Beschluß des Präsidiums des Zentralen Exekutivkomitees (CIK) der UdSSR über die Ordnung des Gerichtsverfahrens in Fällen der Vorbereitung bzw. Verübung von Terrorakten und über Veränderungen in den geltenden Strafprozeßbüchern der Unionsrepubliken, 1. Dezember 1934

Einführung

I. Das Attentat auf S.M. Kirov und die Entstehungsgeschichte des Beschlusses.

Am 1. Dezember 1934 wurde im Smol'nyj, dem Sitz des Leningrader GlossarStadtsowjets, GlossarSergej Mironovič Kirov ermordet – der erste Sekretär des Leningrader GlossarGouvernementkomitees der VKP(b) und des Nord-West-Büros des GlossarCK der VKP(b), Sekretär des CK und Mitglied des GlossarPolitbüros, Präsidiumsmitglied des GlossarCIK der UdSSR, einer der engsten Weggenossen GlossarStalins und ein in der Partei überaus populärer Politiker.

In der Folgezeit versuchte Stalin zu beweisen, daß Kirov einer "trotzkistischen Verschwörung" zum Opfer fiel. Im Gegensatz dazu vertrat GlossarTrockij seine eigene Ereignisversion, die Stalin als Drahtzieher des Mordes sah. Auf dem XX. Parteitag 1956 bestätigte Stalins Nachfolger GlossarNikita Sergeevič Chruščev diese Version. Er sprach von "Beihilfe zum Mord" und von schlecht organisierter Bewachung des Leningrader Parteioberhaupts. Chruščevs Interpretation, für die keine zuverlässigen Beweise vorlagen, wurde von einigen Historikern übernommen (Volkogonov). Sie sahen in Kirov einen Rivalen Stalins um die Führungsrolle in der Partei und gaben dem sowjetischen Führer die direkte oder indirekte Schuld an dessen Ermordung. Für die Interpretation des CIK-Beschlusses vom 1. Dezember 1934 hatte es zur Folge, daß er als weiterer Schritt zur Entfaltung eines von langer Hand geplanten Terrors betrachtet wurde. Dieser Interpretation widersprechen Historiker, die der Ansicht sind, Stalin habe nur die Gunst der Stunde nach dem Kirov-Mord genutzt, um eigene politische Ziele durchzusetzen, und beim Beschluß handle es sich um eine improvisierte, spontane Maßnahme (Kirilina).

Auf die eingetroffene Nachricht von der Ermordung Kirovs reagierte die Partei- und Staatsführung mit Sofortmaßnahmen. Unverzüglich wurde eine Untersuchungskommission aus hochrangigen Parteiführern gebildet, die am gleichen Tag unter strengster Bewachung nach Leningrad fuhr. Der Beschluß des GlossarPräsidiums der CIK der UdSSR wurde verabschiedet, noch bevor die Gruppe ihre Reise antrat; am 4. Dezember 1934 wurde er in der Glossar"Pravda" abgedruckt.[1] Stalin persönlich nahm an der Niederschrift des Beschlusses teil. Die genaue Kenntnis seiner Entstehungsgeschichte spricht jedoch gegen die These, er habe das Dokument im voraus – während der Planungen für den Mord an Kirov – vorbereitet. Der Beschluß wurde in Eile verfaßt; seine Formulierungen waren undurchdacht und zielten weniger auf praktische Umsetzung als auf propagandistische Wirkung; die Veröffentlichung des Textes in der Presse war nicht einmal betitelt. Erst ein paar Tage später, nachdem sich die Situation im wesentlichen geklärt hatte, wurde der Beschluß "Über Veränderungen in den geltenden Strafprozeßbüchern der GlossarUnionsrepubliken" verfaßt, der das erste Dokument deutlich konkretisierte. Dieser Text wurde ebenfalls auf den 1. Dezember datiert, jedoch erst am 5. Dezember 1934 in der "Pravda" veröffentlicht.[2]

Ein Vergleich der beiden Texte vom 1. Dezember 1934 zeigt, daß die Autoren des Beschlusses versuchten, die "zweite Fassung", die am 5. Dezember veröffentlicht wurde, in Einklang mit juristischen Normen der Zeit zu bringen. Sie wurde sorgfältig juristisch überprüft. Während die "erste Fassung" vom 1. Dezember ein Schnellverfahren für die Abwicklung der Untersuchung in Terrorfällen vorsah, wurde in der "zweiten Fassung" bereits eine konkrete Frist genannt, innerhalb deren diese Untersuchung zu erfolgen hatte – "nicht mehr als zehn Tage". Außerdem enthielt sie einen weiteren Satz, der die Einsicht der Anklageschrift durch den Angeklagten vorsah, unter dem Vorbehalt jedoch, daß dies erst 24 Stunden vor der Verhandlung des Falles im Gericht geschehen solle. Daß der Beschluß einen außerordentlichen Charakter trug, bestätigt der Satz, daß der jeweilige Fall ohne Anhörung der beiden Seiten vor Gericht verhandelt werden solle. Noch vergleichsweise strenger wurde die Frage eines Kassations- und Begnadigungsverfahren in solchen Fällen ausgelegt. (Die "erste Fassung" sah für das Berufungsverfahren keine Regelung vor.) Die "erste Fassung" schloß die Annahme von Gnadengesuchen aus und schrieb den Gerichtsorganen vor, "die Vollstreckung der Urteile zur Höchststrafe in Anbetracht von Gnadengesuchen der Verbrecher dieser Kategorie nicht hinauszuschieben". (Obwohl die Vollstreckung dieser Beschlüsse nicht in den Zuständigkeitsbereich der Gerichtsorgane fiel; es handelte sich also um eine juristische Ungenauigkeit.) In der "zweiten Fassung" hieß es dann bereits, daß weder die Einreichung von Gnadengesuchen noch Kassationseinsprüche gegen das Urteil zugelassen sind. In beiden "Fassungen" wurde festgelegt, daß das Urteil zur Höchststrafe unverzüglich nach der Urteilsverkündung zu vollstrecken sei. Die aufgrund des Beschlusses vom 1. Dezember 1934 erfolgte Änderung der Strafprozeßordnung blieb bis 1956 in Kraft.

