"Über die religiösen Vereinigungen". Beschluß des VCIK und des SNK RSFSR , 8. April 1929

Einleitung

Am 8. April 1929 erließ das Zentrale Exekutivkomitee der Sowjets und der Rat der Volkskommissare der RSFSR das Gesetz "Über die religiösen Vereinigungen", das mit einigen im Juli 1975 vorgenommenen Ergänzungen und Veränderungen bis Oktober 1990 das Verhältnis zwischen den religiösen Gemeinschaften und dem Sowjetstaat formal regelte. Dieses neue Gesetz löste das Dekret "Über die Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche" ab, das am 23. Januar 1918 vom Rat der Volkskommissare verabschiedet worden war. Das sogenannte Trennungsdekret und die ihm vorausgegangenen gesetzlichen Bestimmungen der Revolutionszeit zielten insbesondere auf die Zerschlagung der Leitungsstrukturen der Russischen orthodoxen Kirche, deren führende Vertreter von den Bolschewiki als Repräsentanten des autokratischen Staates und folglich als Konterrevolutionäre wahrgenommen wurden. Es richtete sich hingegen nicht gegen die nicht-orthodoxen Glaubensnominationen an der Peripherie des ehemaligen Russischen Reichs, die durch die zarische Regierung benachteiligt worden waren und die das neue Regime für sich gewinnen wollte. Das Dekret richtete sich auch nicht gegen einfache Gläubige, von denen man annahm, dass sie im Zuge des sozialistischen Aufbaus durch naturwissenschaftliche Aufklärung und antireligiöse Propaganda längerfristig selbst von der Religion abließen. Mit dem Trennungsdekret wurde die Russische orthodoxe Kirche den anderen Religionsgemeinschaften gleichgestellt und ihr Status als Staatskirche aufgehoben; die Religion wurde zur Privatssache eines jeden Bürgers erklärt, das kirchliche Schulwesen verstaatlicht, der Kirche ihre zivilstandsrechtliche Befugnis (Registrierung von Geburten, Eheschließungen und Todesfällen) entzogen und die bereits vollzogene Enteignung kirchlichen Besitzes festgeschrieben. Zudem hob das Dekret den Status der Kirche als rechtsfähige Körperschaft auf. Insbesondere durch diesen Passus wurde sie in ihrer Eigenschaft als hierarchisch gegliederte Institution zerschlagen.

Diese Maßnahmen zeitigten mehrere von den bolschewistischen Machthabern unbeabsichtigte Konsequenzen: eine wachsende Vielfalt religiöser Bekenntnisse und eine zunehmende Popularität der Sekten. Die wohl bedeutsamste Folge der bolschewistischen Religionspolitik der 1920er Jahre war jedoch eine zunehmende Demokratisierung der kirchlichen Strukturen, d.h. eine Stärkung und Aktivierung der untersten Ebene in der kirchlichen Hierarchie, der Gemeinden. Denn nur die einzelnen Gemeinden hatten seit dem Trennungsdekret das Recht, mit den entsprechenden örtlichen Sowjets Verträge über die Nutzung von verstaatlichten Gotteshäusern abzuschließen. Die Geistlichen wurden nicht mehr an die Gemeinden delegiert, sondern von diesen selbst bestimmt. Die Gemeinden nahmen so nicht nur zunehmend Einfluß auf die Modi der Religionsausübung, sondern entfalteten insbesondere in ländlichen Gebieten auch politische Aktivitäten.

Das 1929 verabschiedete Gesetz "Über die religiösen Vereinigungen" war eine Reaktion auf diese veränderte, politisch nicht erwünschte Situation. Es verschob zum einen den Fokus von der Kirchenhierarchie und dem Klerus auf die Gemeinden und ihre Mitglieder und beschnitt deren Rechte in wesentlichem Maße. Zum anderen zielte es im Gegensatz zum Trennungsdekret von 1918 auf alle Glaubensrichtungen in der Sowjetunion. Es verschärfte die zwischen 1918 und 1929 herausgegebenen gesetzlichen Bestimmungen über die Verfahren bei der Durchführung des Trennungsdekrets und regelte insbesondere den Status sowie die Organisationsformen religiöser Vereinigungen bzw. Gruppen, deren Nutzungsrechte an Gebetshäusern sowie die Bedingungen für die Religionsausübung.

