Beschluß des Plenums des CK VKP(b) "Über die Moskauer städtische Wirtschaft und die Entwicklung der städtischen Wirtschaft in der UdSSR", 15. Juni 1931

Einleitung

Der Beschluß des Juniplenums ist nicht zu verstehen ohne die durch den ersten Fünfjahresplan und die Kollektivierung der Landwirtschaft ausgelösten ökonomischen und sozialen Verwerfungen. Schon während der zwanziger Jahre hatten Moskau und andere Großstädte eine hohe Zuwanderung zu verzeichnen. Als das Regime 1928/29 damit begann, die sozioökonomischen Verhältnisse mit Gewalt umzukrempeln, verstärkte sich die Land-Stadt-Migration, weil nun infolge der Kollektivierungskatastrophe Millionen ehemaliger Bauern in die Städte strömten. Zwischen 1930 und 1933 erhöhte sich die Bevölkerung Moskaus um 1,2 Millionen. Schon während der zwanziger Jahre hatte der Wohnungsbau nicht mit der Zuwanderung Schritt halten können. Man behalf sich seit der Revolution mit der dichteren Belegung vormals bürgerlicher Wohnungen. Das Ergebnis war die berüchtigte "Kommunalka", die Gemeinschaftswohnung, in der auf engstem Raum mehrere Familien wohnten. Die durchschnittliche Wohnfläche pro Person sank in Moskau zwischen 1912 und 1930 von 7,4 auf 5,5 Quadratmeter.

Durch die Errichtung von provisorischen Unterkünften und Barackensiedlungen wuchs Moskau auf eine jeder sozialistischen Musterplanung spottende Weise über die alte Stadtgrenze hinaus – ohne Gesamtkonzept und ohne eine entsprechende Versorgung mit Infrastruktur. In den Baracken- und Hüttenstädten waren städtische und staatliche Macht kaum präsent, es blühten Kriminalität und Rowdytum. Diese Randsiedlungen waren daher alles andere als geeignet, die Leute im sozialistischen Sinne umzuformen und ihnen die städtische Zivilisation beizubringen, wie es offiziell gefordert wurde. Die ehemaligen Bauern waren weitgehend auf sich allein gestellt und organisierten sich ihr Leben selbst. Auf diese Weise bildeten sich praktisch Dörfer am Rande von Moskau heraus, teilweise mit sichtbar bäuerlichem Charakter, in denen bäuerliche Lebensformen, Werte und Sozialverbünde weiterlebten.

Zu der Wohnungsnot kam ein Infrastruktur- und Verkehrsproblem. In den zwanziger Jahren konnte die Infrastruktur Moskaus immer weniger mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten. Die Kopfbahnhöfe, die man im 19. Jahrhundert vor den Toren der Stadt errichtet hatte, erzeugten zusätzlich ein Verkehrsproblem, denn sowohl Transitreisende als auch die aus den Vororten in die Stadt pendelnden Arbeiter mußten auf die Straßenbahn umsteigen und durch das chronisch verstopfte Zentrum fahren. 1923 griff daher die Stadtverwaltung die Idee einer Untergrundbahn oder Stadtschnellbahn, deren Verwirklichung vor dem Ersten Weltkrieg unmittelbar bevorgestanden hatten, wieder auf, konnte das Vorhaben aber aus Geldmangel und ohne Rückendeckung der Parteiführung nur halbherzig verfolgen.

