Dekret über die Gewissensfreiheit, die kirchlichen und religiösen Vereinigungen ["Über die Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche"], 20. Januar (2. Februar) 1918

Einführung

Die Ausarbeitung des Dekrets begann bereits wenige Wochen nach der GlossarOktoberrevolution. Neben GlossarV.I. Lenin, selbst Jurist, waren daran maßgeblich GlossarA.V. Lunačarskij, GlossarV.D. Bonč-Bruevič und der Volkskommissar für Justiz, GlossarP.S. Stučka, beteiligt. Noch vor der Verabschiedung hatte die sowjetische Staats- und Parteiführung einige Maßnahmen beschlossen, die entscheidende Bestimmungen des Dekrets vorwegnahmen. So hatte der 2. GlossarSowjetkongreß am 26. Oktober (8. November) 1917 das Dekret "Über den Boden" verabschiedet, das den privaten Besitz von Grund und Boden verbot und sämtlichen Landbesitz, auch denjenigen von Kirchen und Klöstern, in Volkseigentum überführte. Dieses Dekret hat die wirtschaftliche Basis der ROK, vordem eine der größten Grundbesitzerin des Russischen Reiches. Kurz darauf, am 2. (15.) November 1917, wurde die rechtliche Vorrangstellung der ROK gegenüber anderen Konfessionen und Religionen aufgehoben. In den folgenden Wochen wurden die Klöster in die Zuständigkeit des Volkskommissariats für Versorgungswesen überführt (30. November (13. Dezember) 1917) und das kirchliche Schulwesen (einschließlich der theologischen Ausbildungsstätten) verstaatlicht (11. (24.) Dezember 1917). Am 18. (31.) Dezember 1917 verlor die Kirche alle zivilstandesrechtlichen Befugnisse (der Eheschließung sowie der Geburts- und Todesregistrierung), die Zivilehe ersetzte die kirchliche Trauung und zur Scheidung bedurfte es künftig nicht viel mehr als einer entsprechenden Willenerklärung der Eheleute. Gleichzeitig wurden Geistliche aus allen staatlichen Institutionen (z.B. Heer und Marine) entfernt (14. (27.) Januar 1918). Das Dekret vom 20. Januar (2. Februar) 1918 darf als Zusammenfassung und Krönung dieser Maßnahmen gelten.

Die höchst unsichere politische Situation und das Bestreben der GlossarBolschewiki, die Gläubigen nicht durch allzu schroffe Formulierungen vor den Kopf zu stoßen, vielleicht sogar einige von ihnen für sich zu gewinnen, führte dazu, daß der hochbrisante Inhalt des Dekrets in verbindliche Worte gekleidet wurde. In Wirklichkeit bezweckten seine Bestimmungen die Liquidierung der kirchlichen und religiösen Strukturen.

Art. 1 wurde von Lenin selbst formuliert. Ursprünglich hatte er gelautet: "Religion ist Privatsache jedes Bürgers der Rußländischen Republik." Dagegen ist sein endgültiger Wortlaut einerseits abstrakter und geht zugleich viel weiter als der ursprüngliche Text. Denn aus Sicht der Partei war die Deklarierung der Religion zur "Privatsache des Bürgers" durchaus problematisch. Die Spitze der GlossarVKP (b) tolerierte keine liberale Religionspolitik und erst recht keine Religionsfreiheit, die sich mit "Religion als Privatsache des Bürgers" begründen ließ. So beschloß der 8. Parteikongreß ein neues Parteiprogramm, in dem betont wurde, daß die Partei "sich in bezug auf die Religion nicht mit der bereits dekretierten Trennung der Kirche von der Schule und der Schule von der Kirche" begnüge, daß sie bestrebt sei, "die tatsächliche Befreiung der werktätigen Massen von religiösen Vorurteilen zu fördern" und "die antireligiöse Propaganda in breitestem Ausmaße zu organisieren".2 Mit der Neuformulierung des Art. 1. beugte Lenin jeglichem Mißverständnis vor.

Art. 2 und Art 3. bieten Beispiele wohlklingender Rhetorik. Sie richteten sich vor allem gegen die ROK und hoben deren bisher privilegierte Stellung als Staatskirche auf. Sie wurde zu einer Religionsgemeinschaft unter vielen herabgestuft. Art. 4. ergänzte diese Maßnahme, indem er die Verdrängung der russisch-orthodoxer Riten aus dem staatlichen, rechtlichen und öffentlichen Bereich vorsah.

