Aus dem Tagebuch des Generalsekretärs des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale G. M. Dimitrov, Eintragungen vom 7. und 8. September 1939

Einführung

Von der bulgarischen Regierung für seine politische Tätigkeit verfolgt, mußte der gelernte Drucker und Gewerkschaftsfunktionär GlossarGeorgij Dimitrov nach Deutschland ins Exil gehen. Dort wurde er 1933 von Nazis als Organisator des Reichstagsbrandes verhaftet und vor Gericht gestellt. Dimitrov nutzte das Verfahren, um die Machenschaften der Nationalsozialisten anzuprangern und wurde freigesprochen. Seit der Zeit seiner Inhaftierung in Deutschland umgab ihn die Aura eines Märtyrers der kommunistischen Bewegung, was bei seiner Wahl zum Vorsitzenden der GlossarKommunistischen Internationale (Komintern), des "Generalstabs der Weltrevolution", zweifellos eine wichtige Rolle spielte. In dieser Funktion (1935-1943) warb er für die GlossarVolksfrontpolitik der Kommunisten.

Allerdings war die Komintern keine eigenständige Organisation, sondern den Weisungen des GlossarPolitbüros CK der VKP (b) untergeordnet – obwohl die VKP (b), die Kommunistische Partei der Sowjetunion, offiziell lediglich eine Sektion der Komintern war. Die VKP (b) hatte sich ihrerseits unter der Leitung von GlossarIosif Stalin von einer diskutierenden in eine gehorsame Partei verwandelt, in der der Wille des "Führers" Befehl war. Auf besonders bezeichnende Weise geben die Tagebuchaufzeichnungen von Georgij Dimitrov, hier ausgewählt: Notizen zum GlossarHitler-Stalin-Pakt, einen Einblick in die inneren Mechanismen der stalinschen Diktatur. Nachdem sich das nationalsozialistische und das kommunistische Regime jahrelang in den Worten Stalins "mit Dreck beworfen" hatten und auf Konfrontation zueinander gegangen waren, einigten sich Berlin und Moskau im August 1939 völlig unvermittelt auf einen Nichtangriffspakt. Nicht mit den Westmächten Großbritannien und Frankreich, deren Delegationen in Moskau weilten, sondern mit dem ideologischen Antipoden verständigte sich die UdSSR. Nur absolute Diktatoren wie Hitler und Stalin waren in der Lage, ihrer Gefolgschaft eine derartige Kehrtwendung zuzumuten. Beim Empfang für den deutschen Außenminister GlossarRibbentrop erhob Stalin sein Glas auf das Wohl von GlossarAdolf Hitler. Wie mag Dimitrov, der nur knapp dem Galgen in Berlin entgangen war, zumute gewesen sein, als er davon erfuhr?

Kaum bekannt war bisher, wie wenig die engste Umgebung Stalins in die Einzelheiten der Verhandlungen eingeweiht war. In seinen Memoiren hatte GlossarNikita Chruščev von Stalins Vorstellungen einer großen Intrige gesprochen, in der es letztlich darum gehe, wer wen betrüge. Niemand habe von Stalins und GlossarMolotovs Plänen gewußt, das Politbüro (dem Chruščev angehörte) sei nicht konsultiert worden. Abgesehen von Chruščevs verständlichem Bemühen, sich selbst als unschuldig darzustellen und Stalin als Übeltäter zu bezeichnen, scheint doch festzustehen, daß die sowjetische Außenpolitik von einem sehr kleinen Kreis geleitet wurde. Alles lag in Stalins Faust, erklärte Molotov später.

