Einführung:Generalplan Ost

Aus 1000 Schlüsseldokumente
Wechseln zu: Navigation, Suche


von: Ariane Leendertz, 2011


Der Mord an den Juden und die Siedlungs- und Neuordnungsplanungen im Osten Europas während des Zweiten Weltkrieges, deren Rahmen die diversen Varianten des Generalplans Ost absteckten, griffen ineinander und waren untrennbar durch die Klammer rassenideologischer Zielsetzungen verbunden. Nach dem Beginn des deutschen Russlandfeldzuges rechneten die Rasse- und Siedlungsexperten der SS damit, dass ihnen nach dem erwarteten Sieg neue, riesige Räume zur Besiedlung und zur wirtschaftlichen Ausbeutung zur Verfügung stehen würden. Hier setzten die verschiedenen Versionen des „Generalplans Ost“ an, die in den Jahren 1941 und 1942 im Planungsamt des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums (RKF) und im Reichssicherheitshauptamt entstanden.

Nur zwei Tage nach dem Überfall auf die Sowjetunion erhielt Konrad Meyer, Leiter des Planungsamtes beim RKF, von Heinrich Himmler den Auftrag, eine erweiterte Fassung seiner „Planungsgrundlagen für den Aufbau der Ostgebiete“ anzufertigen, die er im Januar 1940 für die Eingliederung annektierter westpolnischer Gebiete ins Deutsche Reich ausgearbeitet hatte. Der Agrarwissenschaftler Meyer, geboren 1901, SS-Mitglied seit 1932 und führender Kopf der nationalsozialistischen Raumforschung, war zu Kriegsbeginn ein einflussreicher Wissenschafts- und Multifunktionär, unter anderem als Leiter der Fachsparte für Landbauwissenschaft und allgemeine Biologie des Reichsforschungsrates, als Referent im Reichsministerium für Erziehung, Wissenschaft und Volksbildung, als Leiter der Dachorganisation der Agrarwissenschaften, des sogenannten „Forschungsdienstes“, und als Ordinarius sowie Direktor des Instituts für Agrarwesen und Agrarpolitik an der Berliner Universität.

Während sich Meyers „Planungsgrundlagen“ vom Januar 1940 lediglich auf die westpolnischen, sogenannten „eingegliederten Ostgebiete“ bezogen hatten, ging es in der neuen, erstmals als „Generalplan Ost“ bezeichneten und nicht überlieferten Planversion vom 15. Juli 1941 um die Eindeutschung des Generalgouvernements sowie der östlich angrenzenden Gebiete. Wesentlich ausgreifender und radikaler angelegt, folgte im November 1941 ein weiterer, ebenfalls nicht überlieferter „Generalplan Ost“ aus dem Reichssicherheitshauptamt, der als übergeordnetes Planungsziel die Germanisierung nicht nur des Generalgouvernements, sondern zusätzlich des Baltikums, Galiziens, Weißrusslands, der westlichen Ukraine und des Gebiets um Leningrad vorsah. Wie sich aus zwei Kommentaren des Referenten für Rassenpolitik im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete, Dr. Erhard Wetzel, vom April 1942 schließen lässt, sollten aus dem besetzten Raum innerhalb von 30 Jahren sage und schreibe 31 Millionen „fremdvölkische“ Menschen „ausgesiedelt“ werden, für die rund 4,5 Millionen überwiegend volksdeutsche Siedler nachrücken sollten.