Die entscheidendste Veränderung im Vergleich zum Trennungsdekret von 1918 und allen anderen gesetzlichen Bestimmungen vor 1929 war die Registrierungspflicht der religiösen Vereinigungen (Gemeinden) und ihrer einzelnen Mitglieder bei dem jeweiligen örtlichen Sowjet oder Exekutivkomitee (Art. 4). Die örtlichen Behörden hatten das Recht, die Registrierung zu verweigern und einzelne Mitglieder einer religiösen Vereinigung oder Gruppe auszuschließen (Art. 14). Das Gesetz legte zudem fest, dass die Daten der registrierten Vereinigungen und Gruppen an den NKVD weitergegeben werden (Art. 63). Nur eine Gruppe von mindestens zwanzig volljährigen Personen war berechtigt, sich als religiöse Vereinigung registrieren zu lassen, kleinere Gruppen, die ebenfalls der Registrierungspflicht unterlagen, firmierten unter der Bezeichnung "Gruppe Gläubiger" (Art. 2, t. 1, Art. 5-6). Diese Unterscheidung war eine wesentliche, denn nur das zwanziger Komitee einer religiösen Vereinigung, die sogenannte dvadcatka, war dazu befugt, mit dem örtlichen Sowjet bzw. Exekutivkomitee Verträge über die Nutzung von Gebetsgebäuden abzuschließen (Art. 28). Das Gesetz verpflichtete die religiösen Vereinigungen zur Instandhaltung der von ihnen genutzten Gebetshäuser. Da diese nicht berechtigt waren, als rechtsfähige Körperschaft aufzutreten (Art. 3, t. 3), konnten Verträge über die Instandhaltung des jeweiligen Gebetshauses nur durch einzelne Gemeindemitglieder abgeschlossen werden. Diese Regelung implizierte die steuerliche Diskriminierung dieser Gemeindemitglieder, da sie hierdurch den scharfen Steuerregelungen für Privatunternehmer unterlagen. Zudem wurden diejenigen Gemeindemitglieder, die den Nutzungsvertrag unterschrieben hatten, verpflichtet, für das jeweilige Gebetshaus eine Brandschutzversicherung an den sowjetischen Staat abzuführen (Art. 33).

Das Gemeindeleben wurde durch das Gesetz auf die Gottesdienste bzw. Religionsausübung im Innenraum der Gebetshäuser beschränkt; karitative Tätigkeiten und die Distribution religiöser Literatur wurden ebenso untersagt wie jegliche Form des Religionsunterrichts (Art. 18). Allgemeine Versammlungen der religiösen Vereinigung zu Zwecken außerhalb der unmittelbaren Religionsausübung unterlagen der Genehmigungspflicht durch die örtlichen Behörden (Art. 12).

Ein wesentlicher Teil des Gesetzestextes befasst sich mit den Bedingungen für die Schließung von Gemeindekirchen und anderen Gebetshäusern bzw. mit der Auflösung des Nutzungsvertrages seitens der örtlichen Behörden gegenüber den Gemeinden (Art. 33-44, 51-53). Die Gründe, die die Behörden zur Schließung von Gebetshäusern und der damit faktisch verbundenen Auflösung der Gemeinde geltend machen konnten, waren vielfältig. Sie reichten u.a. von der Nichteinhaltung der durch das Gesetz festgelegten finanziellen und anderen vertraglichen Verpflichtungen durch die jeweilige religiöse Vereinigung über die festgestellte Baufälligkeit des Gebäudes, den begründeten Eigenbedarf des Staates, das Ausscheiden eines Gemeindemitglieds aus der dvadcatka, der Überziehung von Fristen bis hin zur Strafverfolgung eines Gemeindemitgliedes oder religiösen Funktionsträgers durch die Behörden.

Im Gesetz vom 8. April 1929 manifestiert sich die Neudefinition der bolschewistischen Religionspolitik, deren Ziel im Gegensatz zum Trennungsdekret von 1918 darin bestand, das religiöse Leben aller Glaubensrichtungen an der Basis auszurotten, d.h. die Gemeinden als Zentren aktiver Gläubiger und potentieller Opposition gegen die Kollektivierung der Landwirtschaft zu zerstören. Im Rahmen dieser Zielsetzung lassen sich im Gesetz drei Teilstrategien ausmachen: 1. die Kontrolle der Gemeinden und ihrer einzelnen Mitglieder, 2. die finanzielle Abschöpfung der Gläubigen sowie des Inventars der Gebetshäuser und 3. die Verdrängung religiösen Lebens und religiöser Artefakte aus dem öffentlichen Raum. Letzteres Anliegen wird besonders in der Verfassungsänderung sichtbar: Am 22. Mai 1929 änderte der 14. Allrussische Kongress der Sowjets den Artikel 14. Anstelle der im Trennungsdekret von 1918 festgeschriebenen "Freiheit religiöser und antireligiöser Propaganda" wurde nun lediglich die "Freiheit des religiösen Bekenntnisses und antireligiöser Propaganda" gestattet.