Die Meinungen der Forschung über das Ziel, das die politische Führung mit dem Beschluß verfolgte, gehen auseinander. Wenn Stalin der Organisator des Mordes an Kirov war, meinen die einen, daß er dieses Dokument brauchte, um die ungewünschten Zeugen zu beseitigen. Wenn die Tragödie im Smol'ny für Stalin unerwartet kam, glauben die anderen, daß der Beschluß es gestattete, Massenrepressionen gegen alle Verdächtigen zu organisieren, auch wenn dabei Unschuldige in Mitleidenschaft gezogen worden wären. Worum es hauptsächlich ging, war, daß kein "Teilnehmer des terroristischen Untergrundes" unbestraft davon kam. In der Tat spricht vieles dafür, daß die Führung mit dem Beschluß versuchte, die Aktionen des "terroristischen Untergrunds", die – wie man im Kreml annahm – mit dem Kirov-Mord begannen, zu unterdrücken und die Opposition, nachdem ihre Verbindung zu diesem Untergrund bewiesen war, zu zerschlagen.

Der Mord an Kirov war und ist, für Zeitgenossen wie für Historiker, von so vielen Rätseln umgeben, daß er verschiedene Interpretationen zuläßt.

Das Attentat wurde vom ehemaligen Parteifunktionär GlossarLeonid Nikolaev verübt. Im Oktober wurde er in der Nähe von Kirovs Wohnung festgenommen. Er erklärte seinen Besuch mit dem Wunsch, eine Arbeit in einer Führungsposition zu finden. Obwohl er einen Revolver bei sich hatte, ließ man ihn frei, denn es konnte nachgewiesen werden, daß er diesen seit dem Bürgerkrieg rechtmäßig besitzt. Dennoch ist bekannt, daß er die Mordpläne bereits einige Monate mit sich herumgetragen hat. Am 1. Dezember 1934 bemühte sich Nikolaev im Smol'nyj vergebens um eine Eintrittskarte für die Versammlung des Parteiaktivs, in der Kirov eine Rede halten sollte. Daß dieser am gleichen Tag sein Arbeitszimmer in Smol'nyj aufsuchen sollte, war nicht geplant. Kirov änderte jedoch seine Pläne und kam doch für eine kurze Zeit vorbei. Alles konnte also sowohl nach einer Reihe von Zufällen als auch nach einer Verschwörung aussehen.

Der Verdacht, daß es sich dabei um eine "Verschwörung" handeln könnte, die entweder von Stalin oder von der Opposition organisiert wurde, verdichtete sich aufgrund des Unfalltodes von Kirovs Wachmann GlossarBorisov. Er starb am 2. Dezember 1934 infolge eines Autounfalls auf dem Weg zu seiner Vernehmung. Diesen Verdacht erhärtete auch Chruščev, der in seinem Schlußwort auf dem XXII. Parteitag der GlossarKPSS darauf hinwies, daß Borisovs Tod offensichtlich kein Zufall gewesen war. In den 1960er Jahren untersuchte eine Kommission des Politbüros des CK der KPSS diesen Vorfall. 1991 nahm sich der GlossarOberste Gerichtshof seiner an. In der jüngsten Zeit prüfte die Historikerin A.Kirilina die "Verschwörungsversion" und kam zu einem negativen Befund, es habe sich bei Borisovs Tod um einen tragischen Unfall gehandelt.

Diejenigen jedoch, die im Dezember 1934 die Untersuchung im Kirov-Mord leiteten und durchführten, mochten nicht an einen Zufall glauben. Als Erklärung bemühten sie eine "trotzkistisch-zinov'evistische Verschwörung". Die Untersuchung verfolgte auch andere Spuren, darunter "ausländische" und "weißgardistische". Bald nach dem Attentat wurden 103 Weißgardisten erschossen. Stalin zeigte sich darüber unzufrieden. Der Sekretär des CK der VKP(b) GlossarN. Ežov erzählte, daß Stalin ihn und GlossarKosarev zu sich bestellte und sagte, daß man die Kirov-Mörder unter den GlossarZinov'ev-Anhängern suchen müsse.

Stalin verhörte Nikolaev persönlich. In den Verhören begegneten er und die an der Aufklärung des Falls beteiligten Untersuchungsführer einem Menschen, der in einer schlechten psychischen Verfassung war – alle fünf Minuten hatte er hysterische Anfälle, denen eine Phase der Abgestumpftheit folgte, in der er stillschweigend da saß und auf eine Stelle starrte. Nikolaev behauptete, er habe das Attentat alleine vorbereitet und niemand sei in seine Pläne eingeweiht gewesen. Beim Verhör am 1. Dezember nannte der Attentäter als Motive für seine Tat Entfremdung von der Partei, Arbeitslosigkeit und Mangel an materieller Unterstützung seitens der Parteiorganisationen. Nikolaev hoffte, daß sein Schuß zu einem politischen Warnsignal für die Partei werde und sie darauf aufmerksam mache, wie rechtswidrig manche Funktionäre einen Menschen behandelten. Nikolaevs Einträge in sein privates Tagebuch sprachen dafür, daß seine Grundmotive sozialer Natur waren. Ja, Nikolaev war verzweifelt. Seine persönlichen Motive gingen in politische über. So schrieb er in seinem "Politischen Testament" ("Meine Verantwortung vor der Partei und dem Vaterland"), daß er als Soldat der Revolution keine Todesangst empfinde, daß er zu allem bereit sei und Vorbereitungen treffe wie einst GlossarA. Željabov – der Führer der Terrororganisation Glossar"Volksfreiheit". Folgt man den Berichten des GlossarNKVD, so waren zu diesem Zeitpunkt unter den Personen, die den Mitgliedern der "Volksfreiheit" nacheiferten, Terrorstimmungen verbreitet. Aus den gleichen Berichten ging außerdem hervor, daß es ebenso viele gab, die die schweren Jahre der Revolution und des Bürgerkrieges überlebten, danach im politischen Tagesgeschäft keine Verwendung für sich fanden und aus diesem Grund verbittert aus dem inneren Gleichgewicht geraten waren. Bedenkt man zugleich, daß nach dem Bürgerkrieg viele politisch aktive Anhänger der kommunistischen Opposition bewaffnet waren, so war die Gefahr von Terrorakten durchaus real. Die Parteiführung war seit langem davor gewarnt worden.

