Die Verfassung (Grundgesetz) der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, 7. Oktober 1977

Einführung

Die Ablösung der Glossar"Stalin-Verfassung" von 1936 war bereits von GlossarNikita S. Chruščev als Teil der GlossarEntstalinisierung des politischen und rechtlichen Systems geplant und durch die Bildung einer Verfassungskommission (1962) initiiert worden. Das Projekt stand in organischem Zusammenhang mit den großen Rechtsreformen, die ab 1957 mit der Gerichtsverfassung, dem Straf- und Strafprozeßrecht begonnen worden waren, sowie ferner mit dem neuen Glossar(dritten) Parteiprogramm der KPSS (1961). Chruščevs Sturz im Oktober 1964 durchkreuzte die Pläne. Zwar blieb die Verfassungskommission bestehen und der neue Parteichef GlossarLeonid I. Brežnev übernahm ihren Vorsitz, aber tatsächlich verfiel sie für ein gutes Jahrzehnt in Untätigkeit. Zu viele Fragen waren umstritten. Lebendig blieb aber das Verfassungsprojekt in einem relativ engen Kreis GlossarCK-naher Juristen und "Politologen" vor allem aus der GlossarAkademie der Wissenschaften, die mit ihm Hoffnungen auf eine weitere Abkehr vom Rechtsnihilismus und der Demokratieferne der Stalin-Ära oder, anders gesagt, auf eine substantielle institutionelle Stärkung der sozialistischen Gesetzlichkeit und der sozialistischen Demokratie verbanden.

Die schließlich verabschiedete Unionsverfassung ist ein gewisser Kompromiß zwischen den zwei Hauptrichtungen in der Nomenklatura, ihrer älteren, noch unter GlossarStalin sozialisierten Führungsschicht und den nachdrängenden liberaleren Glossar"Sechzigern", d. h. zwischen denjenigen, welche die Stalin-Verfassung durch ein Grundgesetz ersetzen wollten, das die seit 1953 in der Staats- und Rechtsordnung vorgenommenen Veränderungen berücksichtigen sollte, und denjenigen, die im Rahmen des etablierten Sowjetsystems bereit waren, der Entfaltung des Individuums mehr Raum durch demokratische Partizipation und durch Rechtssicherheit gegenüber der partei-staatlichen Exekutive zu geben. In Abkehr von der "Stalin-Verfassung" sollte nach der Vorstellung beider Richtungen die neue Verfassung nicht nur ein dürres juristisches Dokument, sondern auch ein Programm, mit einem Wort Staats- und Gesellschaftsverfassung zugleich sein.

Die Konzeption ist tatsächlich konsequent durchgeführt worden. Gegenüber der "Stalin-Verfassung" gibt sie der Glossar"Brežnev-Verfassung" ein völlig anderes Profil. Das zeigen in aller Deutlichkeit die Präambel und die ihr folgenden drei Kapitel zur Politik, Ökonomie, sozialen Entwicklung und Kultur. Ihre Bestimmungen beschwören die "heroische" Geschichte des Sowjetstaates und deklarieren die vorgeblichen humanistischen Ideale, Ziele und Prinzipien der zu errichtenden klassenlosen, kommunistischen Gesellschaft. Die aus dem Parteiprogramm übernommenen Grundlagen erfüllen mehrere Funktionen, nämlich der Legitimierung des Systems, der Orientierung, Motivierung und Mobilisierung seiner Träger – der Funktionäre und Bürger. Zugleich bestimmen die Grundlagen jenen Rahmen, in welchem die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und juristischen Institutionen des Herrschaftssystems ihren Platz finden: Partei, GlossarSowjets, Staatsverwaltung, Streitkräfte, gesellschaftliche Organisationen, Arbeitskollektive und schließlich der einzelne Bürger.

