'Appell an das sowjetische Volk' des Staatskomitees für den Ausnahmezustand in der UdSSR (GKČP), 18. August 1991

Einführung

Kaum war der GlossarPutsch vom August 1991 niedergeschlagen, als eine Welle von Veröffentlichungen einsetzte, darunter Memoiren der meisten seiner aktiven Teilnehmer, die Dutzende von Versionen und Bewertungen dieses Ereignisses enthielten. Unter dieser Vielfalt von Stellungnahmen sind drei Grundhaltungen auszumachen. So stellen die Autoren, die sich zum demokratischen Lager hingezogen fühlen, (einer von ihnen ist R. Pichoja) das GlossarGKČP als den Versuch eines reaktionären Umsturzes, als "Putsch" dar. Als eine der Hauptursachen der "Verschwörung" nannten sie die Angst einer Reihe von Staatsmännern vor dem Amtsverlust, der nach der Unterzeichnung des GlossarUnionsvertrages erfolgen konnte. Dagegen hielten die Mitglieder des GKČP und die Publizisten, die sie unterstützten (so z.B. S. Kurginjan), ihren Auftritt im August 1991 für einen schlecht vorbereiteten, fast spontanen Versuch, den Zerfall der Sowjetunion aufzuhalten. Darüber hinaus wurde ein breites Spektrum an politisch neutralen Interpretationen des Putsches vertreten, die sich darum bemühten, die "Schattenseite der Ereignisse", die Ursachen der widersprüchlichen Handlungen des GKČP und, umgekehrt, der Entschlossenheit der Demokraten zu rekonstruieren. Nach wie vor umstritten bleibt die Rolle, die der sowjetische Staatspräsidenten GlossarMichail Gorbačevs bei den Ereignissen spielte; so wurde ihm nicht zuletzt unterstellt, er sei in die Pläne des GKČP eingeweiht gewesen und habe keinen Widerstand dagegen geleistet.

Unabhängig davon, für welche Interpretation man sich entscheidet: Die tiefe Krise der Reformpolitik Gorbačevs, die eskalierende wirtschaftliche und soziale Krise und die zentrifugalen Tendenzen in der UdSSR stellten die eigentlichen Ursachen des Putsches dar. Nachdem sie mit der Perspektive des Zerfalls der UdSSR bzw. ihrer Verwandlung in eine Konföderation konfrontiert worden waren, hätten die höchstrangigen Führer der Union weniger aus persönlichen Interessen (sie alle hätten einen Platz unter neuen Bedingungen finden können) als aus ideellen Motiven handeln und die Interessen der Gegner des Zerfalls verteidigen müssen. Zu diesem Zeitpunkt jedoch befanden sich nicht mehr die fähigsten Politiker am "Unionsolymp", denn die flexibelsten Führer der GlossarKPSS wechselten bereits auf die Seite des "demokratischen Lagers".

Am 17. August 1991 versammelte sich eine Gruppe der späteren GKČP-Mitglieder zu einer Sitzung und faßte den Beschluß, Gorbačev zum einem autoritären Kurswechsel in der Politik zu bewegen, um die UdSSR zu erhalten. Dabei maßen sie dem Umstand Bedeutung bei, daß Gorbačev mit der in der letzten Zeit zu beobachtenden Schwächung seiner Macht ebenfalls unzufrieden war und nichts dagegen hatte, wenn man den Druck der regionalen Eliten auf das Moskauer Zentrum minderte.

