Einführung: Sitzungsnotiz des Politbüros des CK der KPSS (Andrej Sacharovs Rückkehr aus der Verbannung): Unterschied zwischen den Versionen

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Am 6. Mai brach jede Verbindung von Sacharov mit der Außenwelt ab. Sein Tod konnte eine unerwünschte Resonanz hervorrufen. Schon nach einer Woche begann man, das Akademiemitglied zwangsweise zu ernähren. Diese Prozedur war schmerzhaft und erniedrigend. Nach den Erinnerungen von Boris Al`tšuler „sagte er irgendwann in Moskau zu Michail Levin: ‚Weißt Du, im Krankenhaus habe ich verstanden, was die Sklaven im Alten Rom durchmachten, wenn man sie kreuzigte‘“. Gleichzeitig wurde ein Film darüber gedreht, wie hervorragend Sacharov in Gor`kij lebe. Der Anführer der zerschlagenen Dissidentenbewegung war isoliert, mit dem Tod der Ehefrau bedroht und konnte nicht einmal nach seinem eigenen Willen sterben.
Am 6. Mai brach jede Verbindung von Sacharov mit der Außenwelt ab. Sein Tod konnte eine unerwünschte Resonanz hervorrufen. Schon nach einer Woche begann man, das Akademiemitglied zwangsweise zu ernähren. Diese Prozedur war schmerzhaft und erniedrigend. Nach den Erinnerungen von Boris Al`tšuler „sagte er irgendwann in Moskau zu Michail Levin: ‚Weißt Du, im Krankenhaus habe ich verstanden, was die Sklaven im Alten Rom durchmachten, wenn man sie kreuzigte‘“. Gleichzeitig wurde ein Film darüber gedreht, wie hervorragend Sacharov in Gor`kij lebe. Der Anführer der zerschlagenen Dissidentenbewegung war isoliert, mit dem Tod der Ehefrau bedroht und konnte nicht einmal nach seinem eigenen Willen sterben.


Am 19. Mai wandte sich Reagan mit der persönlichen vertraulichen Bitte, Bonnėr zu erlauben, auszureisen, an Konstantin Černenko. In der Antwort sagte man den Amerikanern: „Diese Dame und ihre Spießgesellen dramatisieren absichtlich die Lage für antisowjetische Zwecke. Was den wirklichen Zustand ihrer Gesundheit betrifft, so überlebt sie viele Zeitgenossen. Davon zeugt der autoritative Schluss von qualifizierten Ärzten“. Diese Prognose erwies sich als richtig. Mit der Korrektur, dass die „Dame“ dennoch einer qualitativ hochwertigen Operation im Ausland unterzogen wurde.  
Am 19. Mai wandte sich {{#set:Glossar=Reagan, Ronald}} [[Glossar:Reagan, Ronald|Reagan]] mit der persönlichen vertraulichen Bitte, Bonnėr zu erlauben, auszureisen, an Konstantin Černenko. In der Antwort sagte man den Amerikanern: „Diese Dame und ihre Spießgesellen dramatisieren absichtlich die Lage für antisowjetische Zwecke. Was den wirklichen Zustand ihrer Gesundheit betrifft, so überlebt sie viele Zeitgenossen. Davon zeugt der autoritative Schluss von qualifizierten Ärzten“. Diese Prognose erwies sich als richtig. Mit der Korrektur, dass die „Dame“ dennoch einer qualitativ hochwertigen Operation im Ausland unterzogen wurde.  


Am 10. August 1984 wurde Bonner zur Verbannung in Gor`kij verurteilt und verlor die Möglichkeit, die Stadt zu verlassen. Der Käfig war zugeschnappt, Sacharov war zuverlässig isoliert. Am 8. September wurde er aus dem Krankenhaus entlassen und brach den Hungerstreik ab. Noch einen Monat war er in tiefer Depression. In einem Brief an Aleksandrov vom 10. November 1984 schrieb Sacharov, dass er „den tragischsten Moment seines Lebens“ durchmache und bat um Hilfe für die Ausreise seiner Frau zur Behandlung und bekräftigte, dass ihre Reise keine politischen Ziele verfolge. Wenn seiner Bitte bis zum 1. März 1985 nicht entsprochen werde, erklärte Sacharov seinen Austritt aus der AN (später verschob er diese Frist auf den 10. Mai und nach der Wahl {{#set:Glossar=Gorbačëv, Michail Sergeevič}} [[Glossar:Gorbačëv, Michail Sergeevič | Michail Gorbačevs]] zum Generalsekretär verzichtete er auf dieses Vorhaben).
Am 10. August 1984 wurde Bonner zur Verbannung in Gor`kij verurteilt und verlor die Möglichkeit, die Stadt zu verlassen. Der Käfig war zugeschnappt, Sacharov war zuverlässig isoliert. Am 8. September wurde er aus dem Krankenhaus entlassen und brach den Hungerstreik ab. Noch einen Monat war er in tiefer Depression. In einem Brief an Aleksandrov vom 10. November 1984 schrieb Sacharov, dass er „den tragischsten Moment seines Lebens“ durchmache und bat um Hilfe für die Ausreise seiner Frau zur Behandlung und bekräftigte, dass ihre Reise keine politischen Ziele verfolge. Wenn seiner Bitte bis zum 1. März 1985 nicht entsprochen werde, erklärte Sacharov seinen Austritt aus der AN (später verschob er diese Frist auf den 10. Mai und nach der Wahl {{#set:Glossar=Gorbačëv, Michail Sergeevič}} [[Glossar:Gorbačëv, Michail Sergeevič | Michail Gorbačevs]] zum Generalsekretär verzichtete er auf dieses Vorhaben).