1930/31 hatten sich die Probleme dermaßen zugespitzt, daß die politische Führung sie nicht länger vor sich herschieben konnte. Als erstes wurden in administrativ-politischer Hinsicht die Weichen neu gestellt: In den zwanziger Jahren hatte die Stadt Moskau keinen eigenen Verwaltungskörper gebildet, sondern war unmittelbar durch die Gebietsverwaltung und das Gebietsparteikomitee regiert worden. Man mußte aber erkennen, daß das für eine Metropole mit (1931) 2,78 Millionen Einwohnern keine geeignete Lösung war. Der im April 1930 neu eingesetzte Erste Sekretär und damit Chef des Gebietsparteikomitees Lazar’ M. Kaganovič, ein enger Mitarbeiter Stalins, initiierte eine Verwaltungsreform: Die Stadt Moskau wurde im Dezember 1930 neu rayoniert, und wenig später gab man der Stadt eine eigene Verwaltung und ein eigenes Parteikomitee. Auf administrativer Ebene wurde ein Stadtexekutivkomitee eingerichtet, mit dem Präsidium des Mossovet als engerem Führungsorgan. Vorsitzender des Mossovet wurde Nikolaj A. Bulganin.

Zu diesem Zeitpunkt gab es noch kein verbindliches Entwicklungskonzept für die Stadt Moskau, ja nicht einmal einen gültigen Bebauungsplan. Stadtplaner und Architekten hatten sich zwar im Laufe der zwanziger Jahre Gedanken über die künftige Stadtentwicklung gemacht und allerlei Ideen publiziert, die zuständigen Stellen hatten sich aber für keine der zahlreichen Varianten entschieden und den Planungen wie der realen Entwicklung der Stadt ihren Lauf gelassen. Einige Architekten präsentierten revolutionäre Ideen für die Entwicklung der sowjetischen Städte. "Urbanisten" und "Desurbanisten" debattierten darüber, was das Wesen der sozialistischen Stadt ausmache: Die einen sahen das Heil in einer größtmöglichen Zentralisierung, die anderen traten für die Zerschlagung Moskaus in kleinere dezentrale und infrastrukturell autarke Einheiten ein. Manche Architekten dachten an eine Modifizierung der bestehenden Stadt, andere beschrieben ihre Vision einer völlig neuen Stadt, die an der Stelle des alten Moskau errichtet werden sollte. Hinzu kamen Visionen von der Neuorganisation des Alltags auf sozialistischer Grundlage, bis hin zu experimentellen Kommunehäusern und Wohnkombinaten, in denen die bürgerliche Familie überwunden werden sollte.

Genau ein Jahr vor der Resolution über die städtische Wirtschaft, am 16.5.1930, verwarf das Zentralkomitee in seinem Beschluß "über die Arbeit zur Umgestaltung des Alltags" diese radikalen Konzepte. In der Begründung hieß es, innerhalb der Bewegung für eine sozialistische Lebensweise gebe es phantastische Übertreibungen. Einzelne Genossen glaubten, man könne mit einem großen Sprung direkt aus der Rückständigkeit in die sozialistische Lebensweise gelangen. Sie übersähen, daß man erst alle Mittel auf die Industrialisierung konzentrieren müsse, um die materielle Basis zu schaffen. Die Projekte zur radikalen Umplanung der bestehenden Städte und zum Bau neuer Städte brandmarkte das Zentralkomitee als "utopisch" und "schädlich".

Im Dezember 1930 beschloß das Moskauer Parteikomitee, sich in den nächsten Monaten schwerpunktmäßig der Kommunalwirtschaft zuzuwenden. Eine Kommission unter Kaganovič und Bulganin erstellte einen um¬fangreichen Maßnahmenkatalog, der am 3.5.1931 von den Parteiführungen des Gebietes und der Stadt Moskau bestätigt wurde. Das Politbüro, das Kaganovič mit dem Entwurf befaßte, billigte ihn am 10.6.1931. Das Juniplenum des Zentralkomitees selbst tagte vom 11.-15.6.1931. Kaganovič hielt eine dreistündige Rede und legte den Entwurf für eine Resolu¬tion vor, die einstimmig angenommen wurde. Es handelte sich bei der Resolution "Über die Moskauer städtischen Wirtschaft und die Entwicklung der städtischen Wirtschaft in der UdSSR" um eine auf grundsätzliche Richtlinien reduzierte Version des Maßnahmenkatalogs zur Verbesserung der Moskauer Kommunalwirtschaft. In seiner Rede schilderte Kaganovič die Problematik mit drastischen Beispielen und übte scharfe Kritik an Versäumnissen und seiner Ansicht nach falschen Konzepten. Die Rede zielte nicht nur auf die unmittelbaren Zuhörer im Zentralkomitee, sondern war als Signal mit Breiten- und Außenwirkung gedacht. Sie wurde zeitnah in mehreren Sprachen als Broschüre publiziert.

