Gründungsurkunde der Allrußländischen Obersten Macht, 26. August - 10. September 1918 (8. - 23. September) 1918

Einführung

Im Sommer 1918 hatte die GlossarTschechoslowakische Legion wichtige Städte an der Mittleren Wolga von der GlossarRoten Armee zurückerobert. In Ufa sollten die etwa 170 Delegierten ein gemeinsames politisches und militärisches Programm ausarbeiten und verabschieden. Nominell repräsentierten sie über zwanzig Regionalregierungen auf dem Territorium des ehemaligen Zarenreiches sowie die wichtigsten nichtbolschewistischen Parteien, Wirtschaftsvereinigungen, GlossarSelbstverwaltungsorgane und Kosakenverbände. Am stärksten waren jedoch die GlossarRegierungen von Samara und GlossarOmsk vertreten, deren kontroverse Standpunkte deshalb auch die Konferenz beherrschten.

Wichtigstes Ergebnis der gut zweiwöchigen Verhandlungen der "Staatskonferenz" war die Bildung einer "gesamtrussischen" Regierung. Dieses Direktorium umfaßte fünf Mitglieder. Allerdings waren die Vertreter der GlossarSüdregierung in Ekaterinodar bzw. der GlossarNordregierung in Archangelsk, der GlossarKonstitutionelle Demokrat (Kadett) GlossarN. I. Astrov und der gemäßigte GlossarVolkssozialist GlossarN. V. Čajkovskij, in Abwesenheit gewählt worden und lehnten nachträglich eine Mitwirkung im Direktorium ab. Da überdies der als Stellvertreter vorgesehene populäre General GlossarM. V. Alekseev am 8. Oktober 1918 bei einem Gefecht fiel, fehlte der "Koalition" von Beginn an eine personelle Verankerung in zwei wichtigen Zentren der sehr brüchigen Front gegen Sowjetrußland. Somit bestand die Regierung unter dem Vorsitz des gemäßigten GlossarSozialrevolutionärs GlossarN. D. Avksent’ev aus dem Konstitutionellen Demokraten GlossarV. A. Vinogradov, dem ehemaligen Sozialrevolutionär und späteren Parteigänger der Kadetten GlossarP. V. Vologodskij, dem Sozialrevolutionär GlossarV. M. Zenzinov sowie dem parteilosen General GlossarV. G. Boldyrev. Formal hatten sich also die Befürworter einer kollektiven Führung gegen die Anhänger einer Diktatur durchgesetzt. Einem wirklichen Konsens stand jedoch entgegen, daß die Sozialisten (Sozialrevolutionäre, Vertreter der GlossarRegionalduma Sibiriens, des GlossarBundes der Städte und ländlichen Selbstverwaltungsorgane sowie einzelne GlossarMenschewiki) darauf beharrten, daß die Anfang 1918 von den GlossarBolschewiki aufgelöste GlossarKonstituierende Versammlung (Konstituante) einzige Legitimationsbasis einer Regierung für ganz Rußland sei. Dies sollte allerdings nur gelten, wenn bis zum 1. Januar 1919 ein Quorum von 250 Mitgliedern der Konstituierenden Versammlung (d. h. etwas mehr als ein Drittel der 703 gewählten Abgeordneten) erreicht werden konnte. Doch auch im anderen Fall wäre noch der Ausweg geblieben, bis zum 1. Februar 1919 wenigstens 170 Deputierte (knapp ein Viertel) zu versammeln, um dieser umstrittenen Lösung zum Sieg zu verhelfen. Ungeachtet dieser Vereinbarung trafen sich jedoch parallel zur Staatskonferenz in Ufa etwa hundert sozialrevolutionäre Mitglieder der Konstituante in Ekaterinburg und erklärten gemeinsam mit dem Großteil der Führung des GlossarKomitees der Mitglieder der Konstituierenden Versammlung (Komuč), das sich als legitime Repräsentanz der Konstituante ausgab, daß sie alle Beschlüsse der Staatskonferenz und des Direktoriums nicht anerkennen würden. Dieser innere Bruch schwächte das sozialistische Lager gegenüber den erstarkenden Nationalkonservativen, um die sich in Omsk militärische Kräfte scharten. Dadurch gelang es der noch nicht aufgelösten GlossarProvisorischen Regierung Sibiriens, dem Direktorium den Zugriff auf beträchtliche Finanzmittel zu verwehren, die nicht zuletzt zum Aufbau einer funktionsfähigen Verwaltungsstruktur benötigt wurden.

