Michail Čiaureli, "Der Schwur", Mosfil'm 1946

Einleitung

Der Film beginnt mit einem politisch motivierten Mord. Der stimmungsvolle Gesang der russischen Kleinbauernfamilie in der Neujahrsnacht 1923/24 wird jäh durch die Ankunft des schwer verletzten Familienvaters unterbrochen. Stepan stirbt an den Schüssen von Konterrevolutionären. Seine Witwe Varvara, Mutter dreier erwachsener Kinder, beschließt das Vermächtnis ihres Mannes zu erfüllen und seinen Brief mit der Klage über die Gewalttaten der Kulaken Lenin zu überbringen. In Schnee und Kälte macht sie sich mit dem jüngeren Sohn und der Tochter auf den Weg nach Moskau. Dort begegnen ihnen andere Bittsteller, darunter ein kaukasischer Hirte, ein ukrainischer Bauer und ein usbekischer Baumwollpflücker, die mit einem ähnlichen Anliegen auf dem Weg zu Lenin sind und sich Varvara anschließen. Als die Gruppe in Lenins Aufenthaltsort Gor’kij eintrifft, ist Lenin gerade verstorben. Die Kamera schwenkt von der Gruppe der Trauernden ins politische Lager hinüber und zeigt, dass just im kritischen Augenblick der Führerlosigkeit die Abweichler Bucharin, Rykov und Kamenev versuchen, die Einheit der Partei zu untergraben. Stalin hingegen, im stillen Gedenken an den Verstorbenen, hält sich abseits; er imaginiert die Erscheinung Lenins, der ihn zum Nachfolger und Retter des Landes beruft. Im Wissen um seine Pflicht und die große Verantwortung folgt Stalin seiner Eingebung und übernimmt die schwere Aufgabe.

In einer archaischen Schwurszene auf dem Roten Platz in Moskau gelobt Stalin vor versammeltem Volk, Lenins Vermächtnis treulich zu wahren. Das Volk erwidert seinen Schwur. Jetzt entschließt sich Mutter Varvara, die mitten in der Menge steht, den an Lenin gerichteten Brief stellvertretend Stalin zu übergeben. In dieser Szene wird der Brief des ermordeten Bauern zum Unterpfand des neuen Bundes, den „Vater“ Stalin mit seinem (auserwählten) Volk zu unverbrüchlicher Gefolgschaft im Geiste Lenins geschlossen hat. In den folgenden Szenen erweist sich Stalin als praktischer Helfer und auf allen Gebieten des Lebens firm: als Städtebauer und Mechaniker, als vorausschauender Politiker und Feldherr, Kriegsstratege des Zweiten Weltkriegs, treu sorgender Vertrauter und wahrer Freund seines Volkes. All diese Talente vereint er in seiner Person und gibt damit seinem Volk – verkörpert in der Bauernfamilie Varvara Michajlovnas und in den Repräsentanten der sowjetischen Völkerschaften – die Bestätigung, sich dem Richtigen verschworen zu haben. Umgekehrt erweist sich auch das Volk als Stalins Vertrauens würdig: Es nimmt sogleich den Aufbau des Landes (beispielhaft am Traktorenwerk von Stalingrad) in Angriff und lässt sich auch durch Rückschläge (Sabotage und Hitlers Einmarsch) nicht von seinem Weg abbringen. Erfolg und der Gleichklang von Volk und Führer bringen die Opposition, Pessimismus und Defätismus von selbst zum Verschwinden.

Zwischen die Akte sozialistischer Pflichterfüllung sind in Čiaurelis Film immer wieder üppige Szenen russischer Lebensfreude gestreut: Singen, Tanzen, Balalaika spielen, der mitreißende Rhythmus des Kasačok, öffentliche Heldenehrung und ein reiches Bankett im Kremlpalast, bei dem Mutter Varvara und ihre Familie zusammen mit den Delegierten aus allen Sowjetrepubliken an der festlich gedeckten Zarentafel Platz nehmen. Volk und Führer scheinen zu einer großen Familie in wechselseitige Treue vereint. Damit nicht genug: Auch außenpolitisch zeichnet Stalin sich durch Güte und Friedensliebe aus. So setzt er sich vorbildlich für den Weltfrieden ein, indem er gegen Hitler-Deutschland ein Bündnis mit Frankreich zu erreichen sucht. Dass seine Friedensmission scheitert, liegt, so erfahren wir, an Frankreichs völliger Fehleinschätzung der politischen Lage und an der (hier grotesk gezeichneten) Verantwortungslosigkeit des französischen Verhandlungspartners Georges Bonnet. Im dann unvermeidlich folgenden Krieg führt das sowjetische Militär unter Stalins Leitung und tatkräftig unterstützt von der Zivilbevölkerung, einen heroischen und am Ende siegreichen Kampf gegen den Faschismus und die selbstmörderische Kriegsstrategie Hitlers – beispielhaft dargestellt an der Schlacht von Stalingrad.