Wenn hinter Nikolaev eine "Organisation" gestanden haben sollte, so wären die Zinov'ev-Anhänger diejenigen gewesen, die für diese Rolle am besten gepaßt hätten. Nikolaev wiederholte in vielen Punkten die Parolen der Glossarlinken Opposition, die in Leningrad in erster Linie durch Zinov'ev-Anhänger vertreten wurde. Natürlich konnte Nikolaev auch auf eigenem Wege zu den gleichen Schlußfolgerungen gelangt sein wie die Linken. Denjenigen, die ihn verhörten, schien es jedoch logischer, daß seine ideelle Entwicklung unter dem Einfluß der oppositionellen Ansichten stattfand, die in der nördlichen Hauptstadt im Umlauf waren. Solange Nikolaev mit seinem Leben zufrieden war, unterstützte er, wie auch die Mehrheit im Parteiaktiv, die stalinsche "Generallinie". Nachdem er mit Alltagsproblemen konfrontiert war, wurde er für die Argumente der Opposition empfänglich und sprach sie nach. Nach den Jahren des ersten Fünfjahresplanes durchlebten Millionen von Menschen diese Entwicklung. Auch wenn keine Terrororganisation bestanden haben sollte, so gab es dennoch ein organisiertes oppositionelles Milieu, das Fanatiker und Terroristen hervorbringen konnte.

Der Untersuchungsgruppe unter der Führung des stellvertretenden GlossarVolkskommissars für Innere AngelegenheitenGlossarJa. Agranov war es gelungen, Nikolaev zu überzeugen, daß er noch eine weitere wichtige "Mission" zu erfüllen hatte – nämlich die Zerschlagung der Zinov'ev-Anhänger. Nikolaev gehörte nicht zur Opposition – sein Haß auf Kirov schloß seinen Haß auf GlossarZinov'ev nicht aus. Am 6. Dezember 1934 war die Untersuchung mit der Rekonstruktion des Tathergangs soweit: Nikolaevs Handlungen seien von zwei Zentren aus gesteuert worden – aus Leningrad und aus Moskau. An der Spitze des "Moskauer Zentrums" seien Zinov'ev und GlossarKamenev gestanden. Ebenfalls am 6. Dezember 1934 bestätigte Nikolaev, dessen Geständnisse während der gesamten Untersuchung von Selbstmordversuchen abgelöst wurden, daß der bekannte Anhänger Zinov'evs GlossarI. Kotolynov und der GlossarTrotzkist GlossarN. Šatskij an der "Verschwörung" beteiligt gewesen seien. Nach dem 8. Dezember wurde Nikolaevs Widerstand entgültig "gebrochen" und er begann über die "Gruppen" von Kotolynov und Šatskij auszusagen, die das Attentat auf Kirov vorbereitet haben sollen. Nun setzten in Nikolaevs Bekanntenkreis Verhaftungen ein.

Allmählich entstand in den Untersuchungsakten ein "Leningrader Zentrum", dem das NKVD in der Anfangsphase der Untersuchung 14 Personen zurechnete. Als Leiter dieses Zentrums wurde Kotolynov ausgemacht – bis 1925 ein führendes Mitglied des Leningrader Komsomol, seit 1928 Leiter des Parteibüros seiner Fakultät an der Leningrader Hochschule für Industrie, ein Anhänger Zinov'evs, der den Kontakt zu der Gruppe seiner Gesinnungsgenossen aufrecht erhielt.

Die Voraussetzung am Leben zu bleiben, war die vollständige "Entwaffnung vor der Partei". Kotolynov demonstrierte auf jede nur erdenkliche Art, daß er nichts zu verbergen habe. In aller Ausführlichkeit erzählte er vom politischen Untergrund. Er legte kein Mordgeständnis ab; er versuchte zu beweisen, daß er in den 1930er Jahren so gut wie keinen Umgang mit Nikolaev hatte und gab lediglich die politische und moralische Verantwortung der Zinov'ev-Bewegung für Nikolaevs Stimmungen zu. Beim Prozeß am 28./29. Dezember bestätigte Kotolynov erneut seine moralische Verantwortung, nicht aber seine Beteiligung am Mord. Drei von 14 Personen, die dem "Leningrader Zentrum" zugerechnet wurden, waren bereit, die Teilnahme am Attentat einzugestehen, um auf diese Weise ihr Leben zu retten. Andere Verhaftete gestanden sofort, zur oppositionellen Untergrundsgruppe der Zinov'ev-Anhänger zu gehören, leugneten jedoch jede Mittäterschaft, wobei sie allerdings bestätigten, daß die Führer ihrer Organisation ständig darauf hinwiesen, daß das ganze Übel von der heutigen Führung unter Stalin, GlossarMolotov, GlossarKaganovič und Kirov ausgehe.

Am 10. Dezember setzten die Verhaftungen unter den Mitgliedern der Opposition ein, die mit Nikolaev nicht persönlich bekannt waren. Am 16. Dezember 1934 wurden Zinov'ev und Kamenev unter Arrest genommen. Bis zum 23. Dezember befanden sich alle Beteiligten der "Zinov'ev-Organisation" in Haft. Insgesamt wurden 843 Zinov'ev-Anhänger verhaftet. Bei diesen wurden Flugblattarchive, GlossarLenins Glossar"Politisches Testament", die Glossar"Rjutin-Plattform" und Waffen gefunden – die sie, oft ohne offizielle Registrierung, seit der Zeit des Bürgerkrieges besaßen. In Leningrad wurden weitere Zinov'ev-Anhänger, die nicht dem "terroristischen Zentrum" zugerechnet wurden, im GlossarVerfahren gegen die "Leningrader konterrevolutionäre Safarov-Zaluckij-Gruppe" abgeurteilt.