Während die Planungen für die eingegliederten Ostgebiete das bevölkerungspolitische Projekt der Eindeutschung mit einer strukturellen Modernisierung verknüpften, wurden die Neuordnungspläne für die besetzten sowjetischen Gebiete letztlich komplett dem Primat der Germanisierung untergeordnet. Die Ziele und Prämissen der Planungen offenbarten sich deutlich in einer weiteren Fassung des Generalplans Ost, die Meyers Planungsabteilung in Zusammenarbeit mit seinem Berliner Universitätsinstitut und mit finanzieller Unterstützung durch die DFG nach mehrmonatiger Arbeit im Juni 1942 vorlegte. Diese Fassung ist erhalten, heute im Bundesarchiv archiviert und hier im Anhang zu lesen. Im Auftrag Himmlers sollte Meyer nicht nur eine Kostenkalkulation durchführen, sondern außerdem die ausgreifenden Planungsvorschläge des Reichssicherheitshauptamtes berücksichtigen. Doch der weitaus größte Teil dieses Generalplans blieb den eingegliederten Ostgebieten gewidmet; mit den Zielen, den räumlichen Ordnungsvorstellungen sowie den geschätzten „Aufbaukosten“ in den besetzten Gebieten befasste sich nur der letzte Abschnitt des Planes, der hier insgesamt eher vage blieb. Die beinahe unübersehbare Größe des eroberten Raumes scheint dabei schon fast eine gewisse Ratlosigkeit bei Meyer und seinen Mitarbeitern hervorgerufen zu haben. Die damaligen Standards der Raumforschung kamen in diesem Teil des Plans jedenfalls nicht zum Tragen: Von einem perfekten Netz aus zentralen Orten, von optimaler Bevölkerungsdichte und Wirtschaftsstruktur, von einer exakten Berechnung der Tragfähigkeit und damit von Modellen, die man für die eingegliederten Ostgebiete ausführlich durchgerechnet hatte, war keine Rede. Das übergeordnete Ziel war es vielmehr, die Gebiete in einem Zeitraum von 25 bis 30 Jahren „einzudeutschen“. Dazu sollten zunächst Westlitauen und der Bezirk Bialystok, der ukrainische „Gotengau“ (Krim und Chersongebiet) sowie das „Ingermanland“ (Leningrader Raum) zu drei „Siedlungsmarken“ ausgebaut werden und im Generalgouvernement, im Baltikum und in der Ukraine im Abstand von jeweils hundert Kilometern entlang von Hauptverkehrslinien 36 „Siedlungsstützpunkte“ (zugleich SS- und Polizeistützpunkte) entstehen.

Im riesigen sowjetischen Raum vergrößerte sich nun aber nicht allein der Bedarf an deutschen und eindeutschbaren Siedlern. Gleichzeitig vervielfachte sich die „unerwünschte“ jüdische und slawische Bevölkerung. Neben der „Leistungszucht“ legte der Generalplan deshalb als Alternative zur bisherigen Praxis der „Evakuierungen“ – gemeint waren Zwangsumsiedlungen, Ghettoisierung und Deportationen – eine „Befriedung“ von Teilen der einheimischen Bevölkerung nahe, indem man sie auf Kolchose- und Sowchoseland ansiedelte. Mit dem Ausdruck „Befriedung“ trat hier ein neuer verschleiernder SS-Euphemismus an die Stelle eines anderen. Auch dieser Generalplan Ost rechnete mit der Abwesenheit von Millionen von Menschen, beispielsweise im Leningrader „Ingermanland“, dessen künftige Stadtbevölkerung Meyer mit 200 000 ansetzte – gegenüber 3,2 Millionen im Jahr 1939. Außerdem sollten „Tributleistungen“ der Besiegten den „kolonnenmäßigen Einsatz“ von hunderttausenden von Kriegsgefangenen und fremdvölkischen Arbeitskräften umfassen, wodurch „wesentliche Mittel eingespart“ würden.

Auf zahlreichen Reisen machte sich Konrad Meyer persönlich ein Bild vor Ort. Als etwa im Spätsommer 1941 die Vorbereitungen für die Deportation aller Juden im deutschen Herrschaftsbereich anliefen, kam er zunächst mit dem Dienststellenleiter des RKF Ulrich Greifelt zu einer Besprechung mit Himmler über das Thema „Judenfrage. Ostsiedlung“ zusammen. Zwei Tage später begleitete Meyer Himmler auf einer dreitägigen Inspektionsreise ins Baltikum. Eine zweiwöchige Reise in die Ukraine Ende Juni 1943 begann Meyer im Bezirk Žitomir, wo sich Hegewald, Himmlers Hauptquartier im Osten, befand. Der Bezirk gehörte zu jenen Gebieten, in denen Teile des Generalplans Ost noch während des Krieges umgesetzt werden sollten. 1942 wurden hier so knapp 15 000 Ukrainerinnen und Ukrainer vertrieben und an ihrer Stelle etwas mehr als 10 000 Volksdeutsche angesiedelt. Den Kreis Zamość im Distrikt Lublin erklärte Himmler im November 1942 zum ersten deutschen „Großsiedlungsgebiet“ im Generalgouvernement. Hier offenbarte sich der Zusammenhang von Germanisierung, Siedlungsplanung und Vernichtung in seiner ganzen Deutlichkeit. Zamość sollte Himmlers Prestigeobjekt und Versuchsmodell sein, das Tor nach Russland und in die Ukraine, das Zentrum eines SS-Imperiums vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer. Zuvor war der Distrikt Lublin, in dem die Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Madjanek lagen, seit März 1942 zu einem Versuchsgebiet beim Mord an den Juden geworden. 700 000 von ihnen fanden hier den Tod.