Analyse: Obgleich Stalin, dargestellt von dem Georgier Michail Gelovani, nur in 13 von 45 Filmsequenzen persönlich auftritt, ist er in Kljatva beständig gegenwärtig, sei es, dass in Gesprächen anderer Personen sein Name genannt wird, sei es als Abbild, als Zitat und einmal auch als Radiostimme. Er ist das handelnde Subjekt aller wesentlichen, in diesem Film vorgestellten oder erwähnten Ereignisse der jüngsten sowjetischen Geschichte zwischen 1924 und 1945. In seiner Person laufen alle für das Leben im sowjetischen Alltag wichtigen Fäden zusammen.

Die Allgegenwart und Unentbehrlichkeit des großen Führers ist ein propagandistischer Trumpf, den auszuspielen, aus historiographischer Distanz betrachtet, nicht ungefährlich scheint. Denn zum einen wird auf diese Weise statuiert, dass der Geschichtsverlauf, entgegen der marxistischen Theorie, auf dem Genie einer einzelnen Persönlichkeit gründet, und nicht auf den materiellen Verhältnissen. Zum anderen war 1946 zu befürchten, dass ein „historischer Film“ über die neuste Zeit mit der lebendigen Erinnerung der sowjetischen Zuschauer kollidieren könnte, schon gar wenn er sich anschickte, die Ereignisse dieser Zeit erheblich zu ‚korrigieren’. Nicht umsonst hat der Vater des „historischen Romans“, der in Russland wohlbekannte Walter Scott, seinem Genre einen Mindestzeitabstand von 50 Jahren verordnet – zur unbestechlichen Urteilsfindung über die erzählte Vergangenheit und zur Unabhängigkeit von idiosynkratischen Zeitzeugenerinnerungen. Čiaureli hingegen wagte nicht nur einen „zeitgenössischen Historienfilm“, er wählte dafür auch das ideologischste aller damaligen Themen: Stalin. Wie konnte das gut gehen?

Es ging gut, zumindest für einige Jahre. Kljatva war, wie die Pravda nach der Uraufführung schrieb, ein „riesiger Erfolg“. Die Parteizeitung widmete dem Film zweimal (am 31.7. und am 9.8.1946) Platz auf ihrer ersten, normalerweise für Politik reservierten Seite. Am 8.8. brachte sie eine ganze Seite über den Film, darunter auch einen Artikel des Regisseurs über sein großes Stalinbild. Auch die in derselben Ausgabe abgedruckten Leserbriefe spendeten dem Film uneingeschränktes Lob. Das verwundert nicht, schließlich war der Film ja für die Öffentlichkeit freigegeben und damit sakrosankt. Verblüffend sind aber die Begründungen, die manche Zuschauer für ihren positiven Eindruck abgaben: „Als ich den Film sah, schien es mir, als sähe ich die Geschichte meines Lebens.“ Oder auch: „Wenn du auf die Leinwand schaust, scheint es immer, dass vor dir das Leben selbst abläuft, die lebendige Wahrheit […].“ (Pravda, 8.8.1946, S. 2; vgl. Hülbusch, S. 193.)

Die lebendige Wahrheit ist in diesem Film allerdings mehrfach gebeugt. Drei verschiedene Weisen, dies zu tun, seien beispielhaft genannt. Der Film bedient sich des Mittels der Verschiebung: Lenin hatte keineswegs Stalin zum Nachfolger empfohlen, wie hier suggeriert wird, im Gegenteil hatte er die Parteigenossen vor Stalins charakterlichen Schwächen gewarnt. Hungersnöte und Versorgungsengpässe während der Fünfjahrpläne beruhten nicht auf Konflikten zwischen der armen Bauernschaft und den Mittelbauern, sondern auf staatlicher Misswirtschaft. Die Vernichtungskampagne gegen die als Konterrevolutionäre und Kulaken bezeichneten Mittelbauern begann nicht schon 1924, sondern erst in der Periode des Ersten Fünfjahrplanes während der Kollektivierung der Landwirtschaft. Auch Bucharin, an der Spitze der „rechten Opposition“, wurde für den Generalsekretär erst während der dreißiger Jahre zum ideologischen Kontrahenten.

Derartige Verfälschungen der historischen Sachverhalte sind in Kljatva oft eng mit dem Mittel der Auslassung verbunden: Eigentlicher Konkurrent Stalins um die Parteiführung nach Lenins Tod war nicht Bucharin, sondern Trockij. Da dieser jedoch nach jahrelangen Verfolgungen durch Stalin 1940 bereits ermordet war und in der Sowjetunion als Unperson galt, musste er auch im Film von 1946 unerwähnt bleiben; so fiel im Film „Bucharin“ die Rolle des Konkurrenten zu. Ausgespart ist selbstverständlich auch der Hitler-Stalin-Pakt; so kann der Film behaupten, nicht Russland, sondern Frankreich habe die von Deutschland drohende Kriegsgefahr unterschätzt. Gänzlich unberührt bleiben in Kljatva alle negativen Charaktereigenschaften des Generalsekretärs und die schrecklichen Folgen seiner Willkürherrschaft. Verschwiegen sind auch die Gewalt und der Terror, unter denen Millionen zu leiden hatten.

