Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR "Über die Abschaffung der Todesstrafe", 26. Mai 1947

Einleitung

Das Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 26. Mai 1947 hob die Todesstrafe in der Sowjetunion auf. Dies war nicht die erste Maßnahme dieser Art. Bereits im November 1917 hatte die sowjetische Regierung die Todesstrafe offiziell abgeschafft, ihre weitere Anwendung gegen Konterrevolutionäre jedoch geduldet. Mit dem Dekret über den ‚Roten Terror’ vom 16. Juni 1918 wurde sie offiziell wieder eingeführt, im Januar 1920 (außer für Militär- und Revolutionstribunale) erneut abgeschafft und noch im selben Jahr vollständig wiederhergestellt. Ähnlich wie das Strafrecht im Russischen Reich ahndete das sowjetische Strafprozessrecht Kriminaldelikte mit vergleichsweise milden Strafen, harte Strafen bis hin zur Todesstrafe galten vor allem für politische Vergehen, die nicht vor den ordentlichen Gerichten verhandelt wurden, sondern in den Zuständigkeitsbereich von Sondergerichten bzw. der Organe der Staatssicherheit fielen.

Obwohl sich die Todesstrafe nicht im Einklang mit dem offiziellen Verständnis von Strafe als Besserungsmaßnahme und Erziehungsmittel befand, welches das sowjetische Strafrecht der zwanziger Jahre prägte, sahen die Strafgesetzbücher der einzelnen Sowjetrepubliken (RSFSR 1922, 1926) Tod durch Erschießen als "außerordentliche Maßnahme" bei "Verbrechen schwerster Art, die die Grundlagen des Sowjetregimes und der Sowjetverfassung bedrohen" weiterhin vor. Dabei handelte es sich meist um politische Straftaten, doch auch militärische oder ökonomische Vergehen konnten mit der Todesstrafe belegt werden. Einschränkend bestimmte das Gesetz lediglich, dass Personen, die zum Zeitpunkt des Verbrechens das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hatten sowie Schwangere nicht zum Tode verurteilt werden durften. Zu der in den Strafgesetzbüchern in Aussicht gestellten "anderweitigen Regelung", also der Aufhebung der Todesstrafe, kam es vorerst nicht. Nachdem jedoch 1927 ihre Anwendung auf bestimmte politische und militärische Delikte sowie Raubüberfälle eingeschränkt worden war, sank die Zahl vollstreckter Todesurteile deutlich. Doch im Zuge der Kollektivierung und Entkulakisierung fanden ab 1929 erneut Massenhinrichtungen statt. Zu Beginn der dreißiger Jahre, also noch bevor die sowjetische Justiz 1934 zum Schuldstrafrecht zurückkehrte und damit dem Anspruch auf Vergeltung deutlich mehr Gewicht verlieh als dem bisher favorisierten Präventionsgedanken, wurde der Katalog von Verbrechen, die mit der Todesstrafe geahndet werden sollten, ausgeweitet. Er umfasste nun auch Waffendiebstahl, Mord durch Militärpersonal unter bestimmten Bedingungen sowie Hochverrat. Während des Zweiten Weltkrieges wurde die Anwendung der Todesstrafe erneut erweitert und galt nun auch für "Provokateure, Spione und andere Agenten des Feindes, die die öffentliche Ordnung störten".

Trotz fehlender gesicherter Angaben über die Zahl der in der Sowjetunion vollstreckten Todesurteile, war ihre Anwendung deutlich verbreiteter als im Russischen Reich. Für das erste nachrevolutionäre Jahrzehnt geht die Forschung von einigen 10.000 Fällen aus, in denen die Höchststrafe verhängt wurde. Mit Abstand die meisten Todesurteile wurden in den Jahren des politischen Massenterrors (1934–1938) gefällt, in der Regel wegen angeblicher konterrevolutionärer Verbrechen nach § 58 des Strafgesetzbuches. Nach bis heute bekannten, allerdings immer noch unvollständigen Zahlen wurden allein im berüchtigten Terrorjahr 1937/38 von den mehr als 1,5 Mio. von der politischen Polizei verfolgten Menschen 681.692 hingerichtet.

