Einführung: Haager Landkriegsordnung: Unterschied zwischen den Versionen
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<div style="text-align:right;">''von: Daniel Marc Segesser, 2010''</div> | <div style="text-align:right;">''von: Daniel Marc Segesser, 2010 (aktualisiert 2024)''</div> | ||
Version vom 29. Oktober 2024, 09:06 Uhr
Schon von der Antike bis ins späte 18. Jahrhundert hatte es namhafte Versuche gegeben, einheitliche Regeln für das Verhalten im Krieg zu formulieren. Namhafte Publizisten wie Franciscus de Victoria, Alberico Gentili, Hugo Grotius, Samuel Pufendorf, Emeric de Vattel, Cornelis van Bynkershoeck oder Jean-Jacques Rousseau hatten sich mit der Problematik beschäftigt und zum Teil umfangreiche Werke vorgelegt, in welchen sie ihre Vorschläge auf den Tisch legten, wie solche Regeln ausgestaltet sein sollten. Es existierten auch Einzelregelungen von Fürsten oder Staaten sowie zwischenstaatliche Abkommen, welche einzelne Aspekte des Umgangs im Krieg geregelt hatten. Konkreter wurde die Sache im Rahmen der einsetzenden Verrechtlichung der innerstaatlichen Beziehungen zwischen gesellschaftlichen Akteuren. Ab dem Ende des 18. Jahrhunderts wurde in diesem Zusammenhang nämlich auch eine allgemeine Verrechtlichung der zwischenstaatlichen Beziehungen zum Thema. Einerseits ging es dabei um die Frage, wie der Friede zwischen den Staaten mit rechtlichen Mitteln, eventuell auch durch einen Bund der Staaten, gesichert werden könne, andererseits aber auch darum, inwiefern eine Begrenzung der Schrecken des Krieges durch das Mittel des Rechts möglich sei. Die beteiligten Personen konnten sich zwar nicht auf ein einheitliches Regelwerk einigen. Dennoch ist es wohl richtig, in diesem Zusammenhang mit Geoffrey Best von einem Konsens der späten Aufklärer zu sprechen.
Die Kriege der Französischen Revolution und Napoleons stellten diesen Konsens auf eine harte Probe und veränderten auch einige wesentliche Grundkonstanten des Krieges. Im Zeichen der Wehrpflicht kam es zu einer Mobilisierung von Teilen der Gesellschaft, die sich bis zu diesem Zeitpunkt nicht zuletzt aufgrund ihres (fehlenden) Bildungshintergrundes noch nie mit der Problematik der Kriegführung, geschweige denn mit ihrer rechtlichen Beschränkung auseinandergesetzt hatten. Nach dem Wiener Kongress wurde Kriegführung wieder zum alleinigen Privileg der regierenden Monarchen, so dass es vielleicht zutreffend ist, im Hinblick auf das Recht im Krieg davon zu sprechen, dass der oben erwähnte Konsens der Aufklärer in dieser Zeit von einem unausgesprochenen Konsens der Monarchen abgelöst wurde, der sich bis nach der Revolution von 1848 zu halten vermochte.
Spätestens der Krimkrieg von 1853-56 sowie der Italienisch-Österreichische Krieg von 1859 brachten die Frage des Rechts im Krieg wieder aufs Tapet. Die Schrift Un souvenir de Solférino („Eine Erinnerung von Solférino“) von Henry Dunant sowie der Abschluss der Genfer Konvention von 1864 und der Deklaration von St. Petersburg (1868) bildeten den Übergang in eine Zeit, in welcher namhafte Rechtsgelehrte eine positiv-rechtliche Regelung des gegenseitigen Umgangs im Krieg wieder zu einem zentralen Gegenstand der völkerrechtlichen Fachdiskussionen machten. Eine zentrale Rolle spielten in diesem Zusammenhang der langjährige Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), Gustave Moynier, der schweizerisch-badische Rechtsprofessor Johann-Caspar Bluntschli, der belgische Rechtsanwalt Gustave Rolin-Jaequemyns, der britische Völkerrechtler John Westlake sowie der russische Diplomat und Völkerrechtler Fëdor Fëdorovič [Friedrich Fromhold] Martens. Sie legten mit ihren Publikationen und ihren Beschlüssen im Rahmen des Institut de Droit International (Institut für internationales Recht) die Grundlage für den Inhalt der Haager Landkriegsordnung, wie sie schließlich 1899 festgelegt und seit 1907 in leicht modifizierter Form bis heute ihre Gültigkeit hat.
