Tischreden Helmut Kohls und Erich Honeckers zum Besuch Erich Honeckers in Bonn, 7. September 1987

Einleitung

1987 war ein wichtiges Jahr in der Geschichte der deutsch-deutschen Beziehungen. Vom 7. bis 11. September besuchte der Staatsratsvorsitzende der DDR und SED-Chef Erich Honecker die Bundesrepublik. Dieser offizielle Besuch war der symbolische Höhepunkt der gegenseitigen Anerkennung der beiden deutschen Staaten. Es war auch der Höhepunkt der persönlichen Bemühungen Honeckers um politische Agitation in der Bundesrepublik. Noch im April 1986 hatte Michail Gorbačev Einwände gegen den Besuch gehabt. Laut SED-Politbüromitglied Egon Krenz hatte der neue Kremlchef das SED-Politbüro gefragt, wie er es dem sowjetischen Volk erklären könne, dass "Erich vor mir nach Bonn geht?"

Als Bundeskanzler Helmut Kohl dann im Oktober 1986 in einem Gespräch mit Journalisten des amerikanischen Nachrichtenmagazins "Newsweek" kurz vor einer Reise in die USA Gorbatschows Public Relations-Fähigkeiten mit denen von Joseph Goebbels verglich, beschloss das Politbüro in Moskau, alle politischen Kontakte mit der Bundesrepublik für einige Zeit einzufrieren. Nach dem erneuten Wahlsieg der CDU/CSU-FDP-Koalition am 25. Januar 1987 war allerdings auch dem Kreml klar, dass man wohl mit Kohl als Bundeskanzler weiter vorlieb nehmen musste.

Im Sommer 1987 versuchte die DDR-Führung daher erneut, vom Kreml grünes Licht für den Besuch Honeckers zu bekommen. Sowjetischen Aufforderungen zu größerer Wachsamkeit gegenüber den subversiven Einflüssen der Bundesrepublik entgegnete SED-Politbüromitglied Hermann Axen dialektisch gekonnt mit dem Argument: "Der Besuch werde einer der stärksten Schläge gegen den Revanchismus in der Geschichte sein. Die Gründung der DDR im Jahr 1949 war der erste schwere Schlag, der Schutzwall 1961 der zweite Schlag, der Grundlagenvertrag 1972 und die Aufnahme der DDR in die UNO 1973 der dritte Schlag. Im September 1987 werde dann ein vierter schwerer Schlag erfolgen."

Diesmal gab Moskau grünes Licht. Für Helmut Kohl war dieser Besuch, wie er 2009 sagte, "eine sehr schmerzliche Angelegenheit. Aber es musste sein." Die Einladung hatte bekanntlich sein Vorgänger Helmut Schmidt ausgesprochen, Kohl hatte sie mehrfach erneuert, was ihm zwar schwergefallen war, "aber es war einfach zwingend und richtig, weil wir miteinander leben mussten, wenigstens auf dieser sehr schmalen Ebene der Notwendigkeit zwischen den – wie man damals sagte – beiden deutschen Staaten", wie Kohl später schilderte.

Am Morgen des 7. Septembers 1987, als Honecker am Flughafen Köln-Wahn eintraf, hatte es Kanzleramtsminister Wolfgang Schäuble übernommen, ihn abzuholen. Vorher war Schäuble noch einmal mit Kohl in dessen Büro gewesen. Und da meinte Kohl, das werde wohl einer der schlimmsten Tage seiner ganzen Laufbahn sein. Schäubles Antwort: "Ja, Herr Bundeskanzler, Sie haben völlig Recht. Es geht mir auch so. Schauen Sie, ich habe meinen ältesten Anzug angezogen. Aber ich sage Ihnen, ich bin ganz sicher, was wir machen, ist richtig. Es ist richtig. Deswegen lassen Sie es uns tun in der Überzeugung, dass es sich lohnt."