Stalin hielt wenig von der Komintern und sah sie allenfalls als untergeordnetes Instrument oder sogar als Nest trotzkistischer Spione. Dimitrovs Tagebuch bestätigt diese Unterordnung. Häufig beschränkt sich der bulgarische Kommunist auf kurze tägliche Notizen, teilweise unterbrochen von langen Intervallen. Ende August und Anfang September 1939, in der Phase unmittelbar um den Kriegsausbruch, werden die Eintragungen ausführlicher. Es war eine Phase höchster Anspannung und internationaler Krise. Auch für Dimitrov selbst kennzeichnet dieser Abschnitt eine wichtige Zeit: Als Vorsitzender der Komintern eigentlich für die Leitlinien für die ausländischen kommunistischen Parteien verantwortlich, erscheint er merkwürdig isoliert. Von konkreten Informationen abgeschnitten, blieb Dimitrov auf Pressemeldungen und gelegentliche Mitteilungen der obersten sowjetischen Parteiführung angewiesen. Zu den Gesprächen wurde er erst gar nicht herangezogen.

Als der deutsche Außenminister Ribbentrop in Moskau eintrifft, mußte Dimitrov über die Lage in der holländischen KP konferieren. Er hielt lediglich das Faktum der Unterzeichnung des Nichtangriffsvertrages fest und vermerkte die Veröffentlichung eines Photos in der Glossar"Pravda", das Molotov, Stalin zusammen mit Ribbentrop und dem deutschen Diplomaten GlossarGaus zeigte (Dimitrov versieht diese Tatsache mit einem Ausrufezeichen). Scheinbar unbeeindruckt geht die Komintern ihrer Arbeit nach. Dimitrov läßt eine Direktive an die anderen Parteien ausarbeiten und verschicken. Über die alarmierenden Nachrichten aus aller Welt besorgt, hat er offensichtlich keine Kenntnis von den wahren Absichten der sowjetischen Führung, Osteuropa mit Deutschland aufzuteilen. Von einem Kontakt zu den entscheidenden Stellen ist nicht die Rede. Noch am Tag vor dem deutschen Angriff auf Polen notierte er etwas rätselhaft: "In der UdSSR sorgenfreier fester Glaube an den morgigen Tag". Offenbar hielt es Stalin für unnötig, den Vorsitzenden der Komintern sofort nach Abschluß des Paktes mit Deutschland über die Inhalte der Gespräche zu informieren, auch Dimitrov selbst für nicht wichtig genug. Das von Molotov unterzeichnete GlossarGeheime Zusatzprotokoll, das Interessensphären der UdSSR und Deutschlands in Osteuropa markierte, blieb dem Vorsitzenden der Komintern zunächst unbekannt.

Erst eine Woche nach Kriegsausbruch wird Dimitrov in den Kreml gerufen. Das "außenpolitische Triumvirat" aus Stalin, Molotov und GlossarAndrei Ždanov empfing ihn, und der "große Lehrer" Stalin erläuterte Dimitrov, wie die weltpolitische Lage nun einzuschätzen sei. Stalins Bemerkungen geben wichtige Aufschlüsse über die taktischen Überlegungen des sowjetischen Diktators und seine Motive für den Abschluß des Paktes mit Hitler. Wie keine andere Quelle sind die Aufzeichnungen geeignet, aus ihnen die außenpolitischen Leitlinien der unmittelbaren Kriegszeit abzuleiten. Denn sie sind anders als viele öffentlichen Äußerungen nur für den internen Gebrauch gedacht und daher frei von Rücksichtnahmen oder Vorsicht. Stalin sprach hier aus, was er dachte – eine sehr seltene Gelegenheit für die historisch interessierte Öffentlichkeit, einen Blick in seine Gedankenwelt zu werfen. Der kurze Abschnitt ist das einzige, was den Glossar"Tischgesprächen" Hitlers vergleichbar ist.