Die religionspolitische Umorientierung der bolschewistischen Partei ist nur vor dem Hintergrund der bolschewistischen Landwirtschaftspolitik und den damit zusammenhängenden innerparteilichen Diskussionen zu verstehen. Die Attacken gegen die gläubige Bevölkerung und religiöse Funktionsträger verschärften sich in Reaktion auf die seit 1927 zunehmenden Probleme bei der Getreidebeschaffung, die 1928/29 in der sogenannten Getreidekrise gipfelten. Die Durchsetzung der Getreidebeschaffungspläne durch die staatlichen Organe hatte immer wieder zu erheblichen Widerständen in der bäuerlichen Bevölkerung geführt, die ihren Protest häufig mit religiösen Symbolen artikulierte. Als Ausgangspunkt und Organisationsbasis dieses Widerstands wurden die religiösen Gemeinden ausgemacht. Eine härtere Gangart gegenüber diesen forderten seit 1927 insbesondere Vertreter des NKVD, des Komsomol und des Verbandes der Gottlosen. 1927 wurde vom NKVD der Vorschlag unterbreitet, eine Instruktion zu verabschieden, die eine einheitliche verschärfte Kontrolle der religiösen Gemeinschaften gewährleisten sollte. Seit 1927 wurde ein Gesetzesprojekt diskutiert, das das Trennungsdekret und alle weiteren gesetzlichen Bestimmungen und Instruktionen hinsichtlich der Religion ablösen sollte. Diese Diskussionen wurden insbesondere durch Vertreter der Antireligiösen Kommission beim CK, des NKVD und des NKJust geführt. Ein endgültige Entscheidung kam jedoch wegen der innerparteilichen Machtkämpfe zwischen der Stalin-Fraktion und der sogenannten Rechten Opposition und wohl auch wegen der zunächst zögerlichen Haltung der Parteiführung noch nicht zustande. Im Oktober 1928 präsentierte Emel’jan Jaroslavskij, der Vorsitzende der Antireligiösen Kommission beim CK, vor dem Orgbüro einen Rechenschaftsbericht, in dem er ein härteres Vorgehen gegen die religiösen Vereinigungen forderte, da diese unter dem Deckmantel der Religion die Politik der Partei auf dem Lande sabotierten. Jaroslavskijs Einschätzung lieferte die Vorlage für die Resolution des Politbüros vom 24. Januar 1929, in der eine Intensivierung antireligiöser Maßnahmen dekretiert wurde. Diese Entscheidung des Politbüros zeigt deutlich, dass die führenden Parteifunktionäre und insbesondere die Mitglieder der Stalin-Fraktion die religiösen Gemeinschaften nicht mehr überwiegend als rückständige Überbleibsel nichtsozialistischer Produktionsweisen wahrnahmen, sondern als Zentren organisierter Konterrevolutionäre, die die örtlichen Sowjets unterwanderten und die bolschewistische Landwirtschaftspolitik, insbesondere die Getreiderequirierung sabotierten. Die Resolution des Politbüros lieferte die Leitlinie für die Vorgehensweise aller Parteioganisationen und staatlichen Behörden in den einzelnen Republiken der Sowjetunion sowie für die Ausformulierung des Gesetzes vom 8. April 1929. Zeitgleich mit den Diskussionen über die Religionspolitik wurde die von den Stalin-Anhängern als Rechte Opposition bezeichnete Gruppe um Nikolaj Bucharin ausgeschaltet, die sich für eine Weiterführung der NEP eingesetzt hatte.

Das Gesetz vom 8. April 1929 markiert zwar einen wichtigen programmatischen Richtungswechsel in der bolschewistischen Religionspolitik; jedoch spielte Gesetzlichkeit in der Herrschaftspraxis des stalinistischen Regimes eine untergeordnete Rolle. Das Gesetz blieb in seinen wesentlichen Bestandteilen bis 1990 in Kraft, die Intensität der Repressionen schwankte aber erheblich. So erreichte die antireligiöse Offensive nicht unmittelbar infolge des Gesetzes ihren Höhepunkt, sondern erst im Januar 1930 parallel zu den Exzessen während der "Entkulakisierungskampagne". Gesetze konnten auf Anweisung der stalinschen Führungsgruppe beliebig geändert oder neue Gesetze erlassen werden. Neben der schon genannten Verfassungsänderung erließ die Kommission für Kultfragen beim VCIK, die Nachfolgeorganisation der 1929 aufgelösten Antireligiösen Kommission beim CK, am 6. Januar 1930 eine Verordnung, die Geistliche als Kulaken definierte, ihnen alle Bürgerrechte sowie das existentielle Recht entzog, für ihr Auskommen Land zu bearbeiten. Geheime Instruktionen konnten in der Praxis der Repressionen gültige Gesetze obsolet machen. Für die betroffenen Gläubigen war es unter diesen Bedingungen sehr schwierig, ihre ohnehin geringen durch das Gesetz festgeschriebenen Rechte einzuklagen. Eine weitere Möglichkeit, die von örtlichen Behörden und Parteiorganisationen genutzt wurde, um die "revolutionäre Gesetzlichkeit" außer Kraft zu setzen, war die häufig von der Parteiführung ermunterte oder stillschweigend sanktionierte Inszenierung von Forderungen seitens der arbeitenden Bevölkerung und radikaler Gruppen, Gebetshäuser zu schließen oder die Kirchenglocken abzunehmen, einzuschmelzen und für die Industrialisierung zur Verfügung zu stellen. Signale wie z.B. die 1929 losgetretene Kampagne zur Abnahme und Einschmelzung der Kirchenglocken, die die "revolutionäre Initiative der Massen" zu entfesseln beabsichtigten, wechselten mit solchen ab, die die Einhaltung der "revolutionären Gesetzlichkeit" einforderten. Das Regime machte sich so soziale Spannungen zu Nutzen und beharrte vor allem dann auf die Einhaltung der Gesetze, wenn es aufgrund von Massenprotesten in Gefahr geriet, die Kontrolle zu verlieren.