Einen ersten Anlauf zur Kodifizierung des Rechts im Krieg gab es schon 1874 an der Konferenz von Brüssel. Völkerrechtsexperten waren dabei an dieser von Diplomaten und Militärs dominierten Konferenz mit wenigen Ausnahmen (Bluntschli) nicht an den Arbeiten beteiligt. Die Ratifizierung der aus der Konferenz hervorgegangenen Deklaration von Brüssel scheiterte schließlich am Widerstand Großbritanniens. Als der russische Außenminister Michail Murav‘ëv im August 1898 seine Einladungen für eine internationale Friedenskonferenz aussprach, stand die Frage einer Kodifizierung des Ius in Bello vorerst nicht im Vordergrund. Nicht zuletzt da das russische Außenministerium ein Scheitern der Konferenz befürchtete, weil kaum eine Regierung zur Begrenzung der eigenen Rüstungsbemühungen bereit war, überließen der Minister und sein Stellvertreter die weitere Organisation weitgehend Martens, der, um die Erfolgschancen der Konferenz zu steigern, eine Wiederaufnahme der in Brüssel gescheiterten Kodifizierungsbemühungen im Bereich des Ius in Bello vorantrieb.
An der 1899 schließlich in Den Haag einberufenen Konferenz nahmen namhafte Juristen wie Heinrich Lammasch, Karl von Stengel, Louis Renault, Édouard Rolin-Jaequemyns, Philipp Zorn oder Tobias Asser unter Leitung von Martens die Ideen von 1874 wieder auf. Im Zentrum der Diskussion zur Frage der Kodifikation des Ius in Bello stand die Frage, in welchem Ausmaß Zivilisten im Fall einer Invasion zu den Waffen greifen und sich gegen eine Besatzungsmacht wehren dürften. Dabei kam es zu großen Diskussionen zwischen den Vertretern der großen Staaten, welche eine möglichst restriktive Lösung wünschten und denjenigen der kleinen Staaten wie Belgien, der Schweiz oder Siam, die mit Blick auf ihre Militärorganisation eine Lösung anstrebten, die ihnen möglichst viel Freiraum bot. Der Umgang mit Kriegsgefangenen, die Rechte einer Besatzungsmacht sowie die Problematik der Internierung von Soldaten und Offizieren in neutralen Staaten waren weitere wichtige Aspekte, die schließlich geregelt werden konnten. Letzterer Teil wurde in der Konvention von 1907 weggelassen, da die betreffenden Bestimmungen in die Haager Konvention über die Rechte und Pflichten neutraler Mächte übernommen wurden. Wo keine explizite Regel gefunden werden konnte, sollten Kombattante wie Zivilisten nicht einfach der Willkür der Kriegführenden ausgesetzt sein, sondern gemäß der Martens'schen-Klausel „unter dem Schutz und der Herrschaft der Grundsätze des Völkerrechts [verbleiben], wie sie sich aus den festgelegten Gebräuchen, aus den Grundsätzen der Menschlichkeit und den Forderungen des öffentlichen Gewissens ergeben.“[1]
Konkret bestimmt die in drei Teile gegliederte Haager Landkriegsordnung im ersten Abschnitt, wer genau als Kombattant anerkannt werden soll und wie diese behandelt werden sollen, falls sie in Kriegsgefangenschaft geraten oder verwundet werden. Als entscheidende Kriterien für den Kombattantenstatus legte das Abkommen dabei 1899 fest, dass eine klare Führung bestehen sollte, in welcher ein Vorgesetzter für Untergebene verantwortlich sei. Die Kämpfer sollten zudem ein aus der Distanz erkennbares Zeichen tragen, sie sollten ihre Waffen offen und sichtbar tragen und ihre Operationen gemäß den Regeln der bestehenden völkerrechtlichen Bestimmungen führen. Greife eine Bevölkerung spontan zu den Waffen, um ihr Land gegen eine Invasion zu verteidigen, so solle dieser ebenfalls der Kombattantenstatus gewährt werden, falls sie die bestehenden Regeln des Völkerrechts einhalten würde. Die Bestimmung war bewusst relativ offen formuliert, um eine Zustimmung sowohl der Großmächte als auch der Kleinstaaten zu erreichen. Diese interpretierten die Bestimmungen je unterschiedlich. Während die Großmächte primär die klare Erkennbarkeit von Kombattanten durch Uniformen gewahrt sahen, waren die kleinen Staaten überzeugt, damit ihr Recht gewahrt zu haben, dass alle Teile der Bevölkerung im Fall eines Angriffs zu den Waffen greifen dürften. Dies sollte 1914 sowohl in Belgien und Nordfrankreich als auch in Serbien fatale Folgen haben. Dort wurden Zivilisten Opfer von Militärs, die aufgrund von Fehleinschätzungen hinsichtlich der Wirkung von Distanzwaffen und der fehlenden Sichtbarkeit des Feindes davon ausgingen, dass die Zivilbevölkerung in illegitimer Weise zu den Waffen gegriffen habe und dafür mit Gewalt zu bestrafen sei.
