Einführung: Aufruf des Militärischen Revolutionskomitees „An die Bürger Russlands“
In der sowjetischen Geschichtsschreibung dominierte eine apologetische Sicht auf die Alternativen Lenins und der bolschewistischen Partei. Der „Aufruf“ wurde als ein Dokument bewertet, das den Weg für die lang ersehnten revolutionären Veränderungen im Land ebnete. In der westlichen Historiographie hing die Bewertung des Dokuments von der Haltung des jeweiligen Autors zum bolschewistischen Regime ab. So hielten die Kritiker der Bolschewiki wie R. Pipes deren politische Forderungen für reine Demagogie, während Historiker wie E. Carr, die der Oktoberrevolution mit einer gewissen Sympathie gegenüberstanden, die Leninschen Dokumente wohlwollend aufnahmen. Eine akribische Untersuchung der Ereignisse vom Oktober 1917 legte der amerikanische Historiker A. Rabinowitch vor. Er zeigte die Hintergründe der Bildung des Militärischen Revolutionskomitees (VRK) auf und skizzierte die Umstände, die einerseits die Machtergreifung der Bolschewiki beschleunigten und andererseits die Alternativen einer den Sowjets verantwortlichen sozialistischen Koalitionsregierung „platzen ließen“.
Nach der Niederschlagung des Kornilov-Putsches und der Ausschaltung der „rechten Gefahr“ für die Provisorische Regierung bemühte sich Aleksandr Kerenskij, auch der „linken Gefahr“, d.h. den Bolschewiki und ihren Verbündeten, ein Ende zu setzen. Diese bereiteten sich unterdessen auf die Machtübernahme vor. Da die grundlegenden Probleme, die vor der Revolution bestanden, nicht gelöst wurden und sich die wirtschaftliche und soziale Lage weiter verschlechterte, verlor die Provisorische Regierung allmählich ihre Massenbasis, während die Empfänglichkeit der Bevölkerung für die radikalen Parolen der Bolschewiki wuchs. Unter diesen Umständen beschloss die Provisorische Regierung, einen großen Teil der Petrograder Garnison an die Front zu verlegen, wobei sie nach außen hin den Eindruck erwecken wollte, diese Maßnahme sei durch die Niederlage der russischen Armee und die Kriegshandlungen der Deutschen im Baltikum veranlasst worden. Die Linke unterstellte Kerenskij jedoch, Petrograd den Deutschen ausliefern und so die Revolution niederschlagen zu wollen. Gleichzeitig kursierten Gerüchte über den geplanten Umzug der Provisorischen Regierung nach Moskau und die Aufgabe Petrograds.
Am 9. (22.) Oktober 1917 befasste sich das Exekutivkomitee des Petrograder Stadtsowjets mit der Frage der Verteidigung Petrograds und der unbefriedigenden Arbeit der Regierung, die einen „zweiten Kornilov-Putsch“ vorbereitete. Als Ergebnis der Debatten legten die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre eine gemeinsame Resolution vor, in der sie dazu aufriefen, die Verlegung der Truppeneinheiten an die Front vorzubereiten und gleichzeitig ein Komitee zur Untersuchung der Verteidigungsfrage zu bilden, wobei die Garnison für den Fall eines Widerstands gegen die Regierung oder einer deutschen Offensive in Kampfbereitschaft gehalten werden sollte. Die Bolschewiki antworteten mit ihrer eigenen, von Trockij verfassten Resolution, die den schnellstmöglichen Friedensschluss forderte. Der Regierung wurde vorgeworfen, sie sei bereit, Petrograd den Deutschen zu überlassen. Die einzige Möglichkeit, den Untergang des Landes zu verhindern, sei – so die Resolution – die Machtübernahme durch die Sowjets. Der Beschluss sah auch die Bildung eines Revolutionären Verteidigungskomitees vor, das fortan für die „revolutionäre Verteidigung“ Petrograds zuständig sein und die Bewaffnung der Arbeiter organisieren sollte – um die „Sicherheit des Volkes“ angesichts der „von Militärs und Anhängern Kornilovs in aller Öffentlichkeit“ vorbereiteten Angriffe zu gewährleisten. Während sich das Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets mit knapper Stimmenmehrheit für die Position der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre aussprach, gewann im Plenum des Petrograder Sowjets die Resolution der Bolschewiki.