Zwischen 1930 und 1934 wurden 30 Prozent aller bis dahin noch erhaltenen orthodoxen Kirchen zerstört und nahezu alle Klöster aufgelöst. Viele religiöse Funktionsträger und aktive Gemeindemitglieder, insbesondere die Mitglieder der dvadcatki, wurden unmittelbar Opfer der Strafverfolgung aufgrund ihrer religiösen Aktivitäten oder mittelbar Opfer der "Entkulakisierung". Nach einer Berechnung der Rehabilitierungskommission des Moskauer Patriarchats, die sich allerdings nur auf die orthodoxen Christen beschränkt, sind zwischen 1918 und 1941 350.000 Menschen aufgrund ihres Glaubens verfolgt worden, darunter 140.000 Geistliche. Den Repressionen waren (infolge der "Kulturrevolution" 1928/9) zwischen 1928 und 1938 gleichermaßen auch alle anderen Konfessionen ausgesetzt. Die Zerschlagung der religiösen Gemeinschaften und ihrer Infrastruktur führte jedoch nicht zu dem von den Bolschewiki gewünschten Ziel. In der 1937 durchgeführten Volkszählung, deren Ergebnisse geheim gehalten wurden, bekannten sich trotz langjähriger Einschüchterung 57 Prozent der erwachsenen Bevölkerung der Sowjetunion dazu, religiös zu sein.

Für die durch das Gesetz vom 8. April 1929 markierte religionspolitische Umorientierung der Bolschewiki sind in der Forschung mehrere Gründe angeführt worden. Freeze und Young sehen den Richtungswechsel als Reaktion des Regimes auf die unerwarteten und unerwünschten Konsequenzen seiner relativ liberalen Politik der 1920er Jahre: die Aktivierung des politischen Engagements religiöser Gemeinschaften und deren zunehmende Dominanz im öffentlichen Leben ländlicher Gebiete. Luukkanen verortet die Radikalisierung der Religionspolitik im Kontext des innerparteilichen Machtkampfs zwischen der Stalin-Fraktion und der sogenannten Rechten Opposition. Die mit der Religionspolitik befassten Bolschewiki seien in zwei Fraktionen, die "Interventionisten" und die aufklärerische Methoden favorisierenden "Kulturalisten", gespalten gewesen. Mit dem Sieg der Stalin-Fraktion hätten sich die "Interventionisten" durchsetzen können. Einige Forscher betonen das institutionsbedingte Eigeninteresse einiger Organisationen oder Behörden wie z.B. des NKVD an einer Verschärfung des Kampfs gegen die Religion. Baberowski und andere Historiker, die sich mit der bolschewistischen Herrschaftspraxis an der Peripherie der Sowjetunion befassen, deuten die antireligiöse Offensive der späten 1920er Jahre als wesentlichen Bestandteil einer gegen die Volkskulturen gerichteten imperialen Unterwerfungsstrategie. Zudem wird die religionspolitische Umorientierung des Regimes im Rahmen der allgemeinen Stalinismusdebatte diskutiert. Hierbei steht die Frage im Zentrum, ob die Radikalisierung im Kampf gegen religiöse Lebensformen durch lokale Initiativen "von unten" angestoßen oder von Stalin und seiner Entourage "von oben" initiiert wurde. Inzwischen sind sich die meisten Historiker jedoch einig, dass es zwar vielerorts lokale Initiativen und Übergriffe gab, dass aber die stalinsche Parteiführung jederzeit in der Lage war, diese entweder zu entfesseln oder einzudämmen.

Sandra Dahlke