Der Kriegsverlauf, zunehmende Partisanentätigkeit und Widerstand der Bevölkerung sorgten dafür, dass der systematische Aufbau einer deutschen Siedlungslandschaft in Žitomir, in Zamość und auch im transnistrischen Vinnica letztlich in den Anfängen steckenblieb. Auch ein geographisch noch weiter ausgreifender „Generalsiedlungsplan“, an dem Meyer und Kollegen bis Kriegsende arbeiteten, wurde nicht mehr fertiggestellt. Dass der Generalplan Ost und die übrigen Arbeiten des Planungsamtes beim RKF nie umgesetzt worden seien, dass es sich um reine wissenschaftliche Theorie oder bestenfalls um „Friedensplanungen“ für eine entfernte Nachkriegszeit gehandelt habe, bildete 1947 den Kern von Konrad Meyers Verteidigungsstrategie im achten Nachfolgeprozess vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg. In diesem sogenannten „RuSHA-Case“ oder „Volkstumsprozess“ stand die Germanisierungspraxis in Osteuropa im Mittelpunkt. Neben Meyer waren dreizehn Angehörige des RKF-Stabshauptamtes, des Rasse- und Siedlungshauptamtes, der Volksdeutschen Mittelstelle und des „Lebensborn“ angeklagt.

Die letztlich erfolgreiche Verteidigungsstrategie Meyers und seines Anwalts Kurt Behling hob darauf ab, dass die Arbeit des Planungsamtes auf die Zeit nach dem Krieg ausgerichtet gewesen sei und keinerlei Bedeutung für die Gegenwart gehabt habe. Meyer, so seine Mitarbeiter und Kollegen, die als Entlastungszeugen auftraten, habe sich allein auf wissenschaftliche Vorarbeiten beschränkt, das Planungsamt sei vollkommen „unpolitisch“ und die Planungen seien „wissenschaftlich-theoretischer Natur“ gewesen; mit Aus- und Umsiedlungen habe das Planungsamt nichts zu tun gehabt und sich mit Fragen der Behandlung fremden Volkstums überhaupt nicht befasst. Wie in seinen Urteilen gegen die Vertreter des Rasse- und Siedlungshauptamtes konzentrierte sich das Gericht auf die praktische Mitwirkung Meyers an der Volkstums- und Germanisierungspolitik, und diese Sichtweise prägte die Beurteilung des Generalplans Ost. Neben den beiden Kommentaren von Erhard Wetzel, die die Planvariante des Reichssicherheitshauptamtes betrafen, lag im Verfahren lediglich eine sechsseitige Zusammenfassung Meyers vom 28. Mai 1942 vor.

Das Gericht folgte den Aussagen der Verteidigung, dass der Generalplan Ost niemals Wirklichkeit geworden sei. Und da ihm die Anklage weder eine aktive Beteiligung an Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie etwa Zwangsabtreibungen, Kindesentführungen, Sklavenarbeit oder der Vernichtung der Juden noch an Kriegsverbrechen nachweisen konnte, wurde Meyer schließlich nur der Mitgliedschaft in einer verbrecherischen Organisation, der SS, schuldig gesprochen. Mit der Internierungshaft seit 1945 war die Strafe im März 1948 abgegolten. 1949 als Mitläufer entnazifiziert, verdingte sich Meyer einige Jahre in einem Saatzuchtbetrieb und erhielt außerdem Forschungsaufträge der Akademie für Raumforschung und Landesplanung Hannover, Nachfolgeorganisation der bis 1939 von ihm selbst geleiteten Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung. 1956 berief die Universität Hannover Meyer auf einen Lehrstuhl für Landbau und Landesplanung, den er zum Institut für Landesplanung und Raumforschung ausbaute. In der Akademie für Raumforschung und Landesplanung blieb er die graue Eminenz im Hintergrund, etwa als Mitglied diverser Forschungsausschüsse, in der Redaktion der bis 1945 von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Raumforschung und Raumordnung“ und als federführender Redakteur des grundlegenden „Handwörterbuchs der Raumforschung und Raumordnung“, das 1966 einbändig in erster Auflage und 1970 dreibändig in zweiter Auflage erschien.


Text: CC BY-SA 4.0

[Русская версия отсутствует]