Aus der Sicht der damals maßgebenden Parteidokumente und geltenden Gesetze enthalten die Bestimmungen der Verfassung nur wenig Neues; im Vergleich zu der Unionsverfassung von 1936 sind die Unterschiede jedoch beträchtlich. Die Neuerungen und Abweichungen sind teils inhaltlicher, teils funktionaler, struktureller Natur. Man kann sie in dem folgenden Katalog zusammenfassen:

die Normierung der "führenden Rolle der kommunistischen Partei" bei den Grundlagen des politischen Systems (Art. 6);

die Akzentuierung von Partizipation, Glasnost' und öffentlicher Meinung (Art. 9);

die Aufwertung der gesellschaftlichen Organisationen und der Arbeitskollektive (Art. 7 und Art. 8);

die Garantie des persönlichen Eigentums und die Anerkennung der individuellen Arbeitstätigkeit (Art. 13; Art. 17);

das Prinzip der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik (Art. 16);

die redaktionelle Aufwertung des einzelnen Bürgers innerhalb der Gesamtverfassung neben und gegenüber der Staatsorganisation (Präambel; Art. 20; Kapitel 6 und 7);

die Betonung der Verantwortung des Bürgers für das Gemeinwesen, die Bekräftigung seiner Pflichten und des Prinzips der Einheit von Rechten und Pflichten sowie die Bindung der Grundrechtsausübung an die ideologischen Ziele der Gesellschaft (Präambel; Art. 39 Abs. 2; Art. 59; Art. 62);

die prinzipielle, ideologische Schwächung des föderalen Staatsaufbaus durch das Ziel, die Nationen und Nationalitäten zu dem einheitlichen, homogenen "Sowjetvolk" zu verschmelzen (Präambel; Art. 19; Art. 70), und insbesondere die Stärkung der Union gegenüber der Unionsrepubliken durch Einräumung der Kompetenzen (Art. 73 Nr. 12);

die formelle Stärkung des GlossarObersten Sowjets gegenüber seinem GlossarPräsidium und dem GlossarMinisterrat durch die Anerkennung seiner Haupt- und Allzuständigkeit (Art. 108; Art. 119; Art. 131 Abs. 1);

die erstmals in der sowjetischen Geschichte erfolgte Anerkennung der Rechtsanwaltschaft in der Verfassung neben den Gerichten und der Staatsanwaltschaft (Art. 161);

die Aufwertung des Gesetzes als Rechtsquelle durch die förmliche Anordnung von Verfassungs wegen, die Rechtsgrundlagen bestimmter Staatsorgane und Verfassungsinstitutionen durch Gesetz zu regeln (z. B. Art. 136 – Ministerrat);

die Verankerung und Stärkung des Rechtsschutzes des Bürgers gegenüber der Verwaltung und ihren Amtspersonen durch Einräumung der gerichtlichen Klage, durch Normierung der Staatshaftung und die Garantie, daß Kritik an der Bürokratie nicht verfolgt werden dürfe (Art. 58; Art. 49).

Die aus staatsrechtlicher Sicht bedeutsamsten Elemente des Kataloges sind:

die Verankerung der Parteiherrschaft in den Grundlagen des politischen Systems,

die Hervorhebung der Rechtsstellung des Bürgers im Staat,

der verstärkte Zentralismus im Staatsaufbau und

die Aufwertung des Gesetzes in der Normenhierarchie.

Zu jedem dieser Charakterzüge weist die Verfassung aber auch Elemente auf, die zu ihnen im Widerspruch, jedenfalls aber in einem Spannungsverhältnis stehen.

Der schreiendste Widerspruch ist der zwischen der angeblichen Volkssouveränität, ausgeübt durch die Sowjets (Art. 2), und der tatsächlichen Parteisouveränität, ausgeübt durch die Spitzenorgane der GlossarKPSS (Art. 6 Abs. 2). Er wird nur durch die vom Marxismus-Leninismus behauptete "prästabilierte Harmonie" zwischen Volks- und Parteiwillen wegdefiniert (Präambel; Art. 6 Abs. 1), aber das Ergebnis ist die Ohnmacht der Sowjets und die Allmacht der Parteiführung, d.h. des GlossarPolitbüros.