Ein drittes probates Mittel der filmischen Retusche ist die Erfindung: Erfunden sind Stalins stattliche Erscheinung und sein leutseliger Umgang mit dem Volk. Um letzteren zu demonstrieren, verlegte Čiaureli die Schwurszene vom II. Allunions-Sowjetkongress im Moskauer Bol’šoj teatr – wo Stalin am 26. Januar 1924 in dieser Form an die Parteidelegierten appelliert hatte – filmwirksam in die Öffentlichkeit des Roten Platzes. So wird statt der Parteimitglieder das ganze Volk zu Stalins Verbündetem im Geiste Lenins. Erfunden sind auch die idealen Charakterzüge Stalins, die von der historischen Realität des Diktators, seiner „Säuberungen“ und Schauprozesse kaum weiter entfernt sein könnten. Welches Bild der Regisseur Čiaureli von Stalin vor Augen hatte, beschreibt er in seinem Pravda-Artikel (8.8.1946, S. 2): „Keinem Künstler ist es [bisher] gelungen, den warmen Glanz seiner Augen, den Zauber seines Lächelns, den versteckten, tiefsinnigen Humor seiner treffenden, klaren Worte einzufangen und wiederzugeben […]. Nur wir sind die Zeitgenossen des großartigsten Menschen, der mit einem forschenden Blick in zukünftige Jahrhunderte durchgedrungen ist, der den Lebenslauf von Millionen Menschen gewendet hat, der zum Schöpfer eines neuen Glücks auf der Erde geworden ist. Wir haben den Genius der Welt erkannt. Sein Name ist Stalin.“ (zit. nach Hülbusch, S. 194)

Zwar macht der Film keinen Hehl daraus, dass der Generalsekretär nicht selbst auftritt, sondern von einem Schauspieler dargestellt wird, doch sind alle von Gelovani verkörperten Vorzüge selbstverständlich auf Stalin gemünzt und werden auch vom Publikum diesem zugerechnet. Wie ist zu verstehen, dass sowjetische Zuschauer der vierziger Jahre meinten, in Čiaurelis Film wahrhaftig ihre eigene historische Epoche wiederzufinden, und dabei grobe Verfälschungen für ein getreues Abbild der Wirklichkeit hielten? Chronischer Informationsmangel im Sowjetreich mag am Rande eine Rolle gespielt haben. Die oben zitierte Euphorie der Leserbriefschreiber über die geschichtliche Wahrheit, der sie im Film begegnet zu sein glaubten, erklärt das jedoch nicht. Eine genauere Betrachtung von Čiaurelis Kompositionsmuster ist aufschlussreicher. Gelovani-Stalin erscheint in Kljatva als ein Weiser; zeit- und alterslos überragt er die Beschränktheit des Wissens seiner Zeitgenossen. Seine Äußerungen haben vielfach den Charakter von zukunftgerichteten Willensbekundungen oder auch Prophezeiungen – Prophezeiungen, die sich alsbald erfüllen, wobei der zeitgenössische sowjetische Kinogänger die ‚Erfüllung’ aus seiner eigenen Geschichtserfahrung bestätigen kann, wenngleich ihm die zugehörigen ‚Prophezeiungen’ bis dahin unbekannt gewesen sein dürften. „Es wird Krieg geben“, sagt Stalin, oder: „Hier soll die Stadt [Stalingrad] gebaut werden.“, „Die Produktionskapazität des Traktorenwerkes ist zu verdoppeln.“ usw. Stalin überblickt im Film die die gesamte Zeitspanne bis 1946, das verbindet ihn mit dem Kinogänger von 1946, während die anderen handelnden Personen im Film, die Zauderer und Skeptiker, in ihrer jeweiligen Gegenwart von 1924, 1928, 1941 … befangen sind. Allein die Mutter mit ihren gefühlsmäßigen Vorahnungen macht da eine gewisse Ausnahme.

Aus dieser Konstellation entsteht beim Zuschauer eine Identifikation mit Stalin, Sympathie für die Mutter und ein Überlegenheitsgefühl gegenüber denen im Film, die (ideologisch) noch im Dunkeln tappen. Das Wissen um die (innerfiktional) bevorstehenden (außerfiktional aber bereits eingetretenen) politischen Ereignisse erlaubt dem Film-Stalin eine souveräne Haltung ruhiger Gewissheit einzunehmen und immer die „richtigen“ Entscheidungen zu treffen. Dieser Erzähl-Mechanismus einer „Selffulfilling Prophecy“ (Hülbusch spricht von „Stalin als Magier“, S. 188) macht die Überzeugungskraft dieses Films aus. Er bringt eine Schlüssigkeit der Filmhandlung zustande, in die das Publikum konstruktiv eingebunden ist und sich in seiner Identifikation bestärkt und bestätigt findet. In dieser Idylle wird es, ungeachtet irgendwelcher weniger glaubwürdigen Details, zum zufriedenen Verbündeten des – glücklicherweise immer noch regierenden – Generalissimus Stalin.

Brigitte Flickinger