Erst nach Kriegsende, mit dem Dekret des Obersten Sowjets vom 26. Mai 1947, wurde die Todesstrafe in der Sowjetunion ausdrücklich abgeschafft. So spektakulär und auf Öffentlichkeitswirkung im In- und Ausland bedacht die Aufhebung auch gewesen sein mochte, handelte es sich lediglich um eine symbolische Maßnahme, denn die allgemeine Abschaffung der Todesstrafe blieb Episode. Bereits am 12. Januar 1950 führt ein Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR sie für "Vaterlandsverräter, Spione und Saboteure", also für einzelne politische Verbrechenstatbestände, die auf die Unterminierung der geltenden Staatsordnung abzielten, wieder ein. Die Neukodifzierung des Strafrechts unter Chruščev führte nicht zur erneuten Aufhebung der Todesstrafe. Im Gegenteil, mit Dekret vom 30. April 1954 wurde sie auf vorsätzliche Tötung unter bestimmten Bedingungen ausgeweitet. Diese Maßnahme richtete sich vermutlich gegen eine bestimmte Gruppe Krimineller, die im Zuge der Vorošilov-Amnestie von März 1953 den Gulag verlassen konnten und deren Befreiung in der sowjetischen Gesellschaft massive Ängste auslöste. Spätere Dekrete dehnten den Anwendungsbereich der Todesstrafe auf weitere nicht politisch motivierte Delikte aus. Da jedoch gleichzeitig die Höhe von Freiheits- und Verbannungsstrafen erheblich gesenkt wurde, kann für die Phase nach Stalins Tod insgesamt von einer Liberalisierung des Systems der Strafverfolgung gesprochen werden.

Das Dekret vom 26. Mai 1947, um das es hier geht, sah die Aufhebung der Todesstrafe in Friedenszeiten vor. Die Abschaffung erstreckte sich also weder auf etwaige zukünftige Kriegszeiten noch auf Gebiete, in denen Kampfhandlungen stattfanden würden. Als Ersatz für diejenigen Fälle, in denen laut geltenden Gesetzen bis zum Mai 1947 die Todesstrafe Anwendung finden sollte, wurde diese durch 25-jährige Haft in einem ‚Besserungsarbeitslager’ (ITL) des GULag-Systems, ersetzt. Vor dem Hintergrund der desolaten Lebensverhältnisse und der harschen klimatischen Bedingungen in den Arbeitslagern kam dieses Strafmaß, wie in der Forschung betont wird, einer langsamen Hinrichtung gleich und dürfte insbesondere in den Hungerjahren um 1947 zahlreiche Opfer gefordert haben.

Bei der Interpretation der Wiedereinführung der Todesstrafe für "Vaterlandsverräter, Spione und Agenten-Saboteure" im Januar 1950 dominiert die Ansicht, dass diese Maßnahme vor allem darauf abzielte, die Hauptangeklagten der ‚Leningrad-Affäre’ hinrichten zu können. Doch blieben diese mitnichten die einzigen Opfer der Justiz der späten Stalinzeit. So wurden in der DDR zwischen 1950 und 1953 Hunderte Menschen aufgrund angeblicher ‚konterrevolutionärer Handlungen’ verhaftet, in die Sowjetunion verbracht und dort von Militärtribunalen nach § 58 des sowjetischen Strafgesetzbuches zum Tode verurteilt.

Zusammenfassend ist zu bemerken, dass die zahlreichen repressiven Maßnahmen der Nachkriegsjahre, die wie z. B. die Diebstahlsdekrete vom 4. Juni 1947 drakonische Strafen für Bagatellvergehen einführten, weitaus größere strafrechtliche Bedeutung erlangten als die Abschaffung der Todesstrafe. Von einer Liberalisierung des sowjetischen Strafrechts in den Nachkriegsjahren kann also keine Rede sein. Die Forschung neigt vielmehr zu der Ansicht, dass die Todesstrafe vor allem deshalb aus dem sowjetischen Strafrecht getilgt wurde, um dessen spürbare Verschärfung zu verschleiern bzw. um die Folgen der vielen strafverschärfenden Dekrete zu mildern, mit denen die politische Führung der Sowjetunion unter Stalins persönlicher Federführung das bestehende Strafrecht durch politisch motivierte verschärfende Ergänzungen pervertierte. Vor diesem Hintergrund ist die Aufhebung der Todesstrafe eher als Propaganda- bzw. Ablenkungsmanöver von den Strafrechtsverschärfungen der späten vierziger Jahre und nicht als politische Grundsatzentscheidung zu betrachten. Entsprechend geringe Aufmerksamkeit hat das Dekret vom 26. Mai 1947 in der Forschung auf sich gezogen, zumal keine offiziellen Äußerungen oder Archivfunde aufgetaucht sind, die Aufschluss über andere Motive Stalins und seiner Führungsriege liefern könnten.

Beate Fieseler