Art. 5 gestattete noch ein Minimum an Religiosität in der Öffentlichkeit und beugte dem Urteil vor, das Dekret trage einen grundsätzlich antireligiösen Charakter. In der Tat wurden Kirchenprozessionen bis weit in die 1920er Jahre erlaubt. Dies geschah allerdings unter der Bedingung, daß sie zwei Tage vorher von den lokalen Behörden genehmigt worden waren, was diesen Spielraum für Manipulationen gab. Die "religiöse Propaganda", wie sie die Verfassung der RSFSR von 1918 den Gläubigen noch zugestanden hatte, wurde durch die Verfassung von 1936 auf die "Freiheit der religiösen Bekenntnisse" reduziert; kommunistische Organisationen behielten dagegen weiterhin das Recht auf antireligiöse Propaganda.

Art. 6 läßt abermals den vorsichtigen Charakter des Dekrets erkennen. Bereits um die Jahrhundertwende hatte sich Lenin über Sekten positiv geäußert, weil sie dem Staat und der Staatskirche gegenüber eine z.T. militant ablehnende Haltung zeigten und manche von ihnen Lenin und seine Mitstreiter verbal unterstützten. Lenin betrachtete die Sekten als Bundesgenossen in seinem Kampf gegen die Autokratie. Dem zweiten Abschnitt dieses Artikels, der die Möglichkeit einer Ersatztätigkeit für den Militärdienst eröffnete, entsprachen Sonderdekrete Lenins von 1919 und 1920, die einige Sekten ausdrücklich vom Militärdienst befreiten. Spätestens seit der Mitte der 1920er Jahre wurde diese Befreiung immer seltener gewährt.

Art. 7 und Art. 8 gehören heute zum Grundbestand vieler demokratischer Verfassungen. Hiermit wurde der Status der ROK als Staatskirche aufgehoben. Vor 1918 hatten die orthodoxen Riten das staatliche und öffentliche Leben im Russischen Reich maßgeblich geprägt, während orthodoxe Priester die standesamtlichen Register für Geburt, Taufe, Eheschließung und Tod führten. Vom Art. 8 wurden auch andere Staatskirchen bzw. Staatsreligionen getroffen. Dies gilt sowohl für die römisch-katholische und die evangelisch-lutherische Kirche als auch für die muslimischen Einrichtungen. Im Zarenreich waren sie Staatskirchen (minderen Rechts) und übten ebenso standesamtliche Funktionen aus. Nachdem diese Funktionen den Geistlichen entzogen worden waren, hatten sie – v.a. in den Städten – noch kaum Überblick über das Leben ihrer Gemeinden. Zwar durften sie sich noch anfangs Abschriften aus den standesamtlichen Geburtsregistern machen, doch auch dies wurde bald unterbunden.

Art. 9 griff massiv in das innerkirchliche Leben ein. Hinter seinem harmlosen Wortlaut verbarg sich eine geradezu zerstörerische Praxis. Die im dritten Abschnitt erwähnten "privaten" Möglichkeiten der Religionsvermittlung wurden immer mehr eingeschränkt. Sonntagsschulen bzw. Kindergottesdienst wurden mit Repressionen geahndet; der Religionsunterricht (Konfirmandenunterricht und Firmungsvorbereitung), der zunächst auf drei Personen beschränkt worden war, wurde später auf Personen über 18 Jahre beschränkt bzw. nicht mehr erlaubt. Auf der Grundlage dieser Bestimmung wurden in der Folgezeit alle theologischen Unterrichtsstätten geschlossen. Die temporäre Zulassung nichtorthodoxer Seminare (z.B. die GlossarBiblischen Hochschulkurse der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Leningrad) stellte sogar in den vergleichbar liberalen 1920er Jahren eine Ausnahme dar. Somit bedeutete Art. 9, daß die Religionsgemeinschaften ihre jungen Gemeindemitglieder zuerst unter sehr schweren Bedingungen und später überhaupt nicht mehr in Glaubensdingen unterrichten konnten.