Schäuble erinnerte sich an die Fahrt vom Flughafen zum Bundeskanzleramt: "Ich habe dann versucht, ein bisschen Smalltalk zu machen und ein bisschen zu erklären. Als wir dann auf der Höhe des Kanzleramtes auf der anderen Rheinseite waren, sah man, wenn man über den Rhein überblickte, den Mercedesstern auf dem Steigenbergerzentrum. Da habe ich gesagt: 'Schauen Sie, da drüben sehen Sie den Mercedesstern. Da ist gleich das Kanzleramt. Jetzt sind wir gleich da. Jetzt geht's noch über die Brücke rüber, dann kommt die Kurve, dann sind wir da.' Dann endete die Unterhaltung. Da wurde Honecker plötzlich ganz starr. Er hat sich offenbar auf seinen Auftritt konzentriert.

Und irgendwo war es dann wahrscheinlich für ihn auch die Erfüllung vieler Träume in seinem politischen Leben in den letzten Jahren gewesen, dieser Moment, der gerade bei der offiziellen Begrüßung im Kanzleramt in Bonn kulminierte. Aber im Leben ist es immer so: wenn solche Momente da sind, sind sie auch gleich vorüber. Das habe ich schon empfunden. Ich habe ihn dann auch in Ruhe gelassen. Ich habe mich dann, als wir aus dem Auto gestiegen waren, schnell verdrückt und habe mich in die Reihe der Kabinettsmitglieder gestellt, und der Bundeskanzler hat ihn begrüßt."

Helmut Kohl schilderte die Situation später so: "Die ganze Sache war mir zutiefst zuwider. Ich kann gar nicht schildern, wie unglücklich ich war, als zur Begrüßung Honeckers die DDR-Hymne vor dem Kanzleramt gespielt wurde. Es war schon ein ungewöhnliches, ein mehr als eigenartiges Gefühl, da zu stehen vor der Truppe, mit rotem Teppich, Abschreiten der Ehrenkompanie, dazu Wachbataillon und Stabsmusikkorps der Bundeswehr, Beflaggung, Hymne der DDR und deutsche Nationalhymne. Das war schon eine große Überwindung, für mich jedenfalls. Man sieht es ja auch auf den Fotos und Fernsehaufnahmen der Begrüßungszeremonie sehr deutlich in meinem Gesicht."

Für jeden sichtbar wurde die Zweistaatlichkeit demonstriert: 2400 Journalisten, 1700 aus dem Ausland, begleiteten Honecker und seine Delegation auf Schritt und Tritt durch Bonn und die Bundesländer. Einen "Trost" hatte Kohl, wie er es formulierte: die Tischreden beim offiziellen Abendempfang würden live im Fernsehen der Bundesrepublik und der DDR ausgestrahlt. Das war seine Bedingung für den Besuch Honeckers gewesen. Die Tischrede, die er dann hielt, gehört nach eigener Aussage zu seinen wichtigsten Reden. Es war eine Bestandsaufnahme der geteilten Nation, gepaart mit einer Perspektive zukünftiger Politik. Die wichtigsten Sätze bleiben unvergessen:

"Die Menschen in Deutschland leiden unter der Trennung. Sie leiden an einer Mauer, die ihnen buchstäblich im Wege steht und die sie abstößt. Wenn wir abbauen, was Menschen trennt, tragen wir dem unüberhörbaren Verlangen der Deutschen Rechnung: Sie wollen zueinander kommen können, weil sie zusammengehören. Daher müssen Hindernisse jeder Art abgebaut werden. Die Menschen in Deutschland erwarten, dass nicht Barrieren aufgetürmt werden. Sie wollen, dass wir – gerade auch in diesen Tagen – neue Brücken bauen. Auch deswegen sollten wir uns noch intensiver darum bemühen, für die Deutschen ein Maximum an Miteinander und Begegnungen, an Reisen und Austausch zu ermöglichen."