Die Gruppen des rechten Flügels aus Vertretern der Provisorischen Regierung Sibiriens, der Konstitutionellen Demokraten (Kadetten), der GlossarKosaken und der sozialdemokratischen Gruppe Glossar"Edinstvo" hatten in Ufa die Rückbindung an die "alte" Konstituante zwar nicht verhindern können, hielten diese aber weiterhin für nicht mehr repräsentativ. Als das Direktorium wenig später vor der Roten Armee nach Omsk, in die Hauptstadt der Konservativen und der radikalen Rechten Sibiriens, ausweichen mußte, engte sich sein Handlungsspielraum noch mehr ein. Mit seinen programmatischen Leitsätzen identifizierte sich kein Lager vorbehaltlos, weil sie nicht als Kompromiß ausgehandelt worden waren und deshalb trotz des offenkundigen Bemühens um eine Ausbalancierung der Interessen und eine Mäßigung radikaler Forderungen letztlich niemanden zufrieden stellte. Die Autoren hatten schwer vereinbare Forderungen der beiden Hauptflügel nur lose aneinander gereiht. Beispielsweise sollte es einer "entpolitisierten" Armee unter der Führung von – meist antisozialistisch eingestellten Offizieren – obliegen, für "Demokratie", bürgerliche Freiheiten, Recht und Ordnung, Glossarregionale Autonomie und Glossar"national-kulturelle Selbstbestimmung" zu kämpfen. Die einen befürchteten eine Neuauflage des wenig entschlußfreudigen GlossarKerenskij-Regimes von 1917. Andere verglichen die Staatskonferenz von Ufa mit der äußerlich prunkvolleren, im Ergebnis aber folgenlosen GlossarMoskauer Staatskonferenz vom August 1917.

In der Wirtschaftspolitik standen sozialrevolutionäre Positionen neben Bekenntnissen zu einem privaten Unternehmertum und zu ausländischen Investitionen. Der Staat sollte auf das Getreidemonopol mit Fixpreisen verzichten, die Kontrolle über Industrie und Handel sowie über die Verteilung von Mangelprodukten aber beibehalten. Die Bauern erhielten das Nutzungsrecht für das von ihnen bestellte Land, wurden aber zugleich auf eine endgültige Lösung der Bodenfrage durch die Konstituierende Versammlung vertröstet. Die Passagen über die Arbeiterpolitik spiegeln einerseits unverhohlene Kritik an den ruinösen Zuständen in den Fabriken bzw. an den Folgen der revolutionären Selbstverwaltung der Betriebe durch die Beschäftigten. Andererseits ist der Versuch erkennbar, zwischen Unternehmer- und Arbeiterinteressen zu vermitteln.

Das Direktorium von Ufa bildete eine kurzlebige, aber wegweisende Etappe antibolschewistischer Herrschaftsbildung im Bürgerkrieg. Mit ihm erreichte der Einfluß der Mehrheitspartei der Sozialrevolutionäre einen letzten Höhepunkt, bevor sie im Herbst 1918 vollends von den Epizentren der Macht verdrängt wurde. Das Ziel des im Frühjahr 1918 im Moskauer Untergrund entstandenen GlossarBundes für die Wiedergeburt Rußlands, unter der Führung der Sozialisten eine breite Einigungsbewegung aller nichtbolschewistischen Kräfte und mit dieser einen Ring von Gegenregierungen um das von den Bolschewiki gehaltene Kerngebiet Rußlands zu schaffen, traf in den Regionen nicht auf die erhoffte Unterstützung. Im Süden blieb das Echo sogar gänzlich aus. Doch auch die im Sommer 1918 noch möglich erscheinende militärische Frontlinie vom Weißen Meer im Norden über die Wolga-Ural-Region bis nach Sibirien konnte nicht geschlossen werden. Auf diese Weise blieben den Sozialrevolutionären lediglich wenige Wochen, um ihr Konzept einer "russischen revolutionären Demokratie" auf einem begrenzten Territorium an der Mittleren Wolga erproben zu können, bevor die Rote Armee das Gebiet wieder unter ihre Kontrolle brachte. Bereits zwei Tage nach Beginn der Staatskonferenz war Kazan’ wieder in die Hände der Bolschewiki gefallen. Simbirsk folgte wenig später. Die Flucht des Direktoriums ins westsibirische Omsk war bereits ein Zugeständnis an die Konservativen. Doch wäre auch ein Umzug nach Ekaterinburg prekär gewesen, weil dort der erwähnte Kongreß der Mitglieder der Konstituante und die mit den Sozialrevolutionären sympathisierende Tschechoslowakische Legion dem Kompromiß von Ufa ablehnend gegenüber standen. In Omsk bereitete ein Putsch unter Admiral GlossarA. V. Kolčak am 18. November 1918 dem Direktorium ein Ende. Führenden Mitgliedern der sozialistischen Parteien wurde nach der Inhaftierung das Exil aufgezwungen, während die Organisationen fortan kaum weniger entschieden bekämpft wurden wie die Bolschewiki. Die Diktatur des Admirals genoß trotz Vorbehalten mehr Unterstützung seitens der alliierten Interventionsmächte als andere Gegenregierungen. Auch die Südregierung unter General GlossarA. I. Denikin sah sich schließlich zu einer formellen Anerkennung Kolčaks als Obersten Regenten gedrängt. Damit war Omsk zum Zentrum des Kampfes gegen die Bolschewiki geworden.