Am 18. August trafen bei Gorbačev, der sich gerade in seinem Urlaub in Foros aufhielt, der Sekretär des GlossarCK der KPSS GlossarO. Šenin, der stellvertretende Vorsitzender des GlossarVerteidigungssowjets der UdSSR GlossarO. Baklanov, der ehemalige Leiter des Präsidentenapparats GlossarV. Boldin, der Leiter des GlossarBewachungsdienstes des KGB der UdSSR GlossarJu. Plechanov, der Glossarstellvertretende Verteidigungsminister der UdSSR GlossarV. Varennikov und andere ein. Sie verlangten vom Präsidenten, den Ausnahmenzustand im Land zu erklären. Wie die Teilnehmer des Gesprächs später erzählten, antwortete Gorbačev unbestimmt, riet zu handeln, die ihm vorgelegten Dokumente über die Einführung des Ausnahmezustandes unterzeichnete er jedoch nicht. Daraufhin wurden in Gorbačevs Feriendomizil alle Leitungen abgestellt. Gorbačevs Wachmannschaft blieb aber dem Präsidenten treu, so daß seine "Isolation" auf Foros eine rein nominelle blieb. Man dachte, die Nichteinmischung in die Aktivitäten des GKČP würde Gorbačev freie Hand lassen. Nach der entschiedenen Attacke des GKČP auf Demokraten und Separatisten hätte die Unionsführung ohnehin Verhandlungen mit den westlichen Ländern und den sowjetischen Eliten führen müssen, was Gorbačev die Möglichkeit einer "Rückkehr nach der Krankheit" gewährt hätte.

Am frühen Morgen des 19. August 1991 erfuhr das Land aus den Mitteilungen aller offiziellen Medien, Michail Gorbačev könne aufgrund seines Gesundheitszustandes die Verpflichtungen des Präsidenten der UdSSR nicht wahrnehmen, deshalb seien seine Vollmachten auf den Vizepräsidenten GlossarGennadij Janaev übergangen. Außerdem – so hieß es weiter – sei der Beschluß gefaßt worden, in den einzelnen Regionen des Landes vom 19. August, 4 Uhr Moskauer Zeit an den Ausnahmezustand für die Frist von sechs Monaten einzuführen. Die politische Führung des Landes habe ein Staatskomitee für den Ausnahmezustand in der UdSSR (GKČP der UdSSR) übernommen, das sich aus folgenden Personen zusammensetzt: Baklanov, O.D. – stellvertretender Vorsitzender des Verteidigungssowjets der UdSSR, GlossarKrjučkov, V.A. – Vorsitzender des GlossarKGB der UdSSR, GlossarPavlov, V.S. – Premierminister der UdSSR, GlossarPugo, B.K. – Innenminister der UdSSR, GlossarStarodubcev, V.A. – Vorsitzender der GlossarBauernunion der UdSSR, GlossarTizjakov, A.I. – Präsident der GlossarAssoziation der Staatsbetriebe und der Objekte der Industrie, des Bauwesens, des Transports und der Kommunikation der UdSSR, GlossarJazov, D.T. – Verteidigungsminister der UdSSR, Janaev G.I. – Interimspräsident der UdSSR. Die wichtigsten Dokumente des GKČP waren von Beratern und Mitarbeitern der Initiatoren des Umsturzes vorbereitet und in der (bereits erwähnten) Sitzung vom 17. August 1991 diskutiert worden.

Am 19. August 1991 wurden Panzereinheiten und Truppen nach Moskau verlegt, die die wichtigsten Staatsbehörden unter ihre Bewachung stellten. Kein bedeutender Führer der Demokraten wurde dabei verhaftet. Das GKČP versuchte, sie unter Druck zu setzen, hielt sich jedoch mit direkten Repressionen zurück. Nach einer anderen Version der Ereignisse weigerte sich die Einsatzgruppe des KGB Glossar"Alfa", den Befehl zur Verhaftung von GlossarBoris El'cin auszuführen. Doch dem KGB standen auch andere Gruppen zu Befehl. Man behauptet, daß El'cin und seine Umgebung von ihren Anhängern in der Unionsführung im voraus informiert worden waren, daß keine Repressionen gegen die Demokraten geplant seien und das GKČP nur der "Abschreckung" diene.

Das GKČP beschloß, einige Zeitungen und Zeitschriften zeitweilig zu schließen und nur folgende erscheinen zu lassen: Glossar"Trud", Glossar"Rabočaja tribuna", Glossar"Izvestija", Glossar"Pravda", Glossar"Krasnaja zvezda", Glossar"Sovetskaja Rossija", Glossar"Moskovskaja pravda", Glossar"Leninskoe znamja", Glossar"Sel'skaja žizn'".

