Aleksej Radakov, "Die Analphabeten und die Lesekundigen". Plakat, Petrograd 1920

Bilddokument: Aleksej Radakov, "Die Analphabeten und die Lesekundigen". Plakat, Petrograd 1920

I. "Der Analphabet. Der Analphabet ist wie ein Blinder. Er sieht, daß ihn Unglück und Mißerfolg begleiten, aber er weiß nicht, warum dies geschieht. Alles im Leben kehrt sich gegen ihn, und nur das Schlechte gelingt ihm. Jeden fragt er, was er tun soll, er hört auf alle Ratschläge, ob gut oder schlecht; dabei gibt es einen treuen Freund, der ihm auf alles Antwort erteilen kann – das Buch. Dort findet er alles: wie man eine Kuh kauft, wie man den Acker düngt und wie man Kinder erzieht. Man muß nur das richtige Buch auswählen. Wenn der Analphabet in ein Buch schaut, dann weiß er, daß in ihm viel Nützliches geschrieben steht, aber er kann es nicht lesen. Er kauft sich eine Kuh, natürlich eine schlechte, denn er weiß nicht, wie man eine besse-re Wahl treffen kann; er bezahlt sie mit seinem schwerverdienten Geld, aber die Kuh krepiert nach einer Woche. Er weiß nicht, wie man ein Roggenfeld düngt, und die Ernte missrät ihm. Mit bitteren Gefühlen be-trachtet er den kärglichen Ertrag seiner Arbeit, und schwer fällt ihm das Leben auf dieser Erde."

II. "Der Lesekundige. Aber der Lesekundige lebt leicht! Er weiß über alles Bescheid, was auf der Erde ge-schieht. Er fragt niemanden um Rat, er schlägt einfach das richtige Buch auf und sucht sich heraus, was er braucht. Dort, wo der Analphabet doppelt soviel Kraft und Zeit benötigt, weil in seinem Kopf alles wirr durcheinander geht, erreicht der Lesekundige alles mit leichter Mühe, und sein sorgsamer Blick erfreut sich an den Resultaten seiner Arbeit. Er weiß, wie man gutes Vieh kauft, wie viel welches Material kostet und wohin man seine Unterschrift setzt. Er will sich selbst vor dem Feuer bewahren – er bringt einen Blitzablei-ter an seinem Haus an. Er will eine reiche Ernte – und er weiß, wo man welchen Dünger kauft. Vor schlech-ten Ratgebern und allen möglichen Zufällen bewahrt in das Buch. Das Leben fällt ihm leicht, und was der Analphabet fürchtet, wovor er zittert, das bemerkt der Lesekundige nicht einmal. Er freut sich an den Resul-taten seiner Arbeit, und er sieht, daß er seine Arbeit nicht umsonst getan hat."

Hier nach: Piltz, G., Rußland wird rot. Satirische Plakate, 1918-1922, Berlin (Ost) 1977, S. 125f.