Brief des Volkskommissars für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR M. Litvinov an den Generalsekretär des CK der VKP (b) I.V. Stalin, 15. April 1939

Einführung

Aus der Sicht der sowjetischen Führung war der GlossarVolkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten GlossarMaksim Litvinov ein umgänglicher Politiker, der langjährige revolutionäre Tätigkeit mit genauen Kenntnissen der westlichen Welt vereinigte, die er in seinem erzwungenen Exil sammeln konnte. Durch Auftritte bei internationalen Konferenzen und vor dem GlossarVölkerbund erwarb er sich großes Ansehen bei seinen ausländischen Kollegen und galt sogar als "Westler". Litvinov, der mit einer Engländerin verheiratet war, gehörte niemals zum engsten Führungskreis um GlossarStalin, wurde aber von diesem aufgrund seiner Erfahrung und Auslandskenntnis geschätzt. Seine Ablösung am 4. Mai 1939 durch GlossarMolotov wird in der Rückschau häufig als entscheidende Weichenstellung für die Orientierung auf eine Einigung mit Nazideutschland (GlossarMolotov-Ribbentrop-Pakt) gesehen.

Bis zur Publikation wichtiger Dokumente durch das Archiv des Russischen Außenministerium waren aber die genauen Hintergründe noch unklar. Obwohl weitere Unterlagen möglicherweise weitere Details enthüllen könnten, scheinen doch zumindest die Umrisse dieser für die Entstehung des Zweiten Weltkrieges so entscheidenden Wende deutlicher als zuvor erkennbar.

Am 30. März 1939 gab die britische Regierung eine GlossarGarantieerklärung für das von Nazideutschland bedrängte Polen ab. Mit diesem Schritt, der vor dem Hintergrund der tiefen Enttäuschung über GlossarHitlers fortgesetzte Aggressionspolitik zu erklären ist, wurde die UdSSR plötzlich von einem Paria der Weltgemeinschaft zu einem umworbenen Partner. Die Sowjetunion, von Großbritanniens Premierminister GlossarNeville Chamberlain mit großem Mißtrauen betrachtet, war nicht am GlossarMünchener Abkommen beteiligt. Mit der "Erledigung der Glossar"Rest-Tschechei" und dem Einmarsch in Prag am 15. März 1939 hatte Hitler in den Augen der westlichen Öffentlichkeit endgültig den Rubikon überschritten. Alle diejenigen, die auf eine Einbindung des Diktators durch Zugeständnisse wie das Münchener Abkommen und eine damit verbundene Mäßigung Deutschlands gesetzt hatten, sahen sich nun getäuscht.

Ohne ausreichende militärische Vorbereitung und vor allem ohne eine zahlenmäßig starke Armee war die britische Garantie für Polen (die wenig später auf Rumänien ausgedehnt wurde) ein großes Risiko. Tatsächlich hatte der sowjetische Bevollmächtigte in London, GlossarIvan Majskij, dies als "Revolution in der britischen Außenpolitik" bezeichnet. Verhandlungen mit Moskau wurden aufgenommen, um den von Deutschland bedrohten Staaten, vor allem Polen, von beiden Seiten Beistand leisten zu können.

Die UdSSR war nunmehr nicht länger isoliert, sondern im Zentrum des Interesses. Die Frage, zu welchen Bedingungen ein Bündnis gegen Hitler zustande kommen könnte, wurde nun in Gesprächen und Depeschen zwischen Paris, London und Moskau debattiert. Die Sowjetunion befürchtete ihrerseits den westlichen Versuch, doch noch wie in München zu einer Übereinkunft mit Hitler zu kommen und Deutschland gegen die UdSSR zu lenken. Stalin zögerte daher, die eigenen Vorstellungen offenzulegen, zumal aus seinen Planspielen die Möglichkeit, durch bessere Beziehungen zum industriell entwickelten und wirtschaftlich interessanten Deutschland die Entwicklung der sowjetischen Ökonomie zu stärken, nie ganz verschwand. Erst im Januar 1939 wurden, wie inzwischen bekannt ist, die Volkskommissariate angewiesen, Listen mit Gütern zu erstellen, die im Falle einer deutschen Kreditzusage in Berlin bestellt werden sollten. In seiner Glossar"Kastanienrede" im März 1939 hatte Stalin persönlich nicht nur die "Aggressor-Staaten" Deutschland, Japan und Italien attackiert, sondern auch Großbritannien, Frankreich und die Vereinigten Staaten, die angeblich die Welt in eine globale Auseinandersetzung um Absatzmärkte und Kolonien verstricken wollten. Hinter den Kulissen wurde daher die sowjetische Diplomatie angewiesen, vorsichtig zu taktieren und eine abwartende Haltung einzunehmen.