Art. 10 stellte religiöse Institutionen und Gemeinden Privatgesellschaften und -verbänden gleich, die vom Staat keinerlei Subsidien erhielten. Diese Regelung bezog sich auf Bischöfe und Leitungsorgane aller Staatskirchen einschließlich solchen des minderen Rechts. Die einzelnen Gemeinden traf sie erst 1929. Dabei blieb unklar, wie sich die sowjetische Staats- und Parteiführung eine reale Kirchengemeinde vorstellte. Zwar ist im Artikel 10. von "Privatgesellschaften und -verbänden" die Rede, zu diesem Zeitpunkt existierten sie aber höchstens noch auf dem Papier. Lediglich in der "Verordnung über das Verfahren bei der Durchführung des Dekrets über die Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche" (Art. 6, siehe unten) wurde die Gemeinde indirekt definiert, indem betont wurde, daß für den Abschluß eines Nutzungsvertrages über ein Gotteshaus mit dem örtlichen Rat "eine Gruppe von Gläubigen" notwendig war, die mindestens 20 Personen umfassen mußte.

Art. 11 verfolgte das Ziel, die finanziellen Grundlagen der religiösen Gemeinden zu schwächen. Er traf vor allem die Leitungsorgane der Kirchen (Bischöfe, Kirchenverwaltungen usw.) und meinte mit "Zwangseintreibungen von Abgaben und Gebühren" die für sie bestimmten Kollekten. Durch das Verbot von Zwangs- und Strafmaßnahmen gegen Gemeindemitglieder soll die Autorität der hohen und niedrigen Geistlichkeit untergraben werden. Das Große Landeskonzil der ROK von 1917/18 nahm diesem Verbot etwas von seiner Schärfe, indem es eine stärkere Ausrichtung des Gemeindelebens auf die Laien beschloß. So führte das Konzil die Wahl der Bischöfe durch Priester und Laien ein; in Anbetracht der Repressionen war sie allerdings kaum durchzuführen.

Der ebenfalls relativ harmlos klingende Art. 12 entzog der ROK ihre wirtschaftliche Basis. Er nahm Bezug auf das Dekret "Über den Boden" vom 26. Oktober (8. November) 1917, das den gesamten Grundbesitz der Zarenfamilie, des Adels, der Kirche und der Klöster konfiszierte. Zwar hatte der zarische Staat alle Leitungsorgane der Kirche, die Bischöfe mit ihren Residenzen, die Priesterseminare usw. finanziert, doch bildete der Landbesitz die eigentliche finanzielle Basis der ROK, die zu den größten Grundbesitzern des Zarenreiches zählte. Diese Verordnung traf auch andere Religionsgemeinschaften, allen voran die lutherische und die katholische Kirche: Vom Staat großzügig finanziert, verfügten sie ebenfalls über einen enormen Grundbesitz, aus dessen Einkünften beträchtliche Posten ihres Budgets gedeckt wurden. Darüber hinaus trat die Enteignung kirchliche Spitäler und diakonische Einrichtungen, die von der lutherischen Kirche und zum Teil von der ROK unterhalten worden waren. Wie die praktische Umsetzung dieses Artikels zeigt, handelte es sich dabei nicht um eine Demokratisierungsmaßnahme der Bolschewiki, sondern um einen als menschenfreundliche Verordnung getarnten Versuch zur Unterdrückung und zur endgültigen Liquidierung der Religionsgemeinschaften.

Sodann sprach Art. 12 den religiösen Gemeinschaften die Rechtsfähigkeit ab, indem es ihnen den Charakter einer juristischen Person entzog.

"Das bedeutete die Zerstörung der 'Kirche' im Sinne einer hierarchisch aufgebauten und körperschaftlich verfaßten Institution. Mit einem Schlage wurde ihre gesamte Verfassung rechtswidrig; ihre Organisation zerfiel in eine Unzahl zusammenhangloser Gemeinden“ 3 Der Artikel bezog sich zwar auf die ROK, galt aber im gleichen Masse für alle anderen religiösen Gemeinschaften.