Am 10. (23.) Oktober fand eine Sitzung des bolschewistischen CK statt, auf der Lenin, der nach langer Unterbrechung wieder in das höchste Parteigremium zurückgekehrt war, sich für die Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes und die Machtübernahme durch die Sowjets aussprach. Für den Fall, dass seine Forderung keine Unterstützung finden sollte, drohte er dem CK mit seinem Rücktritt. Tatsächlich fand er in den CK-Mitgliedern Lev Kamenev und Grigorij Zinov'ev zwei prominente Gegner, die den bewaffneten Aufstand ablehnten. Unterstützt von Lev Trockij setzte sich Lenin dennoch durch: In den Sitzungen vom 10. (23.) Oktober und in größerer Besetzung am 16. (29.) Oktober 1917 verabschiedete das CK eine Resolution zum bewaffneten Aufstand.
Die Bolschewiki setzten nun auf einen „friedlichen“ und in gewisser Weise sogar „verfassungsmäßigen“ Aufstand, der sich auf den Sowjetkongress stützte, der den Sturz der Regierung „legitimieren“ sollte. Der Kongress schien der geeignete politische Deckmantel für den Aufstand zu sein, zumal die Losung „Alle Macht den Sowjets“ zu dieser Zeit wieder große Popularität erlangte und die Aktionen gegen die Regierung als Verteidigung der Sowjets erscheinen sollte.
Am 11. (24.) Oktober stand in der Militärabteilung des Petrograder Sowjets die Frage eines Militärischen Revolutionskomitees auf der Tagesordnung. Am 12. (25.) Oktober setzten die Bolschewiki den Beschluss über seine Gründung als „Verteidigungsorgan“ des Sowjets durch. Als formeller Vorwand diente die Notwendigkeit, alle Kräfte für die Verteidigung gegen die Deutschen zu sammeln, und die Verordnung der Regierung über die Verlegung der Truppen der Petrograder Garnison an die Front. Der Arbeitsplan des VRK sah jedoch weder die Bewaffnung der Arbeiter noch den Sturz der Regierung vor.
Dem Komitee gehörten neben den Bolschewiki Vertreter des linken Flügels der Sozialrevolutionäre, der Sowjets, der Betriebskomitees, der Gewerkschaften und der Armeeorganisationen an. Ein am 20. Oktober (2. November) gegründetes Büro koordinierte seine Tätigkeit. Mitglieder waren die Bolschewiki V. Antonov-Ovseenko, N. Podvojskij, A. Sadovskij und der Menschewik G. Suchar'kov; in den Tagen der Oktoberrevolution wurde das VRK unter anderem von Trockij geleitet. Zum Vorsitzenden des Büros wurde P. Lazimir ernannt, der auch den Vorsitz des VRK übernahm. Mit der Ernennung eines Linken Sozialrevolutionärs sollte der überparteiliche Charakter des VRK unterstrichen werden. Etwa zur gleichen Zeit, am 16. (29.) Oktober 1917, wählte das CK der Bolschewiki ein Militärisches Revolutionszentrum, das Ja. Sverdlov, I. Stalin, A. Bubnov, M. Urickij und F. Dzeržinskij zu seinen Mitgliedern zählte und dem Revolutionskomitee des Sowjets unterstand.
