeutete, dass der Senat künftig nicht mehr monatelang aufs Neue verhandeln musste und die Passierscheinbesuche sich bei weiterer Fortführung zu einem kleinen Grenzverkehr entwickeln könnten.

Ein weiterer bedeutender Fortschritt war die Einrichtung der Passierscheinstelle für dringende Familienangelegenheiten. Diese Stelle war eine Dauereinrichtung und kam einem unverzichtbaren Bedürfnis der Bevölkerung entgegen. Die Stelle blieb auch nach dem Ende der Passierscheinvereinbarungen bestehen und arbeitete ohne Unterbrechung bis zum 3. Juni 1972, dem Tag des Inkrafttretens des Viermächte-Abkommens. Weitere Verbesserungen waren die Einrichtung von vier Besuchsterminen im Jahr, die Erhöhung der Zahl der Passierscheinstellen und die gemischte Besetzung der Stellen mit jeweils der Hälfte des Personals aus Ostberlin und aus Westberlin.

Die II. Passierscheinvereinbarung war die erfolgreichste und zum damaligen Zeitpunkt Erfolg versprechendste Vereinbarung, an der nachweisbar wurde, dass Verhandlungen auch mit dem ostdeutschen Regime zu beiderseitigem Nutzen geführt werden konnten, solange auf beiden Seiten der politische Wille bestand, sich an die Regeln fairer und allgemein anerkannter Verhandlungsführung zu halten.

Unabdingbar waren nach den Vorstellungen westlicher Politik dabei folgende Punkte:

1. Vor Verhandlungsbeginn sollten der Verhandlungsgegenstand und das Verhandlungsziel eindeutig gekennzeichnet und eingegrenzt sein.

2. Gegebene Zusagen müssen strikt eingehalten werden und dürfen nicht durch nachgeschobene Gründe annulliert oder außer Kraft gesetzt werden.

3. Wenn für die Verhandlungen Vertraulichkeit vereinbart wurde, darf kein Verhandlungspartner Verhandlungsinterna an die Öffentlichkeit bringen, um etwa die andere Seite unter Druck zu setzen.

Der Erfolg der ersten und vor allem der II. Vereinbarung beruht auch darauf, dass sich beide Seiten an diese Vorgaben gehalten hatten.

In den Verhandlungen zu den nachfolgenden Vereinbarungen begann der neue Verhandlungsführer Ostberlins, Dr. Michael Kohl, durch fortgesetzte und immer gröbere Verstöße gegen die genannten Regeln die Verhandlungen planmäßig abzuwürgen. Obwohl der Senat unter diesen Umständen berechtigt gewesen wäre, die Verhandlungen abzubrechen, zögerte er mit diesem Schritt, um der Berliner Bevölkerung die zwar noch immer bestehenden aber von Dr. Kohl einseitig immer stärker eingeschränkten Besuchsmöglichkeiten vollends zu nehmen. Da der Senat dennoch auf weiteren Verhandlungen bestand, blieb Ostberlin keine andere Möglichkeit als die Verhandlungen selbst endgültig abzubrechen und damit seine wahren Absichten zu offenbaren.

Der Versuch Walter Ulbrichts und der DDR die sich mit der II. Passierscheinvereinbarung anbahnende Entwicklung durch politische Unnachgiebigkeit aufzuhalten, hatte nur wenige Jahre Bestand, denn die Frage der Freizügigkeit der Berliner Bevölkerung blieb auf der politischen Agenda und fand 1971 Eingang in das Viermächte-Abkommen. So gehen die Vereinbarungen zum Reise- und Besucherverkehr, die der Senat als Folgevereinbarungen des Viermächte-Abkommens mit der Regierung der DDR am 20. Dezember 1971 abschloss, auf Regelungen zurück, die man bereits in der II. Passierscheinvereinbarung vom 24. September 1964 verabredet hatte. Diese Regelungen hatten Erfahrungsvorgaben und Standards gesetzt, hinter die die DDR bei den Verhandlungen 1971 nicht mehr zurückgehen konnte. Überdies waren in den Vorgaben, die die Sowjetunion in Teil II C, Anlage III des Viermächte-Abkommens gemacht hatte, Positionen zur Freizügigkeit der Berliner enthalten, die der Senat in den Verhandlungen 1964 noch vergeblich gefordert hatte.

Die Passierscheinvereinbarungen als lokales Berliner Ereignis gelten in der Forschung als Vorläufer bzw. Beginn der Neuen Ostpolitik Willy Brandts. Sie werden in der wissenschaftlichen Literatur durchgehend als kleiner aber wichtiger Anfang (Uschner), kleine Berliner Ostpolitik (Prowe), Modell für die spätere Ostpolitik (Bender) bzw. Probe auf Exempel (Wetzlaugk) bezeichnet. Drei Autoren (Kunze, Alisch, Huhn) haben sich an Hand Ostberliner und Westberliner Quellenmaterials eingehender mit dem Ablauf und den sozialen und politischen Implikationen der Passierscheinbesuche und den in ihrem Vorfeld ablaufenden Verhandlungen befasst. Die Rolle der an diesen Ereignissen unmittelbar beteiligten politischen Kräfte, Berliner Senat, Regierung der DDR, Bundesregierung und die der drei westlichen Schutzmächte wurden eingehend untersucht. Wie stark die Sowjetunion auf den Ablauf der Ereignisse in diesem Zeitraum Einfluss nahm und inwieweit ihre politischen Absichten und Ziele mit denen der Führung der DDR deckungsgleich waren, bedarf wohl noch weiterer quellenmäßiger Erkundung und Aufarbeitung.

Eckart Huhn