Die Sprache ist klar und unmißverständlich, konzentriert und prägnant. Die Botschaft lautet: Die Führung der UdSSR hat es vermocht, Hitler in ein Instrument der Revolution zu verwandeln – "ohne es zu verstehen und zu wollen" untergrabe der Nazi-Diktator das kapitalistische System. Der Krieg, den gestern noch alle Kommunisten verdammt hatten, sei ein Positivum, weil die kapitalistischen Staaten sich gegenseitig schwächten. Der Nichtangriffsvertrag habe "in gewissem Maße" Deutschland geholfen – Stalin erkannte, wie wichtig die GlossarNeutralität der UdSSR für Hitler gewesen war. Jetzt, so Stalin zu Dimitrov, sei es der nächste Schritt, "die andere Seite anzuspornen". Damit enthüllte der sowjetische Parteiführer, wie sehr seine Gespräche mit den Westmächten von taktischen Überlegungen bestimmt waren. So wie der GlossarErste Weltkrieg die Revolution in Rußland mit sich gebracht hatte, kalkulierte Stalin, der bereits auf dem XVIII. Parteitag im März 1939 vom "zweiten imperialistischen Krieg" gesprochen hatte, werde der Zweite Weltkrieg die Chancen auf eine Revolutionierung Europas vergrößern. Er selber sah sich in der Rolle des großen Strategen, der als einziger diese Konstellation herbeiführen vermochte und verstehen könne. Der polnische Staat, den man noch gestern als Bollwerk gegen Hitler bezeichnet hatte, galt nun plötzlich als "faschistischer Staat", dessen Vernichtung nur positiv sein könne. Mit Widerstand aus den Reihen der polnischen Kommunisten hatte Stalin nicht mehr zu rechnen. Die GlossarPKP war 1938 als "trotzkistisch" aufgelöst worden. Dimitrov notierte lediglich die Bemerkungen Stalins und arbeitete nach diesen Maßstäben am nächsten Tag eine Komintern-Direktive aus. Dokumentiert wird damit auch die bereits lange bekannte direkte Unterstellung der Komintern unter das sowjetische Politbüro.

Besonders aufschlussreich ist auch die Bewertung der Verhandlungen zur Bildung einer GlossarAnti-Hitler-Koalition. In Stalins Sicht hatten die Gespräche mit London und Paris lediglich demonstriert, daß die Westmächte die UdSSR als "Knecht" benutzen und nichts für ihre Beteiligung an einem Bündnis bezahlen wollten. Der "Preis", den die UdSSR in den gleichzeitigen Kontakten zu Nazideutschland und den Westmächten erzielen wollte, läßt sich nunmehr auch besser als vorher erkennen. Die territoriale Umgestaltung Osteuropas, wie sie Hitler vorgeschlagen hatte, paßte exakt in das Konzept Stalins. Gegenüber Dimitrov sagte Stalin deutlich: "Was ist Schlechtes daran, wenn wir im Ergebnis der Zerschlagung Polens das sozialistische System auf neue Territorien und neue Bevölkerung ausdehnen?" Entlarvend offen kommt hier die revolutionäre Komponente der sowjetischen Außenpolitik zur Sprache. Stalins Bemühen, die kriegführenden Parteien gegeneinander aufzuhetzen, und seine Anweisungen, die Kommunisten dürften den Krieg gegen Hitler nicht unterstützen, verstärkten die Verunsicherung der Kommunisten in der Welt. Die Anweisungen Moskaus zum vordringlichen Kampf gegen die Sozialdemokratie trugen entscheidend zur Spaltung der Opposition gegen Hitler bei. Gegen Kriegskredite zu stimmen und den "imperialistischen" Charakter des Krieges zu verurteilen, machte die Kommunisten in England und Frankreich zu Verrätern an der nationalen Sache.

Aber das Ansehen der ausländischen Kommunisten war für Stalin zweitrangig, denn sie waren lediglich Mittel zum Zweck. Da die sowjetischen Kommunisten an der Macht waren, konnten sie laut Stalin "manövrieren, die eine Seite gegen die andere aufbringen, damit sie sich noch stärker in die Haare kriegen".

Eine nachträgliche sowjetische Rechtfertigung für den Pakt mit Hitler – Zeitgewinn – ist in Stalins Worten im September 1939 nicht erkennbar. Wie fatal das außenpolitische Kalkül des Diktators sein würde, zeigte sich beim deutschen Überfall 1941. Dimitrov hatte offenkundig gewisse Mühe, die Kehrtwendung in schriftlicher Form zu fixieren. Ždanov mahnte am 24. September die angeforderten Thesen an und kritisierte: "In dieser Zeit hätte Genosse Stalin ein ganzes Buch geschrieben!".

Donal O'Sullivan