Der Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten Litvinov nahm seit dem Scheitern seiner Bemühungen um Glossarkollektive Sicherheit, deren sichtbarster Ausdruck das Münchener Abkommen war, sozusagen sein Amt "auf Abruf" wahr. Er hatte zusehen müssen, wie sein Kommissariat in den Strudel der GlossarSäuberungen geraten war. Erfahrene und ihm treu ergebene Mitarbeiter wurden als "Spione" oder Glossar"Trotzkisten" umgebracht. Im Zuge der NKVD-Verfahren wurde das GlossarVolkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten faktisch gelähmt.

Litvinov selbst konnte diese Entwicklung nicht stoppen. Er erfüllte weiter die Anweisungen der obersten Führung, zweifelte allerdings zunehmend am Sinn der Stalinschen Taktik, in bezug auf die internationale Lage abzuwarten. Es ist mittlerweile bekannt, daß er Stalins Erwartungen einer möglichen großangelegten Zusammenarbeit mit Nazideutschland nicht teilte.

Am 15. April 1939 schrieb Litvinov den entscheidenden Brief an Stalin. Darin bemerkte er, daß die Vorschläge der Westmächte allmählich konkreter würden. Somit würden die Vorstellungen Englands und Frankreichs deutlicher. Falls die UdSSR etwas von den beiden Westmächten erreichen wolle, so sei es unvermeidbar, etwas von den eigenen Wünschen preiszugeben. Man könne nicht solange warten, bis die andere Seite genau das vorschlage, was man selbst wolle. Es sei schließlich notwendig, für die eigenen Vorstellungen Propaganda zu machen und sie der öffentlichen Meinung zu erläutern. Litvinovs skizzierte Minimalforderungen sahen ein breit angelegtes Bündnis der drei Großmächte vor, die den Frieden in Europa sichern sollten. Paris und London sollten sich verpflichten, auch den europäischen Nachbarn der UdSSR beizustehen. Damit sollte verhindert werden, daß Hitler ungestraft an die sowjetischen Grenzen heranrücken könnte.

Doch konnte sich Litvinov nicht mehr durchsetzen. Stalin folgte nicht einmal seiner Empfehlung, den in britischen Kreisen sehr einflußreichen Majskij in London zu belassen. Majskij mußte zum Rapport nach Moskau reisen. Dieses kleine Beispiel illustriert den rapiden Autoritätsverlust Litvinovs im Frühjahr 1939 sehr anschaulich.

Litvinov hatte selbst Zweifel am Willen der Westmächte, mit der UdSSR gegen Hitler zusammenzuarbeiten. Sein im Brief vom 15. April skizziertes außenpolitisches Programm zur Erhaltung des Friedens in Europa kollidierte aber erheblich mit den Vorstellungen Stalins. Litvinovs Minimum war für Stalin offensichtlich zu wenig. Zwar hätte ein dreiseitiger Beistandspakt mit den Westmächten die Sicherheit der UdSSR erhöht. Aber Stalin war nicht gewillt, seine Karten auf den Tisch zu legen, ohne ein Angebot Deutschlands vorliegen zu haben. Das Litvinov-Programm hätte der UdSSR jeden Pakt mit Hitlerdeutschland verboten und sie somit in eine klare antideutsche Allianz geführt. Eine solche Verpflichtung hätte Stalin die Hände gebunden.

Am 11. April 1939 hatte Hitler den Glossar"Fall Weiß" – den Angriffsplan auf Polen – unterzeichnet, was Moskau schon kurze Zeit später erfuhr. Die sowjetischen Geheimdienste informierten Stalin fortlaufend über die deutschen Kriegsvorbereitungen. Im Gegensatz zu den Westmächten, die sich nicht in der Lage sahen, der UdSSR ein Durchmarschrecht durch Polen oder Rumänien ohne deren Zustimmung einzuräumen, hatte Hitler keine Skrupel, Moskau das Territorium dritter Staaten anzubieten. Nazideutschland sah sich zudem durch seine Kriegsvorbereitungen gegen Polen genötigt, sich rasch der wohlwollenden Neutralität Stalins zu versichern, um eine Zweifrontenstellung zu vermeiden.