Das Zustandekommen der Resolution des Zentralkomitees geht im Kern auf die Initiative Kaganovičs zurück. Er hatte innerhalb weniger Monate zwischen Dezember 1930 und Juni 1931 die Ausarbeitung eines Aktionsprogramms vorangetrieben, um die akut gewordenen Probleme zu lösen und Moskau zu einer sozialistischen Musterstadt zu machen. Neben seiner Funktion als lokaler Parteichef gleichzeitig auch mächtiges Mitglied im Zentralkomitee und im Politbüro der Partei benutzte er seine Mehrfachfunktionen geschickt und zielstrebig, um jahrelang verschleppte kommunale Interessen, die bis dahin am Geldmangel und fehlendem Nachdruck gescheitert waren, auf die höchste politische Ebene zu tragen. Eine Resolution des Zentralkomitees verlieh den darin formulierten Vorhaben hohe Priorität, und die finanziell überforderte Stadt Moskau konnte nun auch auf die Zuweisung zusätzlicher Mittel aus dem Unionshaushalt hoffen. Gleichzeitig wies die Resolution des Zentralkomitees aber weit über die genuin Moskauer Problematik hinaus den Weg, wie die Entwicklung der sowjetischen Städte in naher und mittlere Zukunft verlaufen solle.

Inhalt

Die Resolution gliedert sich in drei Abschnitte: I. "Erfolge des sozialistischen Aufbaus und die städtische Wirtschaft", II. "Die Moskauer städtische Wirtschaft", III. "Die Entwicklung der städtischen Wirtschaft in der UdSSR".

I. "Erfolge des sozialistischen Aufbaus und die städtische Wirtschaft": Das Zentralkomitee stellt eingangs fest, daß die Kommunalwirtschaft seit der Oktoberrevolution von einem Mittel zur Ausbeutung der Arbeiter in eine Dienstleistungsorganisation verwandelt worden sei. Nach dem Bürgerkrieg habe aber zunächst die Wiederherstellung der Industrie und Landwirtschaft Vorrang gehabt. Erst in den letzten drei Jahren habe sich die Partei ernsthaft um die Städte kümmern können. Nun müsse schnellstmöglich die Rückständigkeit, die man aus der vorrevolutionären Zeit geerbt habe, überwunden werden.

II. "Die Moskauer Städtische Wirtschaft": Nach der Aufzählung von gewissen Erfolgen bei der Schaffung von Wohnraum und Investitionen in die Infrastruktur spricht die Resolution mit klaren Aussagen die Mängel und Probleme an: Die Kommunalwirtschaft habe mit dem Wachstum von Bevölkerung und Produktion nicht Schritt gehalten und könne die Bedürfnisse der Bevölkerung nicht erfüllen. Konkret genannt werden die Wohnungsnot, die Verkehrsmisere, der schlechte Zustand der Straßen und Versorgungsleitungen und die inakzeptablen hygienischen Verhältnisse.