Art. 13. zeigt, wie sehr den Bolschewiki daran gelegen war, die religiösen Gemeinschaften – namentlich die ROK – ihrer wirtschaftlichen Basis zu berauben. Er präzisiert und verschärft noch einmal den ersten Absatz des vorangegangenen Artikels. Aus ihm geht hervor, daß die für den Gottesdienst genutzten Gebäuden wie Kirchen, Kapellen, Bethäuser, theologische Ausbildungsstätten und Klöster in den Besitz des Staates übergehen. Der Artikel deutet darauf hin, daß die verstaatlichten Gotteshäuser durch religiöse Gemeinschaften künftig genutzt werden können. Zwar ist diese Bestimmung nicht konkret genug, trotzdem bildete sie bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion die Grundlage aller Nutzungsverträge zwischen dem Staat und den religiösen Gemeinschaften. Dabei handelte es sich stets um Nutzungsverträge für solche Gotteshäuser, die die örtlichen Sowjets ihren religiösen Gemeinden zugestanden. Wie zwei spätere Zirkulare des Volkskommissariats für Justiz (3. Januar 1919) und des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten (28. Februar 1919) verfügt hatten, stand es dem Staat frei, Gotteshäuser für andere Zwecke zu verwenden oder auf Verlangen der "werktätigen Massen" zu schließen. 1939, d.h. nach den Großen Säuberungen, gab es in der ganzen Sowjetunion nur noch 200-500 "funktionierende" orthodoxe Kirchen. Zum Vergleich sei angeführt: 1914 bezifferte die ROK die Zahl ihrer Gemeinden im Russischen Reich auf 54000, zwischen 1948 und 1986 wurde die Zahl der „funktionierenden" orthodoxen Kirchen durch "administrative" Maßnahmen des Staates von 14.000 auf 6.800 reduziert.4 Die "kostenlose Benutzung" einstiger Gotteshäuser, die Art. 13 verkündete, wurde bis Ende der 1980er Jahre propagandistisch ausgeschlachtet, wobei man aber unterschlug, daß die religiösen Gemeinschaften den höchsten Steuersatz in der Sowjetunion zu zahlen hatten, und der Boden, auf dem das jeweilige Gotteshaus stand, mit überzogenen Steuern belegt wurde.

Da die einzelnen Abschnitte des "Trennungsdekrets" zum Teil bewußt vage formuliert, zum Teil in vorliegender Form nicht zu realisieren waren, veranlaßte der GlossarRat der Volkskommissare (SNK) die Einberufung einer "Sonderabteilung für Kultfragen" beim Volkskommissariat für Justiz, die eine "Verordnung über das Verfahren bei der Durchführung des Dekrets über die Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche" auszuarbeiten hatte. Am 30. August 1918 trat diese Verordnung in Kraft. Darin wurden konkrete Schritte festgelegt, in denen die allgemeinen Bestimmungen des "Trennungsdekrets" umzusetzen waren. Dabei zeigte die "Sonderabteilung für Kultfragen" mit aller Klarheit, wo sie ihre Prioritäten setzte: Von 35 Paragraphen der Verordnung sind allein 22 den Modalitäten der Enteignung des kirchlichen Vermögens gewidmet.

Die Bedeutung des Dekrets "Über die Gewissensfreiheit, die kirchlichen und religiösen Vereinigungen" geht weit über seine propagandistische Wirkung hinaus. Der Schwerpunkt des Dekrets und seiner Durchführungsbestimmungen lag auf der Enteignung der Religionsgemeinschaften und der Entmachtung der kirchlichen Leitungsorganen. In der Tat schwächte diese Maßnahme die Leitungsstrukturen aller Religionsgemeinschaften erheblich, während ihre Organisationen teilweise zerstört wurden. Darüber hinaus ging die Zahl der Gemeinden während der 1920er Jahre zurück. Nichtsdestoweniger blieben die Basisgemeinden vom Dekret weitgehend verschont. Zeitweise entstanden sogar neue Formen des kirchlichen Gemeindelebens, die gegen die Bedingungen des Dekrets nicht verstießen und von den örtlichen Sowjets geduldet wurden. Es handelt sich in erster Linie um Gründungen der protestantischen Freikirchen wie GlossarBaptisten und GlossarAdventisten, die z.B. sogenannte christliche "Kolchosen" ins Leben riefen.

Das Jahr 1929 wurde für religiöse Gemeinschaften zum Schicksalsjahr: Unter dem Vorzeichen der Glossar"Revolution von oben" verabschiedete die sowjetische Staats- und Parteiführung das Dekret "Über die religiösen Vereinigungen", das die systematische Zerstörung der Gemeinden als einer Basis der Kirche zum Ziel hatte.

Gerd Stricker

2 Luchterhandt, Der Sowjetstaat und die Russisch-Orthodoxe Kirche, S. 44. [2]

3 Luchterhandt, Der Sowjetstaat und die Russisch-Orthodoxe Kirche, S. 35. [3]

4 Hauptmann, P., Stricker, G., Die Orthodoxe Kirche in Rußland. Dokumente ihrer Geschichte. 860-1980, Göttingen 1988, S. 606ff. [4]