Am 18. Dezember wurde ein Geheimbrief des CK der VKP(b) mit dem Titel "Die Lehre der Ereignisse, die mit dem Meuchelmord an Genossen Kirov verbunden sind" an die Parteiorganisationen verschickt. Darin hieß es über die Zinov'ev-Anhänger, daß sie den Weg der Doppelzüngigkeit in ihrem Umgang mit der Partei beschritten hätten, gegen den Doppelzüngler könne man aber nicht nur mit einem Parteiausschluß vorgehen. Um ihn daran zu hindern, die Stärke der proletarischen Diktatur zu untergraben, müsse er verhaftet und isoliert werden.

Auch auf dem Gebiet der Propaganda und der Agitation war die Entscheidung für die Wahl des "Täters" gefallen. Am 17. Dezember 1934 klärte die "Pravda" ihre Leser darüber auf, daß Kirovs Mörder vom "Abschaum" der ehemaligen Opposition um Zinov'ev geschickt wurden. Seit dem 18. Dezember bezeichnete die Presse Zinov'ev und Kamenev nur noch als "faschistisches Gesindel". Wiederholt sprach sie von der "Doppelzüngigkeit" der Zinov'ev-Anhänger und der Trotzkisten, die ihren Bruch mit der Opposition erklärt hatten, in Wirklichkeit aber ihre oppositionelle Tätigkeit fortsetzten.

Nikolaev verwickelte sich bei seinen Aussagen häufig in Widersprüche, doch das NKVD ließ dies außer Acht, denn man mußte möglichst schnell einen Rechenschaftsbericht über die Entdeckung einer "Verschwörung" unter den Oppositionellen vorlegen. Da Stalin endgültig daran glaubte, daß die "Verschwörungs"-Version des Attentats die richtige war, brauchte er sich ebenfalls nicht mit der Sache eingehender auseinanderzusetzen. Das Urteil im Fall der Ermordung Kirovs war bereits im voraus gefallen. Möglicherweise sah Stalin, nachdem die Untersuchung abgeschlossen worden war, ein, daß die Leningrader Zinov'ev-Anhänger nicht die Drahtzieher des Attentats waren. Doch die Maschine des Terrors war bereits in Gang gebracht. Jetzt auf die Bremse zu treten, hätte den Triumph der unschuldigen Zinov'ev und Kamenev und die Erniedrigung Stalins bedeutet. Es hätte zudem Stalin der Möglichkeit beraubt, mit einem Milieu abzurechnen, das radikale Stimmungen und letzten Endes Terrorismus hervorbrachte. Stalin beschloß daher, die Offensive fortzusetzen. Alle Angeklagten wurden erschossen. In den ersten zweieinhalb Monaten nach der Ermordung Kirovs verhaftete das NKVD allein in Leningrad 843 Personen.[3]

Der Kirov-Mord war der unmittelbare Anlaß zur Verabschiedung des Beschlusses vom 1. Dezember 1934. Das Strafverfahren in diesem Fall wurde eines der ersten in der juristischen Praxis der Sowjetunion, das sich auf den Beschluß vom 1. Dezember 1934 stützte.[4] Der Beschluß führte in die Strafprozeßordnung das gerichtliche Schnellverfahren ein, das während des Großen Terrors Anwendung fand.

Natalija Gerulajtis (Übersetzung aus dem Russ. von L. Antipow)

II. Die rechtsnormative und rechtspraktische Bedeutung des Beschlusses.

Die historische Bedeutung des Beschlusses vom 1. Dezember 1934 ergibt sich aus seinem rechtsnormativen Inhalt und seiner tatsächlichen Anwendung in der Rechtspraxis des stalinistischen Staates. Beide Aspekte sollen hier näher betrachtet werden. Im Folgenden wird daher auf die Änderung der Strafprozeßordnung aufgrund des Beschlusses eingegangen und die Rechtslage vor und nach der Änderung miteinander verglichen (1), die Rechtspraxis vor der Änderung und die tatsächliche Anwendung der Änderung untersucht (2) und die Bedeutung dieser Änderung und des Beschlusses für den stalinistischen Staat dargelegt (3) werden.

1. Rechtsnormativer Inhalt.

Der Beschluß des Präsidiums des CIK vom 1. Dezember 1934 führte zu entsprechenden Änderungen in den Strafprozeßordnungen der Unionsrepubliken. Die Strafprozeßordnung (StPO) der RSFSR in der revidierten Fassung vom 15. Februar 1923[5] wurde durch Anordnung des GlossarVCIK und des GlossarSNK der RSFSR vom 10. Dezember 1934 um die Artikel 466 bis 470 erweitert:

Art. 466 StPO legte fest, daß das Ermittlungsverfahren in Sachen wegen terroristischer Organisationen und wegen Terrorakten gegen Arbeiter der Sowjetmacht spätestens binnen zehn Tagen abgeschlossen sein muß. Außerdem erfolgte durch einen Verweis auf die Artikel 588 und 5811 des Strafgesetzbuches der RSFSR (StGB)[6] die rechtlich Konkretisierung der im Beschluß vom 1. Dezember 1934 genannten Fälle "terroristischer Organisationen und terroristischer Akte gegen Funktionäre der Sowjetmacht". Die Verschärfung der Strafprozeßordnung sollte nur auf die in Art. 588 und 5811 genannten Fälle Anwendung finden. Während sich Art. 588 StGB auf terroristische Handlungen gegen Vertreter der Sowjetmacht oder Leiter revolutionärer Organisationen bezog, umfaßte Art. 5811 in dem Zusammenhang die organisierte Tätigkeit der Vorbereitung und Begehung solcher Taten.[7]

Art. 467 StPO regelte, daß die Aushändigung der Anklageschrift an den Angeklagten 24 Stunden vor der gerichtlichen Verhandlung zu erfolgen hatte, Art. 468 StPO, daß die Sachen nur in Abwesenheit der Parteien verhandelt werden durften, Art. 469 StPO, daß eine Kassationsbeschwerde gegen das Urteil sowie die Einreichung eines Gnadengesuches nicht zulässig war und Art. 470 StPO, daß ein auf das höchste Strafmaß lautendes Urteil unverzüglich nach Erlaß des Urteils zu vollstrecken war.[8]

Das Strafverfahren für Fälle nach Art. 588 und 5811 StGB vor der Änderung der StPO durch den Beschluß vom 1. Dezember 1934 sah folgendermaßen aus.

a) Frist für Ermittlungsverfahren (Art. 466 StPO)