Das Zentralkomitee billigt daher den von den Moskauer Stellen formulierten Maßnahmenkatalog und fordert die Moskauer Parteiorganisation auf, diese Maßnahmen energisch zu verwirklichen und sich dabei auf folgende Punkte zu konzentrieren: 1. Wohnbau: Schaffung von neuem Wohnraum für mindestens 500.000 Menschen, Einrichtung von Wäschereien, Kindergärten, Spielplätzen und Kinderkrippen, Geschäften in den Außenbezirken; 2. Versorgung mit Kantinenessen und Brot: Errichtung neuer Kantinen und Imbißstuben und dazugehöriger Großküchen. Errichtung von vier neuen Brotfabriken; 3. Energiewirtschaft: Errichtung von Kraftwerken, Ausbau der Fernwärme und Bereitstellung von genügend Heizmaterial für den Winter; 4. Städtischer Verkehr: Bau einer Untergrundbahn und einer elektrifizierten Stadtbahn zur Anbindung dreier Eisenbahnlinien an das Stadtzentrum, weiterer Ausbau des Straßenbahnnetzes und des Autobusverkehrs; 5. Straßenbau und unterirdische Arbeiten: Instandsetzung der unterirdischen Versorgungsleitungen und der Kanalisation, Befestigung der Hauptstraßen; 6. Wasserversorgung: Bau eines Kanals zur Verbindung der Moskva mit der oberen Volga, um die Wasserversorgung der Stadt sicherzustellen und die Anbindung an den Schiffsverkehr zu verbessern; 7. Hygienischer Zustand der Stadt: Ausbau der Kanalisation, Mechanisierung der Straßenreinigung und der Müllabfuhr, Errichtung neuer Badeanstalten in den Arbeitervierteln, Begrünung der Stadt, Umwandlung der städtischen Wälder in Kultur- und Erholungsparks; 8. Planung Moskaus: Ausarbeitung eines Bebauungs- und Entwicklungsplans für die Stadt Moskau.

III. "Die Entwicklung der Städtischen Wirtschaft in der UdSSR": Im dritten Abschnitt formuliert das Zentralkomitee Leitlinien für die Kommunalwirtschaft in der Sowjetunion insgesamt. Die bestehenden Großstädte müßten den noch zu erwartenden Zuzug bewältigen, die neuen neuen Industriezentren mit ihrem noch teilweise dörflichen Charakter städtischer werden. Im Sinne der Angleichung der städtischen und dörflichen Verhältnisse sei es nicht zielführend, in den bestehenden Großstädten weitere Unternehmen anzusiedeln. Es folgen neun Punkte mit konkreten Anweisungen, von der Steigerung des Wohnbaus durch die Verwendung neuer Baustoffe und leichter, standardisierter Bauweise über die "Säuberung" der Stadtverwaltungen von "Schädlingen" und die Ausbildung von Fachpersonal bis zur Einrichtung neuer Zentralbehörden. Am Ende nimmt das Zentralkomitee zur Diskussion über die "sozialistische Lebensweise" Stellung: Man müsse einen entschiedenen Kampf gegen den "rechten Opportunismus", aber auch gegen die "Abweichungen linksopportunistischer Phrasendrescher" führen.

Wirkungsgeschichte

Die Wirkung der Resolution war beträchtlich. Es gelang zwar mittelfristig nicht, das Wohnungsproblem zu lösen – der durchschnittliche Wohnraum pro Person sank in Moskau zwischen 1931 und 1940 weiter von 5,2 auf 4,1 Quadratmeter und erreichte erst in den sechziger Jahren wieder das Niveau von 1912 – aber es kam doch unübersehbar Bewegung in die Stadtentwicklung: Noch 1931 wurde fieberhaft mit dem Bau der Untergrundbahn begonnen, so daß die ersten beiden Linien 1935 in Betrieb genommen werden konnten. Der Moskva-Volga-Kanal wurde gebaut und die Stadtplanung vorangetrieben. Das Ergebnis war der 1935 vorgelegte "Generalplan für die Rekonstruktion Moskaus", der bis in die Nachkriegszeit als Vorbild für die Rekonstruktion weiterer Städte diente. In seiner Mischung aus dem Bewahren gewachsener Strukturen, der Neugliederung und dem Auswechseln des Erscheinungsbildes der Stadt wurde er zur Verkörperung dessen, was Kaganovič auf dem Juniplenum 1931 vorgegeben hatte.

Dietmar Neutatz