Kohl 2009: "Den entscheidenden Punkt dieses Besuches haben viele gar nicht begriffen, dass die DDR in diesem Moment eine Öffnung vollziehen musste und dass die Menschen aus der DDR in großer Zahl dann die Bundesrepublik besuchen konnten. Ich bleibe bei meiner These: das war aus Honeckers Sicht der entscheidende Fehler im Blick auf das System und die Machtverhältnisse, weil diese Machtverhältnisse durch den hohen Kenntnisstand von zusätzlichen Millionen Deutschen in der DDR über die wirklichen Verhältnisse in der Bundesrepublik am Ende ausgehöhlt worden sind. Die Fernsehübertragung unserer Tischreden war unter diesen Gesichtspunkten sicherlich eine der wichtigsten Fernsehsendungen, die es je gab. Wichtig in dem Sinne, dass die Menschen in beiden Teilen Deutschlands zuschauten."

Der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher sah das in der Rückschau so: "Ich habe mich gewundert, dass Honecker diesen Besuch machte. Es war ja klar, wenn Honecker in die Bundesrepublik kommt, werden sich viele in der DDR fragen, warum darf der reisen und ich nicht. Und auch das Feindbild Bundesrepublik, das immer wieder gebraucht wurde, um in der DDR die Leute bei der Stange zu halten, dieses Feindbild war nicht mehr aufrechtzuerhalten. Es gab in Bonn Besprechungen darüber, ob man einen solchen Besuch will oder nicht. Ich habe gesagt: 'Der Gedanke der Einheit wird doch nicht gefördert, in dem Honecker nicht kommt. Sondern, wenn er zu uns kommt, wird er den Gedanken der Einheit unterstützen, egal was er sagt.' Und so war es dann ja auch.

Auch die Art, wie der Besuch ablief, dass er seine Heimat, das Saarland, besucht hat, das alles hat doch sehr für starke Gefühle der Zusammengehörigkeit in der Öffentlichkeit gesorgt, in Sonderheit natürlich in der damaligen DDR. Honecker hat das meiner Ansicht nach nicht richtig eingeschätzt. Genauso wie er das nicht richtig eingeschätzt hat, haben die Kritiker an dem Besuch auf westlicher Seite es auch nicht richtig eingeschätzt, indem sie dachten, das spaltet Deutschland. In Wahrheit hat es natürlich Deutschland emotional vereinigt."

Der damalige SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel erinnert sich an den Besuch. Beim Abendessen saß er neben DDR-Außenminister Oskar Fischer, der ihn immer mit "Genosse" anredete, bis Vogel zu ihm sagte: "Herr Kollege, ich glaube, die Bezeichnung drängt sich nicht auf in meinem Fall." Vogel: "Dann hatte er das auch gelassen. Honecker war damals schon in einem Zustand zunehmenden Realitätsverlusts. Er hat den Besuch als Höhepunkt all seiner politischen Anschauungen empfunden, und das war zwei Jahre vor dem Ende."

Honecker beschäftigte sich in seiner Antwortrede auf Kohl erwartungsgemäß mit Fragen der internationalen FRIEDENssicherung und Abrüstung. Auch die Gespräche unter vier Augen brachten keine Überraschungen. Im gemeinsamen Kommuniqué wurde dann der schon allseits bekannte Satz: "Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg, von deutschem Boden muss FRIEDEN ausgehen" zum xtenmal wiederholt. Das Verhältnis beider Staaten zueinander müsse "ein stabilisierender Faktor für konstruktive West-Ost-Beziehungen bleiben".

Aus Sicht der DDR war das wichtigste, dass der Besuch überhaupt stattfand, wie SED-Politbüromitglied Günter Mittag später meinte. In seinem Bericht für das Politbüro bezeichnete Honecker seinen Besuch als das "wichtigste Ereignis in den Beziehungen zwischen der DDR und der BRD seit Abschluss des Grundlagenvertrages. Er ist von weitreichender Wirkung und historischer Bedeutung."