Im Land selbst wurden die Aktionen des GKČP als ein Staatsstreich begriffen. Der Manege-Platz und der Platz vor dem Zentraleingang in das Haus der Sowjets der RSFSR ("Weißes Haus") in Moskau füllten sich mit Menschen. Boris El'cin traf ein und verlaß seine Ansprache "An die Bürger Rußlands", in der es hieß, daß Gewaltmethoden bei der Lösung politischer Fragen unakzeptabel seien; daß alle Entscheidungen des GKČP für illegitim erklärt würden; daß die unverzügliche Einberufung des GlossarVolksdeputiertenkongresses der UdSSR notwendig sei. El'cin rief zum fristlosen Streik auf und verlangte ein unabhängiges medizinisches Gutachten über Gorbačevs Gesundheit, da die Legitimität des GKČP fast ausschließlich durch seine Krankheit begründet wurde. Man begann, vor dem "Weißen Haus" Barrikaden zu errichten. Die Zehntausende von Menschen, die hier wachten, waren bereit, das "Haus" zu verteidigen.

Der "Appell an das sowjetische Volk" des GKČP ist auf den 18. August 1991 zurückzudatieren und wurde am 20. August 1991 veröffentlicht. Über seine wichtigsten Grundsätze wurde in der Sitzung des GKČP vom 17. August 1991 abgestimmt, die endgültige Fassung jedoch erst später ausgearbeitet.

Der Appell enthielt eine scharfe Kritik an den Ergebnissen der Gorbačevschen Reformen, verwendte dabei aber auch die Lexik der Perestrojka. Das GKČP versprach, "den Entwurf des neuen Unionsvertrages einer breiten Volksaussprache vorzulegen"; die sozialen Rechte der Werktätigen zu schützen und gleichzeitig Unterstützung für private Unternehmer zu leisten; weiterhin für "die Festigung und den Schutz der Rechte der Persönlichkeit" zu sorgen. Alles in allem handelte es sich dabei um eine merkwürdige Symbiose demokratischer und paternalistischer Parolen.

Die Aufzählung der akuten Probleme, mit denen die sowjetische Bevölkerung konfrontiert wurde, hatte in vielerlei Hinsichten ihre Berechtigung, war jedoch nicht originell. So gut wie alle politischen Bewegungen sprachen über dieselben Probleme, wiesen lediglich auf andere negativen Folgen des politischen Kurses Gorbačevs hin. Auch in der Gesellschaft gab es bereits viele Erklärungen für diese Mißstände und noch mehr Ratschläge zur Behandlung der sozialen Krankheiten. Von politischen Programmen dieser Zeit unterschied sich der Appell des GKČP durch größere Geschwätzigkeit, da er keine konkreten Wege für die Umgestaltung aufzeigte, sondern nur Verbotsmaßnahmen traf, denen niemand ohne Widerstand folgten wollte.

Die programmatischen Grundsätze des GKČP waren zum Teil wenig überzeugend. Die Aufforderungen, sich "konkreten Taten" zu widmen, klangen aus dem Mund der höchsten Amtsträger der Perestrojkazeit wenig überzeugend. Der moralische Appell war in Anbetracht einer massiven Kritik an der politischen Praxis des Kommunismus zum Mißerfolg verurteilt. Der im Appell unternommene Versuch einer Synthese von sowjetisch-kommunistischen, großmachtpolitisch-patriotischen und gemäßigt-liberalen Stereotypen brachte eine widersprüchliche Konstruktion hervor, die sich einerseits auf Mythen, die im gesellschaftlichen Massenbewußtsein bereits diskreditiert waren, andererseits auf konservative Stereotypen stützte, die dem Massenprotest erst nach dem Machttransfer auf die Liberalen zugrunde liegen werden.