Für Verbrechen nach Art. 588 und 5811 StGB, also Staatsschutzverbrechen, waren, gemäß Art. 2 des Beschlusses des CIK vom 10. Juli 1934 über die Eingliederung der GlossarOGPU in das NKVD[9], das GlossarMilitärkollegium des Obersten Gerichtshofes der UdSSR und die Bezirks-GlossarMilitärtribunale zuständig. Für Verfahren vor GlossarMilitärgerichten galt die Militärtribunal- und Militärstaatsanwaltschaftsordnung (MilTribO) vom 20. August 1926, die, bis auf wenige Ausnahmen, ihrerseits in Art. 28 auf die Regelungen für Strafverfahren vor den GlossarGouvernementgerichten und somit auf die "zivile" Strafprozeßordnung verwies.[10] Ein Strafprozeß bei schwereren Straftaten vor dem Militärtribunal lief nach einem dreistufigen Verfahren ab: 1. Ermittlungsverfahren durch einen Untersuchungsführer und Übergabe des Ergebnisses an die GlossarMilitärstaatsanwaltschaft, die dann ggf. Anklage erhob, 2. Zwischenverfahren mit der Entscheidung über die Eröffnung eines Hauptverfahrens, 3. Hauptverfahren.[11] Gemäß Art. 2 des Beschlusses des CIK vom 10. Juli 1934 lag die Ermittlung in Staatsschutzangelegenheiten allein beim NKVD, ein Staatsanwalt oder Untersuchungsrichter wurde nicht tätig. Die Ermittlungsfrist betrug nach Änderung der Militärtribunalordnung vom 30. Januar 1929[12] vierzehn Tage[13], im Prozeß nach der StPO ein Monat.[14]

b) Anklageschriftaushändigung (Art. 467 StPO)

Dem Angeklagten war in Strafverfahren vor Gouvernementgerichten[15] und somit auch in Verfahren vor Militärgerichten[16] die Anklageschrift drei Tage vor der Hauptverhandlung zuzustellen.

c) Parteienabwesenheit (Art. 468 StPO)

Die Abwesenheit des Angeklagten war in Strafverfahren vor Gouvernementgerichten und vor Militärtribunalen nur ausnahmsweise bei Aufenthalt des Angeklagten außerhalb der Sowjetrepublik[17] und bei Nichterscheinen[18] möglich. Die Anwesenheit der Verteidigung sollte hingegen nur notwendig sein, wenn die Staatsanwaltschaft gleichermaßen am Verfahren teilnahm, je nach Wichtigkeit der Sache[19], außerdem konnte das Gericht einen Verteidiger jederzeit als ungeeignet ablehnen.[20]

d) Nichtzulassung von Kassationsbeschwerde und Gnadengesuch (Art. 469 StPO)

Kassationsbeschwerden waren im Strafprozeß und in Militärtribunalverfahren in Friedenszeiten innerhalb 72 Stunden einzureichen.[21] Bei Militärtribunalverfahren in Zeiten des Kriegszustandes in Gegenden mit Kriegshandlungen waren hingegen Kassationsbeschwerden ausgeschlossen.[22]

Die Möglichkeit, ein Gnadengesuch beim CIK bzw. ab 1937 beim GlossarObersten Sowjet der UdSSR einzureichen, war grundsätzlich allen von ordentlichen Gerichten Verurteilten gegeben.

e) Unverzügliche Exekution (Art. 470 StPO)

Die Vollstreckung des höchsten Strafmaßes, d.h. die Erschießung, durfte bei politischen Strafsachen grundsätzlich erst nach der Bestätigung durch eine Kommission des Politbüros (ab 1934: Glossar"Kommission des Politbüros des CK VKP (b) für Gerichtssachen") erfolgen. Allerdings galten für diese Regelung zahlreiche Ausnahmen. So blieben etwa Todesurteile, die GlossarOGPU-Trojkas 1930-1934 oder die außergerichtlichen Organe verhängten, davon unbetroffen.[23]

Todesurteile von Militärtribunalen im Kriegszustand durften erst nach Bestätigung durch das Militärkollegium bzw. durch die Kriegsräte (ab 1941) vollstreckt werden oder 72 Stunden nach Urteilsverkündung, wenn in dieser Zeit kein Widerspruch durch das Militärkollegium bzw. die Kriegsräte erfolgte.[24]

Wenn man die Rechtslage vor und nach der Änderung der StPO aufgrund des Beschlusses vom 1. Dezember 1934 miteinander vergleicht, wird deutlich, daß den Beschuldigten bzw. Angeklagten in Strafverfahren wegen Terrorakten, rechtsnormativ betrachtet, erhebliche Rechte genommen wurden. Die Fristen wurden verkürzt (Voruntersuchung statt in vierzehn in zehn Tagen, Anklageschriftaushändigung ein statt drei Tage vor der Hauptverhandlung) und die Möglichkeit der Kassation und der Begnadigung wurden ganz ausgeschlossen. Die Anwesenheit der Parteien in der Gerichtsverhandlung sollte überhaupt nicht mehr notwendig sein. In der Forschung scheint allerdings eine gewisse Unsicherheit hinsichtlich dessen zu herrschen, wer Partei im Sinne des sowjetischen Strafprozeßrechts ist und somit durch die StPO- Änderung ausgeschlossen wurde. M. Jansen, N. Petrov und R. Maurach gehen davon aus, daß die Änderung nur die Anklage und Verteidigung ausschloß, während F.-Ch. Schroeder auch den Angeklagten als ausgeschlossen betrachtet.[25] Da Partei im Strafprozeß gem. Art. 23 Ziff. 6 StPO der Staatsanwalt, der Angeklagte und sein Verteidiger sowie ggf. der Zivilkläger und der Geschädigte sowie ihre Vertreter waren, ist Schroeder zu folgen. Durch die Änderung der StPO waren somit nicht nur der Verteidiger und der Staatsanwalt, sondern auch der Angeklagte selbst von der Hauptverhandlung ausgeschlossen. Die sofortige Vollstreckung des Urteils, das keiner Bestätigung mehr durch die Kommission des Politbüros bedurfte, nahm dem Verurteilten die letzte Möglichkeit einer Rücknahme des Urteils.