Ebenfalls relativ allgemein gehalten waren die Bestimmungen über die Kriegsgefangenen. Diese sollten menschlich behandelt werden und ihre Arbeitskraft durfte genutzt werden, dies allerdings nicht für Tätigkeiten, die im Zusammenhang mit militärischen Operationen standen. Die Ernährung sollte derjenigen der Truppen des Gewahrsamsstaates entsprechen und private Besitztümer durften den Soldaten und Offizieren nicht weggenommen werden. Im Unterschied zur Fassung von 1899 sah diejenige von 1907 dabei vor, dass Offiziere nicht für Arbeitseinsätze herangezogen werden dürften. Auch dies führte im Ersten Weltkrieg zu einer unterschiedlichen Auslegung der Bestimmungen und gegenseitigen Anschuldigungen. Als langfristige Folge präzisierten die Staaten die Regelungen in diesem Bereich 1929 (und nach dem Zweiten Weltkrieg nochmals 1949) durch eine separate Genfer Konvention zur Behandlung von Kriegsgefangenen, so dass die Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung in diesem Punkt kaum mehr praktische Relevanz haben. Bezüglich der Behandlung von Verwundeten wurde einzig auf die Genfer Konvention von 1864 (und 1907 diejenige von 1906) verwiesen, in welcher die entsprechenden Verpflichtungen geregelt seien.
Der zweite Abschnitt regelt Fragen der konkreten Kampfführung. Dabei wurde einerseits der Grundsatz festgehalten, dass die kriegführenden Mächte nicht das Recht hätten, ihre Mittel unbegrenzt einzusetzen. Insbesondere der Einsatz von Gift oder vergifteten Waffen, das hinterhältige Töten von Kombattanten wie Nicht-Kombattanten, das Töten von sich ergebenden Personen, die Verweigerung der Unterbringung von Soldaten und Offizieren, der Einsatz von Waffen, die unnötiges Leid verursachen, die unnötige Zerstörung oder Beschlagnahme von zivilem Eigentum sowie das Zwingen von Personen zum Kampf gegen das eigene Land wurden explizit verboten. Gleiches galt für die Erstürmung oder Bombardierung von unverteidigten Orten – egal mit welchen Mitteln, so die Ergänzung von 1907 – sowie unter allen Umständen für das Plündern. Bei Belagerungen sollten zudem alle Maßnahmen ergriffen werden, um religiöse Einrichtungen, Kulturgüter und Spitäler so weit wie möglich vor Zerstörungen oder Beeinträchtigungen zu bewahren. Geregelt wurde auch konkret, wer als Spion zu betrachten sei, dass solche nicht ohne Gerichtsverfahren bestraft werden dürften und dass Parlamentäre unbedingt geschützt werden sollten, außer sie würden ihre Position ausnutzen, um Verrat zu begehen. Konkret geregelt wurde auch das Vorgehen bei Kapitulationen und Waffenstillständen.