In dem Maße, in dem sich die liberalen Reformen radikalisierten, die soziale Differenzierung zunahm und die UdSSR zerfiel, wurden die ideologisch aufgeladenen Stellen des Appells – allerdings ohne die ursprünglichen rhetorischen Verbeugungen vor der "Bourgeoisie" und der "Freiheit der Persönlichkeit" – zum festen Ideenbestand der großmachtpolitisch-patriotischen und kommunistischen Bewegungen.

Der Appell spielte keine große Rolle bei der Bestimmung der Position, die die politisch aktiven Personen zum GKČP einnahmen. Er wurde zu einem Zeitpunkt publik gemacht, als man in Moskau bereits begonnen hatte, dem Regime des GKČP massenhaft die Gefolgschaft zu verweigern. Der Appell hätte den Protest schwächen und die Massen zur Unterstützung des konservativen Kurses mobilisieren sollen. Doch dieses Ziel wurde nicht erreicht. Sein widersprüchlicher Charakter und die Dominanz der Demokraten in der politischen Bewegung schlossen definitive Auftritte zur Unterstützung des GKČP aus. Für die demokratische Öffentlichkeit wurde der Appell zur schlechten Neuauflage der Aufrufe zur Ordnung, wie sie zuvor von der kommunistischen Führung ausgegangen sind. Den liberalen Zusicherungen, die der Text enthielt, schenkte man kein Vertrauen, und die darin verkündeten konservativen Grundsätze wurden als ein weiterer Beweis für den reaktionären Charakter des Regimes aufgefaßt. Somit hat der Appell nur Öl ins Feuer gegossen. Die wichtigste Rolle hinsichtlich der Mobilisierung der Demokraten zum Widerstand spielten jedoch nicht Worte, sondern Taten und später die Tatenlosigkeit des neuen Regimes.

Als die Mitglieder des GKČP auf entschiedenen Widerstand stießen, wußten sie nicht, was sie tun sollten. Janaev zitterten während seines Auftritts bei der Pressekonferenz die Hände, was dem ganzen Land die psychologische Schwäche der Diktatur zeigte.

In den Regionen Rußlands und in den Unionsrepubliken der UdSSR rief der Staatsstreich widersprüchliche Reaktionen hervor. Ein Teil ihrer Führern hatte das GKČP anerkannt, ein anderer eine abwartende Haltung eingenommen. Die meisten Staaten des Westens verurteilten das GKČP entschieden. Das russische Parlament erklärte GKČP für vogelfrei. Den Verteidigern des "Weißes Hauses" schlossen sich einige Panzer an (nach einer anderen Version veränderten sie lediglich ihre Stellung).

Angesichts der Blockade wagten die Führer des GKČP den Sturm auf das "Weiße Haus" nicht. Bei der Durchfahrt von Schützenpanzern durch den Gartenring kam es im der Nacht zum 21. August zu Zusammenstößen zwischen Soldaten und Demonstranten, bei denen drei Demonstranten getötet wurden.

Am frühen Morgen des 21. August 1991 gab das GKČP den Abzug der Truppen aus Moskau bekannt. Seine Führer begaben sich nach Foros, um zu einer Einigung mit Gorbačev zu kommen. Hinterher wurde eine bewaffnete Delegation der Anhänger El'cins mit GlossarAleksandr Ruckoj an der Spitze geschickt. Sie verhafteten einige Führer des GKČP. Die anderen wurden in Moskau verhaftet. Bei einem Festnahmeversuch am 22. August 1991 erschoß sich der Innenminister der UdSSR Pugo.

Zentrale Straßen in Moskau waren überfüllt mit Menschen. Eine Menschenmenge stürzte das Denkmal des Gründers der sowjetischen Geheimpolizei GlossarFeliks Dzeržinskij auf dem Lubjanka-Platz. Am 22. August 1991 flog Gorbačev nach Moskau zurück. Er wußte noch nicht, daß er die reale Macht im Lande verloren hatte. Sie ging auf die Führer der Unionsrepubliken und in erster Linie auf Boris El'cin über.

Aleksandr Šubin

(Übersetzung aus dem Russ. von L. Antipow)