Für den Beschuldigten bzw. Verurteilten bedeutete die Änderung der StPO durch den Beschluß vom 1. Dezember 1934, rechtsnormativ betrachtet, eine entscheidende Verschlechterung, für den Staat hingegen eine Verbesserung seiner Stellung. Der stalinistische Gewaltapparat bekam durch diese Änderung eine gesetzlich normierte Regelung für die Beschleunigung von Strafverfahren in die Hand, wie sie sonst nur bei außerordentlichen Gerichten der Administrativjustiz möglich war.

2. Anwendung in der Rechtspraxis und tatsächliche Bedeutung.

Die hier konstatierte Verschärfung bzw. Beschleunigung des Strafverfahrens relativiert sich jedoch, wenn man die sowjetische Rechtspraxis näher betrachtet. Zum einen waren die tatsächlichen Rechte des Angeklagten vor Einführung der Änderung erheblich weniger wert als in der StPO bzw. der MilTribO versprochen. Zum anderen wurden die Möglichkeiten, die die Gesetzesänderung bot, nicht immer vollständig ausgeschöpft.

Aus der Sicht des Beschuldigten war es unerheblich, ob die Ermittlungsverfahrensfrist vierzehn Tage oder zehn Tage betrug. In beiden Fällen war die Zeit für eine objektive Tataufklärung, wenn sie denn überhaupt betrieben wurde, meist viel zu kurz und forderte die Erpressung von Geständnissen geradezu heraus. Ebenso unerheblich war, ob die Anklageschrift drei Tage oder ein Tag vor der Hauptverhandlung ausgehändigt wurde, da in beiden Fällen für eine angemessene Vorbereitung der Verteidigung, sofern sie denn möglich war, zu wenig Zeit zur Verfügung stand. Darüber hinaus kam es vor, daß die Anklageschrift den Angeklagten gar nicht oder nur verspätet ausgehändigt wurde. Prozesse ohne Anwesenheit der Verteidigung waren bereits vor der StPO-Änderung eher die Regel als die Ausnahme: so liefen faktisch fast alle Verfahren vor dem Militärkollegium ohne Verteidiger ab.[26] Da aber ein Verfahren ohne Verteidigung den Angeklagten seiner letzten Rechte vor Gericht beraubte, war das Verbot der Parteianwesenheit, wie es die Änderung vorsah, im Ergebnis nur noch von untergeordneter Bedeutung. Kassationsbeschwerden einzureichen, war bereits vor der Änderung der StPO kaum möglich. Einerseits blieben diese oftmals wochenlang in den Gerichten erster Instanz liegen, sogar dann, wenn auf Todesstrafe erkannt worden war oder sich der Verurteilte in Untersuchungshaft befand;[27] andererseits lief die Kassationsmöglichkeit häufig ins Leere, da die Obergerichte, wie der Oberste Gerichtshof der UdSSR, mit ihrer unumschränkten Kompetenz alle Verfahren an sich ziehen konnten und so erst- und letztinstanzlich tätig wurden, wodurch die Möglichkeit einer Kassation automatisch entfiel.[28] Außerdem nahm die StPO-Änderung mit der Verweigerung von Kassation und Begnadigung ein Recht, daß in politischen Fällen eher selten erfolgreich war.

Die Anwendung der StPO-Änderung erfolgte häufig nur eingeschränkt. Die Voruntersuchungsfrist von zehn Tagen wurde nur für die ersten Verfahren nach der Ermordung Kirovs eingehalten und später nicht mehr angewandt.[29] Die GlossarSchauprozesse 1936-1938, die Anklagen nach Art. 588 und 5811 StGB enthielten, wurden wie normale Verfahren, mit Beteiligung des Angeklagten und der Möglichkeit der Verteidigung, inszeniert. Im Schauprozeß gegen Zinov'ev und Kamenev 1936 konnten die Verurteilten auch Gnadengesuche (die umgehend abgelehnt wurden) einreichen.[30] Hinzu kommt, daß Militärtribunale die Änderungen in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre nicht mehr anwandten, jedenfalls gibt es dafür keine Beispiele.[31]

Die Möglichkeiten, die die StPO-Änderung bot, wurden vom Militärkollegium auch dann nicht vollständig genutzt, als es zur Praxis der Aburteilungen nach Erschießungslisten überging und das verkürzte Verfahren, das die StPO-Änderung schuf, zur ihrer Grundlage machte. Das Listenverfahren spielte besonders in der Zeit des Großen Terrors 1937/38 eine Rolle, wurde aber in geringerem Umfang, bereits davor, ab Herbst 1936, und danach, mit einer Unterbrechung zwischen 1942 bis 1950, angewandt. Das NKVD stellte Listen von Personen, die abzuurteilen waren, zusammen – die sogenannten Erschießungslisten –, welche dann von Stalin bzw. dem Politbüro genehmigt und dem Militärkollegium zur Aburteilung übergeben wurden. Die meisten Personen, hauptsächlich führende Partei- und Staatsfunktionäre und Militärs, waren zu erschießen.[32] Die Verhandlung vor dem Militärkollegium, das nicht nur in Moskau, sondern auch mit speziellen Kommissionen in der Provinz tagte, fand zwar ohne Verteidiger und Staatsanwalt statt. Im Gegensatz zur StPO-Änderung nach dem Beschluß vom 1. Dezember 1934 war jedoch der Angeklagte anwesend. Desweiteren war es in einzelnen Fällen möglich, Gnadengesuche einzureichen. So gewährte man Ežov, der 1940 in einem Listenverfahren zum Tode verurteilt worden war, die Möglichkeit ein solches Gnadengesuch einzureichen, wenn es auch im Ergebnis erfolglos blieb.[33]

Die Möglichkeit von Gnadengesuchen wurde dann ab 1950 sämtlichen wegen terroristischer Akte Verurteilten regelmäßig gewährt. Die letzte Verurteilung im Listenverfahren ohne Begnadigung genehmigte Stalin im April 1950.[34] Mit der Durchführung eines Begnadigungsverfahren, das im Durchschnitt zwischen fünf bis sieben Tage und einen Monat dauerte, schloß sich auch die Vollstreckung des Urteils nicht mehr unmittelbar an die Urteilsverkündung an.[35] Überhaupt scheinen die Regelungen des Beschlusses vom 1. Dezember 1934 in der Nachkriegszeit immer weniger Anwendung gefunden zu haben. Von den zwischen 1950 und 1952 wegen terroristischer Akte, für die die StPO-Änderung galt, zum Tode verurteilten 2 952 Personen, konnten 1 647 Personen Berufung einlegen, und nur 205 Personen wurden in Abwesenheit verurteilt.[36]