Der dritte Abschnitt beschäftigt sich mit dem Recht einer Besatzungsmacht und stellt zunächst fest, dass sich eine Besatzung immer nur über dasjenige Territorium erstrecke, welches sich wirklich unter der Kontrolle der betreffenden Macht befinde und in welchem diese Kontrolle auch effektiv ausgeübt werde. Die Besatzungsmacht dürfe alle Maßnahmen treffen, um die öffentliche Ordnung und Sicherheit zu gewährleisten, die davon nicht betroffenen rechtlichen Bestimmungen des Landes müssten aber so weit als damit vereinbar in Kraft belassen werden. Die Beschlagnahme privaten Eigentums wurde ebenso verboten wie das Plündern oder der Versuch, die Einwohner zu einem Treueid auf die Besatzungsmacht zu verpflichten. Staatliches Eigentum dürfe mit Ausnahme von solchem, welches kulturellen oder religiösen Zwecken sowie der Wohltätigkeit diene, insoweit von der Besatzungsmacht genutzt werden, wie dies die Behörden des besetzten Staates auch würden tun können. Abgaben, Zölle und Gebühren sollten möglichst nach Maßgabe der im besetzten Land geltenden Bestimmungen erhoben werden und primär dazu dienen, die Verwaltung der Gebiete im gleichen Umfang sicherzustellen wie dies vor der Besetzung der Fall gewesen sei. Weitere Abgaben dürften nur erhoben werden, falls solche zur Deckung der Bedürfnisse des Heeres notwendig seien. Auch in diesen Punkten kam es während der Weltkriege zu unterschiedlichen Auslegungen sowie zur Missachtung der Bestimmungen, so dass 1949 die vierte Genfer Konvention zum Schutz der Zivilbevölkerung ebenfalls entsprechende Präzisierungen vornahm.
Die Konvention betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs, welcher die eigentliche Haager Landkriegsordnung als Anhang beigefügt war, wurde am 29. Juli 1899 von 24 Staaten unterzeichnet und auch ratifiziert. 21 Staaten traten ihr bis zum Abschluss der revidierten Konvention bei. Diese wurde am 18. Oktober 1907 von 41 Staaten unterzeichnet, von 15 davon allerdings nie ratifiziert. Sechs Staaten erklärten in den Jahren bis 1935 nachträglich ihren Beitritt zur Konvention, was insofern von Bedeutung war, als dass in Artikel 2 der Konvention festgehalten war, dass den Bestimmungen nur zwischen Vertragsstaaten Rechtskraft erwachse und dies auch nur dann, wenn in einem Krieg alle beteiligten Staaten Vertragsparteien dieser Haager Konvention seien.
Dies führte während der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts, aber auch in anderen Konflikten zu großen Diskussionen über die Anwendbarkeit der Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung. Während unter Juristen meist deren Gültigkeit – und sei es nur als Ausdruck völkergewohnheitlichen Rechts – anerkannt wurde, äußerten sich die Vertreter von Politik und Militär in diesem Fall weniger eindeutig. Das Internationale Militärtribunal in Nürnberg bestätigte schließlich in seinem Urteil von 1946 die Auffassung, wonach die Haager Landkriegsordnung Ausdruck des Völkergewohnheitsrechts sei und damit nicht einzig zwischen Vertragsparteien Gültigkeit habe. Dieser Auffassung schloss sich im selben Jahr die UN-Generalversammlung an und ebenso tat dies das Abkommen über den Internationalen Strafgerichtshof von 1998. Ein konkreter Bezug auf die Haager Landkriegsordnung ist darin allerdings nicht zu finden, dies nicht zuletzt weil wesentliche Teile davon durch die Genfer Konventionen betreffend der Kriegsgefangenen sowie über den Schutz der Zivilpersonen in Kriegszeiten unterdessen ergänzt wurden.
In der Forschung wurde die Haager Landkriegsordnung primär aus zwei Perspektiven betrachtet. Einerseits gibt es eine Vielzahl von juristischen Studien, die wie Handbücher des Völkerrechts vielfach normativen Charakter haben und die Haager Landkriegsordnung als Teil eines Prozesses der (gescheiterten) Verrechtlichung von Krieg verstehen. Historische Studien, die sich mit ihrem Umfeld beschäftigen, gibt es nur wenige. Unübertroffen sind in diesem Zusammenhang immer noch die älteren Studien von Jost Dülffer und Geoffrey Best, die heute durch diejenigen von Martti Koskeniemi und Vladimir Pustogarov ergänzt werden. Zur zweiten Friedenskonferenz und ihren Ergebnissen ist das zum hundertsten Jahrestag der Vertragsunterzeichnung im Jahre 2007 von Jost Dülffer herausgegebene Sonderheft der Zeitschrift Die Friedens-Warte von erheblicher Bedeutung.
Text: CC BY-SA 4.0
- ↑ Hans-Peter Gasser, Humanitäres Völkerrecht. Eine Einführung. Baden-Baden 2007, S. 38.
[Русская версия отсутствует]