Die redaktionelle Aufwertung des einzelnen Bürgers gilt dem "Sowjetmenschen" bzw. der "sozialistischen Persönlichkeit". Der Akzent liegt nicht auf den Rechten des Individuums, sondern auf seiner Verantwortung und seinen Pflichten als Staatsbürger. Dementsprechend steht die Ausübung der Grundrechte unter einschneidenden Vorbehalten, nämlich ihrer Funktionalisierung für die Zwecke des kommunistischen Aufbaus (vgl. Art. 47 Abs. 1; Art. 50 Abs. 1; Art. 51 Abs. 1). Die Deklarierung des Rechtes auf Rechtsschutz gegenüber der Staatsbürokratie (Art. 58 Abs. 2 und 3) bedeutet demgegenüber im Ansatz eine Aufwertung der individualrechtlichen Substanz der Grundrechte und ist daher eine sehr beachtliche Neuerung in der Verfassung. Leider, aber auch bezeichnenderweise, blieb der Artikel bis zur Perestrojka wegen fehlender Ausführungsvorschriften toter Buchstabe.

Die Verfassung treibt den Zentralismus im Staatsaufbau ein kräftiges Stück voran (Art. 3; Art. 73 Nr. 12), und höhlt damit das "Prinzip des sozialistischen Föderalismus" (Art. 70) inhaltlich noch weiter aus. Gleichwohl hält sie an dem Recht der Unionsrepubliken, aus der Union auszutreten, eisern fest (Art. 72). Sie erinnert damit indirekt an den vertraglichen Ursprung der Union im GlossarGründungsvertrag vom 30. Dezember 1922 und bewahrt so in ihrem Text, zumindest theoretisch, eine Alternative zum praktizierten sowjetischen Scheinföderalismus, die ein Jahrzehnt später ungeahnte politische Kraft erlangen sollte.

Angesichts der für die sowjetische Rechtsordnung seit der Stalin-Ära typischen geringen Zahl von Gesetzen und ihrer auf mehreren Ursachen beruhenden Bedeutungsschwäche im Staatswesen signalisieren die zahlreichen Gesetzgebungsaufträge, welche die Verfassung den gesetzgebenden Gremien erteilt (vgl. Art. 4 und 5 des Gesetzes über die Regelung des Inkrafttretens der Verfassung der UdSSR), den Wunsch, die Bedeutung des Gesetzes als Rechtsquelle in der Normenhierarchie nachhaltig aufzuwerten und insgesamt die Staatsordnung auf eine festere rechtliche Grundlage zu stellen. Davon angestoßen sind durch die umfangreichen Gesetzgebungspläne von 1978 und 1986 beträchtliche Teile des sowjetischen Staatsrechts in der Form des Gesetzes kodifiziert und erneuert worden. Dies hat gleichzeitig zu einer gewissen Stärkung der materialen Rechtsidee im Sowjetstaat gegenüber den ihn prägenden Phänomenen des Rechtsnihilismus geführt.

Die Sowjetverfassung unterscheidet sich prinzipiell von der Verfassung des demokratischen Rechtsstaates. Anders als jener hat sie nicht die Funktion, die Macht durch das Recht zu binden, sie durch das Recht zu beschränken und zu mäßigen, den politischen Prozeß durch feste Regeln zu zivilisieren und zu kanalisieren. Zwar erfüllt auch die Sowjetverfassung normative Funktionen, aber sie bestehen darin, Staatsorgane, gesellschaftliche Organisationen, Arbeitskollektive und alle Bürger in geordneter Weise unter der Führung der Partei für die Erfüllung der für alle verbindlichen einheitlichen staatspolitischen Aufgaben zu motivieren, zu mobilisieren und dafür organisatorisch in Form zu bringen. Die Verfassung dient nicht der Sicherung von Freiheit und Menschenrechten durch Gewaltenteilung und Verhinderung von Willkür, sondern im Gegenteil der Steigerung der Staatsmacht zum Zweck ihrer höchsten Kraftentfaltung zum – angeblichen – Wohle des gesamten Volkes.

Otto Luchterhandt