Insgesamt läßt sich zum Beschluß vom 1. Dezember 1934 feststellen, daß er dem Angeklagten Rechte nahm, die in der Rechtspraxis kaum existierten, und daß die Möglichkeiten die die StPO-Änderung bot, nur im begrenzten Umfang genutzt wurden. Trotzdem hatte der Beschluß vom 1. Dezember 1934 eine nicht zu vernachlässigende Bedeutung für den stalinistischen Staat.

3. Der Beschluß vom 1. Dezember 1934 erweiterte die rechtlichen Handlungsmöglichkeiten des stalinistischen Staates. Zur Umsetzung des politischen Terrors bediente sich der Staat des sowjetischen Rechtssystems, das von einem tiefgreifenden Dualismus gekennzeichnet war. Neben den ordentlichen Gerichten und den Militärgerichten existierte in großem Umfang eine außergerichtliche Administrativjustiz, die vom NKVD ausgeübte wurde. Zu ihr gehörten die GlossarSonderberatung (OSO) sowie die Trojkas und GlossarDvojkas, die im Rahmen der Operationen gegen ehemalige Kulaken und "antisowjetische Elemente" nach dem GlossarBefehl Nr. 00447 bzw. gegen "konterrevolutionäre nationale Kontingente" in den Jahren 1937/38 besonders aktiv waren. Der Beschluß vom 1. Dezember 1934 verkürzte die Strafverfahren bei Terroranschlägen und führte so das Schnellverfahren, wie es in der Administrativjustiz bereits existierte, bei den "normalen" Gerichten ein. Der Staat bedurfte der ordentlichen Gerichte, um bei der Umsetzung seiner Terrorpolitik den Schein eines Rechtsstaates zu wahren. Diese Scheinrechtstaatlichkeit zielte weniger auf die Außenwirkung im Ausland, das sich ob des Beschlusses vom 1. Dezember 1934 in seinem Bild vom sowjetischen Unrechtsstaat bestätigt sah, sondern war für die eigene sowjetische Partei- und Staatselite bestimmt. Ihre politische Loyalität blieb ungefährdet, da sie an ihren Glauben festhalten konnte, für sie würden "ordentliche" Gerichte gelten und nicht die Willkür.[37]

Die Verkürzung von Strafverfahren bei Terroranschlägen stellte keine Neuerung dar, sondern war eine der üblichen Praktiken der GlossarBolschewiki. So beschloß das Politbüro des CK der VKP(b) für den Strafprozeß über die Ermordung des sowjetischen Botschafters in Warschau 1927 die temporäre Aufhebung von Verfahrensrechten (Nichtzulassung von Verteidigung und Kassation, sofortige Vollstreckung des Urteils).[38] Desweiteren diente der Beschluß vom 1. Dezember 1934 Propagandazwecken. Der Erlaß und die Veröffentlichung dieses Gesetzes kurz nach der Ermordung Kirovs signalisierte die Handlungsfähigkeit des Staates.

Nach dem vereinfachten Strafverfahren aufgrund des Beschlusses vom 1. Dezember 1934 verurteilte das Militärkollegium zwischen 1934 und 1955 insgesamt 47 459 Personen, die meisten von ihnen zum Tode.[39] Trotz dieser ungeheuren Zahl der Opfer bildete der Beschluß vom 1. Dezember 1934 nicht die Grundlage für den Massenterror der Stalinzeit, wie Nikita Chruščev in seiner Glossar"Geheimrede" auf dem XX. Parteitag der KPSS 1956 suggerierte. Wie die Praxis des stalinistischen Terrors zeigt, war das Militärkollegium als Teil einer Art "Ständegerichtsbarkeit" nur für die Liquidierungen leitender Funktionäre von Partei-, Sowjet-, GlossarKomsomol- und Gewerkschaftsorganen, von Volkskommissaren und ihren Stellvertretern, von Wirtschaftsführern sowie bedeutenden Militärs, Schriftstellern und leitenden Kunst- und Kulturschaffenden zuständig. Die Trojkas und Dvojkas, die die unteren Bevölkerungsschichten in den Tod schickten, hatten mit ca. 625 483 Todesurteilen einen erheblich höheren Anteil an der Todesmaschinerie des stalinschen Terrors als das Militärkollegium und mit ihm der Beschluß vom 1. Dezember 1934.[40]

Jörn Petrick

[1] Siehe Punkt 1. der hier veröffentlichten Fassung des Dokuments. [[1]]

[2] Siehe Punkt 2. der hier veröffentlichten Fassung des Dokuments. [[2]]

[3] Kirilina, A., Neizvestnyj Kirov, Sankt-Petersburg u.a. 2001, S. 384. [[3]]

[4] Siehe dazu: "Vvedenie", in: Meždunarodnoe obščestvo "Memorial", Archiv Prezidenta Rossijskoj Federacii (Hg.), Stalinskie rasstrel'nye spiski, CD-Rom, Moskau 2002. [[4]]

[5] Sobranie uzakonenij (= SU), 1923, Nr. 7, Art 106. [[5]]

[6] Sobranie zakonov (= SZ), 1926, Nr. 80, Art 600; Art. 58 wurde eingefügt in das StGB aufgrund des Beschlusses des CIK der UdSSR vom 25. Februar 1927, mit dem die "Verordnung über die Staatsverbrechen" angenommen wurde (SZ, 1927, Nr. 12, Art. 123). [[6]]

[7] So in: Schroeder, Der strafrechtliche Staatsschutz, S. 57; anders Maurach, der meint, daß die Verfahrensverschärfung mit Nennung des Art. 5811 StGB alle organisierten Tätigkeiten sämtlicher in Art. 58 StGB genannter konterrevolutionärer Handlungen umfaßte, siehe: Maurach, R., Handbuch der Sowjetverfassung, München 1955, S. 305. [[7]]