Die kleine außenpolitische Kommission im Kreml, die sogenannte Vierergruppe (četverka), bestehend aus Stalin, Molotov, GlossarVorošilov und GlossarKaganovič, änderte Litvinovs Vorlage vom 15. April in entscheidenden Punkten ab. Am 17. April übergab Litvinov dem britischen Botschafter GlossarSeeds den revidierten Entwurf, einen Tag später erhielt die französische Regierung den Gegenvorschlag. Stalins Handschrift ist nun deutlich erkennbar. So wurde beispielsweise Punkt vier gestrichen, der es der UdSSR unmöglich gemacht hätte, mit Berlin zu einer Einigung zu gelangen. Die Sowjetunion lehnte den britischen Vorschlag ab, eine Garantieerklärung zugunsten Polens und Rumäniens abzugeben – zwei Staaten, gegen die sowjetische Gebietsansprüche bestanden. Statt dessen schlug die Sowjetunion Paris und London einen Beistandspakt für einen Zeitraum von fünf bis zehn Jahren vor. Ein Angriff auf eine der drei Mächte sollte als Angriff auf alle angesehen werden. Der Pakt sollte eine gemeinsame Garantie für alle Nachbarstaaten der UdSSR enthalten, auch wenn jene dies nicht wünschten (wie die baltischen Staaten). Die britische Regierung solle zudem erklären, daß die Garantie für Polen nur für den Fall eines deutschen Angriffs gelte.

Dies waren die Maximalforderungen Stalins. Gleichzeitig ließ er durch den sowjetischen Gesandten GlossarAleksej Merekalov in Berlin vorfühlen, welche Möglichkeiten die "deutsche Option" bieten könnte. Noch am 17. April wurde Merekalov im Auswärtigen Amt vorstellig und deutete die Möglichkeit einer Verbesserung der beiderseitigen Beziehungen an. Merekalov erstattete am 21. April vor dem GlossarPolitbüro CK der VKP (b) Bericht über seine Gespräche in Deutschland. Laut Merekalovs Memoiren fragte Stalin direkt, ob die Deutschen einen Krieg gegen die Sowjetunion beginnen würden. Merekalov erwiderte, Deutschland werde im Herbst Polen angreifen, die Neutralisierung der UdSSR anstreben und sich gegen Frankreich wenden, danach werde Deutschland in zwei oder drei Jahren unweigerlich die USSR angreifen. Es ist möglich, daß Stalin dieses Szenario für plausibel hielt und daher mit der "deutschen Option" auf kurzfristige Gewinne setzte.

Die Westmächte ihrerseits zögerten mit einer konkreten Antwort auf den sowjetischen Vorschlag. Das britische Kabinett hatte bereits am 19. April beschlossen, ihn abzulehnen, aber teilte dies Moskau erst am 8. Mai mit.

Für Stalin hatte Litvinov bereits seine Schuldigkeit als Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten getan. Er schien gegenüber Paris und London als zu nachgiebig und darüber hinaus als Jude nicht geeignet, die "deutsche Option" zu verfolgen. Mit der Ablösung des Volkskommissars konnte Stalin zudem seinem engsten Mitarbeiter einen Dienst erweisen, denn Molotov verachtete Litvinov. Auf einer Sitzung in Stalins Büro am 3. Mai, zwischen 17.15 und 17.50, wurde der langjährige Leiter des Volkkommissariats für Auswärtige Angelegenheiten zum Rücktritt gezwungen. Die offizielle Mitteilung sprach von der "illoyalen Haltung des Genossen Litvinov". Sein Nachfolger Molotov bedauerte noch Jahrzehnte später, daß man Litvinov nicht liquidiert habe. Er sei nur "zufällig" am Leben geblieben. Molotov verkündete vor seinen neuen Mitarbeitern, Litvinov habe eine Reihe von Personen gefördert, die der Partei feindlich gesonnen gewesen seien. Das Kommissariat wurde gesäubert. Pressechef GlossarEvgenij Gnedin sollte gestehen, daß sein ehemaliger Chef ein Spion sei, weigerte sich aber selbst unter Folter.

Wenige Monate später handelte die sowjetische Führung genau gegen den Geist des "Litvinov-Programms": Sie schloß einen GlossarNichtangriffspakt mit dem Aggressorstaat Deutschland und erzielte im GlossarGeheimen Zusatzprotokoll vom August 1939 eine umfassende Übereinkunft "über Fragen Osteuropas", die eine faktische Aufteilung des östlichen Teils des Kontinents einleitete.

Donal O'Sullivan