Mancher von den direkt betroffenen Bürgern der DDR war da ganz anderer Meinung. Wolfgang Thierse, damals parteilos und später Bundestagspräsident, fand den Besuch als solches zwar positiv, aber "dann hat man so ein bisschen grimmig gelacht, als der kleine Honecker neben dem großen dicken Kohl dahermarschierte über den roten Teppich, in all seiner Tapsigkeit. Das hatte etwas so Rührendes. Und zugleich war es ein Bild für dieses innerdeutsche Verhältnis: Da die kleine, popelige, schwächliche, kaum noch gerade stehende DDR, hier die kraftstrotzende Bundesrepublik. Zugleich hatte ich auch gegenüber Kohl so ein eigentümliches grimmiges Lächeln und sagte: 'Jetzt muss er etwas tun, was ihm vielleicht nicht sonderlich gefällt, er muss den Honecker als einen Staatsmann behandeln und feine Reden halten.' Auch das hat mir ein gewisses grimmiges Lächeln entlockt. Dann seine Rede beim Abendempfang. Das fand ich auch in Ordnung, dass er nicht nur liebedienerisch daherschwafelt, sondern dass er auch zur Sache redet. Das fand ich sehr in Ordnung."

Friedrich Schorlemmer, damals Studentenpfarrer in Merseburg, fand Kohls Tischrede "ziemlich schroff. Damals dachte ich: 'Mensch, das ist jetzt vielleicht doch nicht günstig. Nachträglich muss ich sagen: 'Völlig richtig, dass er so geredet hat. Zweitens habe ich den Eindruck gehabt: 'Ihr habt Euch aber was vormachen lassen über die DDR und deren inneren Zustand. Das größte Desinformationsergebnis war die Desinformation der westdeutschen Politiker über den wirtschaftlichen Zustand der DDR. Dass aber Honecker nach Bonn kam, mit allen Ehren empfangen wurde, hatte schon Züge des Lächerlichen. Aber dem Honecker war das ja so unglaublich wichtig."

Joachim Gauck, damals Pfarrer in Rostock und seit 2012 Bundespräsident, empfand damals "deutlichen Widerwillen", den Kanzler jenes Teils Deutschlands, das auf Freiheit und Demokratie setzte, neben dieser "Figur zu sehen, die sich nur halten konnte, weil eine andere Macht ihn als Satrapen duldete, ihn als Gefolgsmann hielt. Ich habe an dem Tag Mitgefühl mit Helmut Kohl gehabt. Ich habe gedacht, ich möchte jetzt kein Politiker sein. Das tut der Mann nicht gerne. Vielleicht dient er seinem Land jetzt, aber ich möchte da nicht stehen. Ich habe die Sachzwänge, die inzwischen entstanden waren, um die Entspannung weiter voranzutreiben, durchaus gesehen. Und ich gebe gerne zu, dass ich, wenn ich ausübender Politiker im Westen gewesen wäre, ganz sicher nicht anders gehandelt hätte. Der politische Verstand schien hier etwas zu gebieten, dem ich auch gefolgt wäre."

Und Günter Schabowski, seit 1984 Mitglied des SED-Politbüros und seit 1986 Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung von Ost-Berlin – berühmt geworden durch seine Pressekonferenz am Abend des 9. November 1989 –, meinte 2008: "Ich denke, wie grotesk und täuschend die Optik solcher Ereignisse sein kann. Denn ich glaube sagen zu können: weder die Bundesregierung und schon gar nicht die DDR-Spitze würden daraus den Schluss gezogen haben, dass das auch ein Stück der Endphase, der Endzeit der DDR gewesen ist. Im Grunde sah es so aus: Bei Honecker spielten natürlich auch emotionale Dinge eine Rolle. Der besucht als Staats- und Parteichef der DDR die Bundesrepublik. Er ist der Erste dieser Größenordnung, der die Bundesrepublik besucht. Er kommt in seine Heimat. Die Bild-Zeitung hat gesprochen: Lafontaine klopft ihm auf die Schulter. Auch Kohl muss ihn als Gesprächspartner akzeptieren, wenn auch bei Kohl bestimmte Einschränkungen laut werden. Es schien ein Triumph zu sein für die DDR im Allgemeinen und für Honecker im Besonderen."

Zwei Jahre später fiel die Mauer, die DDR war am Ende.

Rolf Steininger