Am 21. Oktober (3. November) erkannte die revolutionäre Petrograder Garnison – mit Ausnahme des Stabes des Petrograder Militärbezirks – das VRK als ihr Führungsorgan an und erklärte die nicht vom VRK unterzeichneten Garnisonsbefehle für unrechtsmäßig. Das Kommando des Petrograder Militärbezirks bemühte sich um eine friedliche Lösung der konfliktbeladenen Situation und nahm Verhandlungen mit der Garnisonsversammlung auf. Am 22. Oktober (4. November) 1917 wurde Petrograd von einer Welle von Kundgebungen zur Unterstützung der linken Kräfte überrollt. Angesichts dieser Situation schlug Kerenskij vor, das VRK aufzulösen und seine Mitglieder zu verhaften. Entgegen seinem Vorschlag wurde jedoch beschlossen, die Verhandlungen mit den Komiteevertretern fortzusetzen. In der Zwischenzeit ernannte das VRK seine Kommissare zu Militäreinheiten. Am 23. Oktober (5. November) 1917 erließ das Komitee einen Beschluss, der seinen Kommissaren ein Vetorecht gegen alle Befehle der Militärführung einräumte. Die Linken Sozialrevolutionäre behinderten weder die Bolschewiki bei der Vorbereitung eines bewaffneten Umsturzes, noch beteiligten sie sich an der Tätigkeit des Komitees, da sie die Vorbereitung eines „Aufstandes“ als Ausdruck von „politischem Extremismus“ betrachteten.
Ein großer Teil der Garnison folgte dem VRK, weil die Bolschewiki für einen schnellen Frieden mit Deutschland eintraten. Dass die Soldaten sie unterstützten, bedeutete aber nicht, dass sie auch bereit waren, den „imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg zu verwandeln“, wie es Lenin 1914/16 gefordert hatte.
Währenddessen war Kerenskij nach wie vor der Meinung, über ein größeres Militärpotential als die Bolschewiki zu verfügen. Am 24. Oktober (6. November) 1917 ordnete die Regierung – trotz aller Zugeständnisse des VRK – die Schließung der bolschewistischen Presseorgane an und übernahm die militärische Kontrolle über das Zentrum der Hauptstadt. Der Beginn der Offensive gegen die linken Kräfte begünstigte in vielerlei Hinsicht die Machtergreifung der Bolschewiki, denn die Teile der Petrograder Bevölkerung, die sich Lenins Partei anschlossen, taten dies nicht aus Sympathie für die Alleinherrschaft der Bolschewiki, sondern im Glauben, dass die Revolution in Gefahr war. A. Kerenskij beging den aus heutiger Sicht offensichtlichen Fehler, die Bolschewiki zu dem Zeitpunkt anzugreifen, der ihnen in den Plan passte, nämlich als die Provisorische Regierung eigentlich keine reale Macht mehr besaß. Später rechtfertigte er sein Vorgehen damit, dass er von Stabsoffizieren des Petrograder Bezirks falsch informiert worden sei, die ihrerseits den Sturz der Regierung beschleunigen wollten, um anschließend die Bolschewiki zu zerschlagen und ein autoritäres Regime zu etablieren.
Am 24.-25. Oktober (6.-7. November) besetzten Truppen unter der Kontrolle der Bolschewiki, darunter Einheiten der Roten Garde, wichtige Punkte der Hauptstadt: Telefon- und Telegrafenzentralen, Brücken und Bahnhöfe. Ein bolschewistisches Geschwader unter der Führung des Kreuzers „Aurora“ legte in der Neva an. Das militärische Übergewicht lag bei den Bolschewiki, deren Stab im Smol'nyj-Institut residierte. Die Provisorische Regierung war im Winterpalais von der Außenwelt abgeschnitten und wurde von Einheiten der Militärkadettenschulen und einem Frauenbataillon verteidigt, deren Kräfte jedoch schnell schwanden. In der Nacht zum 25. Oktober (7. November) traf Lenin in Smol’nyj ein, wo er mit der Bildung einer neuen Regierung – des Rates der Volkskommissare – begann, und am Morgen des 25. Oktober (7. November) begab sich Kerenskij an die Front, um Hilfe zu holen.
Die große Mehrheit der Bevölkerung verhielt sich auffallend gleichgültig. Ihre Apathie stand in scharfem Kontrast zu ihrem Verhalten während der Februarrevolution. Schließlich schlossen sich auch die Linken Sozialrevolutionäre dem Aufstand an.