Das Komuč war damit endgültig mit dem Versuch gescheitert, die "alte" Konstituante wiederzubeleben und eine legitime Nachfolgebehörde für die im Oktober 1917 gestürzte Provisorische Regierung zu schaffen. Das Konzept der Sozialrevolutionäre von einer genuin russischen demokratischen Alternative zu den Bolschewiki hatte sich unter den Bedingungen des eskalierenden Bürgerkriegs als illusorisch erwiesen. Zum eine zeigte sich die Partei der militärischen Entschlossenheit und dem Rigorismus sowohl der Bolschewiki auf der Linken als auch der staatsorientierten Kräfte auf der Rechten organisatorisch unterlegen. Zum anderen mangelte es ihrer Strategie eines "dritten Weges" zwischen Glossar"roter" und Glossar"weißer" Diktatur an einer kritischen Einschätzung der Gegebenheiten. Selbst in den Hochburgen an der Mittleren Wolga verweigerten ihnen die Bauern die Gefolgschaft, wenn sie für ein abstraktes Ziel wie die Wiedereinberufung der Konstituierenden Versammlung mobilisiert werden sollten oder wenn die sozialistische Regierung von Samara eine Revision der "wilden" Landaneignungen ankündigte, mit der die Anarchie in der Landwirtschaft und die sinkende Produktivität bekämpft werden sollte. Ohne aktive bäuerliche Massenbasis besaßen die Sozialrevolutionäre aber keine Startvorteile gegenüber den vielen konkurrierenden Kräften um die Vorherrschaft im Kampf gegen die Bolschewiki. Sie mußten sich schließlich dem militärischen Übergewicht der in Sibirien formierten Regionalmacht beugen.

Die Gründungsakte von Ufa spiegelt den komplexen Prozeß der politischen Machtbildung und der programmatischen Orientierung nach dem revolutionären Zerfall des Zarenreiches in einer der wichtigsten Regionen des russischen antibolschewistischen Widerstands. Da keine Einigung auf einen Minimalkatalog aktueller Aufgaben erreicht worden war, lasen die zerstrittenen Gruppen nur das aus dem Dokument heraus, was ihren eigenen Interessen entsprach. Die Auflösung der alten Parteibindungen beschleunigte sich. Die bereits im November 1917 in einen kleineren linken und in einen mehrheitlichen rechten Flügel zerbrochenen Partei der Sozialrevolutionäre stürzte in weitere Fraktionskämpfe. Wenn bereits die am 24. September 1918 von der Roten Armee aus Samara vertriebene sozialrevolutionäre Regierung den Radikalen in den eigenen Reihen als zu wenig revolutionär und den Gemäßigten als zu radikal erschienen war, so geriet erst recht das Direktorium von Ufa zwischen alle Fronten. Ein führender Sozialrevolutionär, GlossarA. A. Argunov, beschrieb die fortschreitende Radikalisierung des Bürgerkriegs vereinfachend mit den Worten, die Sozialisten hätten sich in einem Abwehrkampf gegen "zwei Bolschewismen" befunden, nämlich gegen die linke Tyrannei der Bolschewiki und gegen die rechte Militärdiktatur der Glossar"staatlichen Kräfte". Die zwischen diesen Polen angenommene Mitte hatten die Sozialrevolutionäre allerdings weder programmatisch ausfüllen noch organisatorisch stabilisieren können.

Nikolaus Katzer