[8] SU 1935 Nr. 2 Art. 8; hier nach: Schroeder, F.-Ch., "Der strafrechtliche Staatsschutz in der Sowjetunion", in: Maurach, R., Rosenthal, W. (Hg.), Der strafrechtliche Staatsschutz in der Sowjetunion, der Tschechoslowakei, Ungarn und Polen, Herrenalb im Schwarzwald 1963, S. 95. [[8]]

[9] SZ, 1934, Nr. 36, Art. 284. [[9]]

[10] SZ, 1926, Nr. 57, Art. 413. Die Gouvernementgerichte wurden 1928 durch Bezirksgerichte ersetzt, die ihrerseits 1930 aufgelöst wurden. Die Aufgaben der Bezirksgerichte übernahmen die Volksgerichte sowie Gau- und Gebietsgerichte. [[10]]

[11] Schroeder, F.-Ch., "Rechtsgrundlagen der Verfolgung deutscher Zivilisten durch Sowjetische Militärtribunale", in: Hilger, A., Schmeitzner, M., Schmidt, U. (Hg.), Sowjetische Militärtribunale, Band 2: Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945-1955, Köln u.a. 2003, S. 54f. [[11]]

[12] SZ, 1929, Nr. 13, Art. 106. [[12]]

[13] Art. 21 MilTribO. [[13]]

[14] Art. 105 StPO. [[14]]

[15] Art. 392 StPO. [[15]]

[16] Art. 28 MilTribO i.V.m. Art 392 StPO. [[16]]

[17] Art. 393 StPO; Art. 28 MilTribO i.V.m. Art. 393 StPO. [[17]]

[18] Art. 265 Ziff. 1 u. 2 StPO; Art. 28 MilTribO i.V.m. Art. 265 Ziff. 1 u. 2 StPO. [[18]]

[19] Art. 381 StPO; Art. 28 MilTribO i.V.m. Art. 381 StPO. [[19]]

[20] Art. 382 StPO; Art. 28 MilTribO i.V.m. Art. 382 StPO. [[20]]

[21] Art. 400 StPO; Art. 28 MilTribO i.V.m. Art. 400 StPO. [[21]]

[22] Art. 30 MilTribO. [[22]]

[23] Petrov, N., "Die Todesstrafe in der UdSSR. Ideologie, Methoden, Praxis 1917-1953", in: Hilger, A. (Hg.), Tod den Spionen! Todesurteile sowjetischer Gerichte in der SBZ/DDR und in der Sowjetunion bis 1953, Göttingen 2006, S. 46ff. [[23]]

[24] Hilger, A., "Einleitung: Smert' Špionam! – Tod den Spionen! Todesstrafe und sowjetischer Justizexport in die SBZ/DDR 1945-1955", in: Hilger, Tod den Spionen, S. 19. [[24]]

[25] Siehe jeweils: Jansen, M., Petrov, N., "Mass Terror and the Court. The Military Collegium of the USSR", in: Europe-Asia Studies, 2006, Bd. 58, S. 590; Maurach, Handbuch der Sowjetverfassung, S. 210 und Schroeder, Rechtsgrundlagen, S. 56f. [[25]]

[26] Kudrjavcev, V., Trusov, A., Političeskaja justicija v SSSR, Moskau 2000, S. 271. [[26]]

[27] Siehe bzgl. Anklageschrift und Nichtweiterleitung von Kassationsanträgen: Rundschreiben des Kassationssenats des Obersten Gerichts der UdSSR von 1925, in: Eženedel'nik sovetskoj justicii, 1925, Nr. 7, S. 177-182, hier nach: Maklezow, A., Timaschew, N., Alexejew, N., Sawadsky, S., Das Recht Sowjetrusslands, Tübingen 1925, S. 494. [[27]]

[28] Schroeder, Der strafrechtliche Staatsschutz, S. 42ff. [[28]]

[29] Medwedew, R., Das Urteil der Geschichte. Stalin und Stalinismus. Band 2, Berlin 1992, S. 26. [[29]]

[30] Petrov, Die Todesstrafe in der UdSSR, S. 49. [[30]]

[31] Petrov, Die Todesstrafe in der UdSSR, S. 48. [[31]]

[32] Jansen, Petrov, Mass Terror and the Court, S. 590ff. [[32]]

[33] Jansen, M., Petrov, N., Stalin's Loyal Executioner. People's Commissar Nikolai Ezhov 1895-1940, Stanford 2002, S. 188ff. [[33]]

[34] Petrov, Die Todesstrafe in der UdSSR, S. 69f. [[34]]

[35] Lavinskaja, O., "Gnadenverfahren des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR 1950 bis 1953. Eine archivwissenschaftliche Beschreibung unbekannter Quellen zum Spätstalinismus", in: Hilger, Tod den Spionen, S. 93. [[35]]

[36] Anlage zum Schreiben des Vorsitzenden des Obersten Gerichts der UdSSR, Anatolij Volin, Nr. 006963 vom 3. April 1952 an den Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets, Nikolaj Švernik, zit. in: Hilger, Tod den Spionen, S. 158ff. [[36]]

[37] Jansen, Petrov, Mass Terror and the Court, S. 602. [[37]]

[38] Getty, A. J., Naumov, O., The Road to Terror. Stalin and the Self-Destruction of the Bolsheviks 1932-1939, New Haven/London 1999, S. 145. (Allerdings irren Getty und Naumov, da der 1927 ermordete sowjetische Botschafter in Warschau nicht V. Vorovskij, sondern P. Vojkov hieß. Vorovskij war sowjetischer Botschafter in Italien und fiel am 10. Mai 1923 in Lausanne einem Anschlag zu Opfer). [[38]]

[39] Jansen, Petrov, Mass Terror and the Court, S. 590. [[39]]

[40] Binner, R., Junge, M., "S etoj publikoj ceremonit'sja ne sleduet. Die Zielgruppen des Befehls Nr. 00447 und der Große Terror aus der Sicht des Befehls Nr. 00447", in: Cahiers du Monde russe, 2002, Bd. 43, H. 1, S. 207, 224f. [[40]]