Gleichweitig mit dem Umsturz nahm der II. Sowjetkongress seine Arbeit auf. In ihm war etwa die Hälfte aller Sowjets vertreten, die auch am I. Sowjetkongress teilgenommen hatten. Die Bolschewiki verfügten zunächst nur über die Hälfte der Mandate. Vertreter der Menschewiki und Sozialrevolutionäre kritisierten die Bolschewiki scharf, den Aufstand begonnen zu haben, und verließen aus Protest den Kongress. Mit ihnen ging aber nicht die Hälfte, sondern weniger als ein Drittel der Deputierten, denn die Linken Sozialrevolutionäre blieben. So konnte der Kongress seine Arbeit fortsetzen.
Nachdem Anhänger des rechten Spektrums den Kongress verlassen hatten, waren dort nur noch zwei Richtungen vertreten: die Radikalen, für die ein Teil der Bolschewiki und die Anarchisten standen, und die Kompromissbereiten, die von den gemäßigten Bolschewiki, den Linken Sozialrevolutionären, den Menschewiki-Internationalisten und den Führern der Eisenbahnergewerkschaft Vikžel' repräsentiert wurden. Während Lenin und seine Anhänger der Meinung waren, dass die Macht nur von einer Partei, nämlich der eigenen, übernommen werden sollte, sah ein bedeutender Teil der Abgeordneten in einer radikalen Einparteienherrschaft die Gefahr von Bürgerkrieg und Reaktion. Für sie war der Oktoberumsturz ein Mittel zur Schaffung einer sozialistischen Mehrparteienregierung, die den Sowjets verantwortlich war.
Tatsächlich hatten die Führer der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre zum Zeitpunkt des Oktoberumsturzes keine prinzipiellen Einwände gegen die ersten Dekrete des II. Sowjetkongresses. Im Gegensatz zu ihren linken Kollegen gingen die Zentristen in der RSDRP und der Partei der Sozialrevolutionäre davon aus, dass die konkreten Ergebnisse des Revolutionsprozesses weniger von programmatischen Erklärungen als von den realen Kräfteverhältnissen abhingen. Anders als im Juli 1917 hatten die gemäßigten Sozialisten jedoch nicht die Absicht, dem militärischen Druck nachzugeben. Ein solcher Schritt wäre für sie mit der Aussicht verbunden gewesen, zum Juniorpartner der Bolschewiki, zum Anhängsel des radikalen Regimes zu werden – eines Regimes, das sich sowohl auf organisierte Massen als auch auf Garnisonen im Hinterland stützte.
Im Ergebnis war der Aufstand vom 24./25. Oktober (6./7. November) von großer historischer Bedeutung, da er die Mehrheit der Menschewiki und Sozialrevolutionäre zum Verlassen des II. Sowjetkongress veranlasste und damit die Bildung einer sozialistischen Koalitionsregierung, in der die gemäßigten Sozialisten eine starke Position gehabt hätten, verhinderte. Damit waren die Voraussetzungen für die Bildung einer Einparteienregierung unter Führung der Bolschewiki geschaffen, die kaum Ansätze zur Integration anderer politischer und sozialer Kräfte erkennen ließ.
Dieses Ergebnis schien zunächst nicht endgültig zu sein. Die Befürworter eines Kompromisses suchten weiterhin nach Möglichkeiten, einen Bürgerkrieg zu vermeiden und einer sozialistischen Einheitsregierung zum Leben zu verhelfen. Der radikal-autoritäre Kern der Bolschewiki hatte jedoch bereits den entscheidenden Schritt zur Hegemonie getan und wollte seine Führungspositionen nicht aufgeben. Die gemäßigten Sozialisten ihrerseits waren nicht zum entscheidenden Kampf bereit, da sie zu Recht einen umfassenden Bürgerkrieg befürchteten und sich von den Wahlen zur Konstituierenden Versammlung eine grundlegende Änderung der bestehenden Verhältnisse erhofften. Damit wurde die Chance vertan, breite Massenbewegungen in ein pluralistisches, auf Interessenkonsens beruhendes System zu integrieren.