Aktuelle Version vom 30. Oktober 2024, 13:17 Uhr


von: Aleksandr Šubin, 2011 (aktualisiert 2024)


In den 1970-er und Anfang der 1980-er Jahre war Andrej Sacharov faktisch der Anführer der Dissidentenbewegung. Im Jahr 1978 nannte Jurij Andropov Sacharov den „Feind Nummer eins“ innerhalb des Landes. Nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in Afghanistan, der eine Verschlechterung der internationalen Beziehungen bedeutete, war es schon nicht mehr nötig, ängstlich auf den Westen zu schauen und am 26. Dezember 1979 beschloss das Politbüro, Sacharov vom gesellschaftlichen Leben zu isolieren. Am 3. Januar 1980 wurde beschlossen, das Akademiemitglied nicht vor Gericht zu stellen, sondern sich auf eine außergerichtliche Verbannung zu beschränken. So war, entgegen der weitverbreiteten Version, der unmittelbare Grund für die Verbannung Sacharovs nicht sein Auftreten gegen den Einmarsch der Truppen in Afghanistan, sondern der Einmarsch der Truppen als solcher. Am 22. Januar wurden Sacharov und seine Frau Elena Bonnėr in Gor`kij angesiedelt.

Georgij Vladimov kommentierte das Vorgehen der Behörden: „Indem sie ihn nach Gor`kij ohne Ermittlungen und Gericht, ohne die Verkündung eines Urteils und der Dauer, schickte und damit zu einer außergewöhnlichen Maßnahme griff, erwies die Staatsmacht ihm eine Ehre, der sich nur der Erbprinz oder potenzielle Präsident würdig erweisen konnte“. Gegen die Verbannung von Sacharov und die Inhaftierung des Mitglieds-Korrespondenten der Akademie der Wissenschaften (AN) der Armenischen SSR, Jurij Orlov, traten nicht nur Dissidenten, sondern auch angesehene sowjetische Gelehrte auf. Pëtr Kapica schrieb an Andropov: „Sacharov und Orlov bringen durch ihre wissenschaftliche Tätigkeit einen großen Nutzen, aber ihre Tätigkeit als Andersdenkende wird für schädlich gehalten. Jetzt sind sie solchen Bedingungen unterworfen, unter denen sie keinerlei Tätigkeit ausüben können“. Kapica verwies auf die Erfahrung der Beziehungen zwischen Lenin und dem oppositionellen Gelehrten Pavlov und kam zum Schluss: „Wäre es nicht besser, einfach den Rückwärtsgang einzulegen?“. In einem irrte sich Kapica, Sacharov beendete seine gesellschaftliche Tätigkeit und seine theoretische Arbeit nicht. Er fuhr fort, sich an das Land und die Welt zu wenden. In dem Schreiben an das Akademiemitglied Aleksandrov führte Sacharov aus: „Die wichtigste These, die ich im Laufe der Jahre meinem Standpunkt zugrunde gelegt habe, ist der unauflösbare Zusammenhang der internationalen Sicherheit, des internationalen Vertrauens und der Achtung der Menschenrechte, der Offenheit der Gesellschaft. Diese These ging als Bestandteil in die Schlussakte der Konferenz von Helsinki ein, aber hier unterscheiden sich die Worte von den Taten, besonders in der UdSSR und den Ländern Osteuropas“.

Nach der faktischen Zerschlagung der Dissidentenbewegung im Jahr 1983 blieb Sacharov die letzte Bastion einer offenen Opposition. Sein sozialer Status und seine internationale Bekanntheit erlaubten es den Behörden nicht, das Akademiemitglied einfach ins Gefängnis zu stecken. Ungeachtet der verheerenden Schläge gegen die Opposition erkannte das Akademiemitglied die Niederlage nicht an. In einem Interview mit UPI, das ins Ausland geschickt wurde, antwortete Sacharov auf die Frage: „Die Bewegung der Andersdenkenden in der UdSSR ist zerrüttet. Gibt es einen Weg, sie zu reorganisieren?“ so: „Die Kraft des Kampfes um die Menschenrechte liegt nicht in der Organisation oder der Zahl der Teilnehmer. Das ist eine moralische Kraft, die Kraft der unbedingten Wahrheit. Diese Bewegung kann nicht spurlos verschwinden. Das schon ausgesprochene Wort lebt, und neue Menschen mit ihren einzigartigen Schicksalen und Herzen tragen immer mehr Neues dazu bei“.

Es gelang nicht, Sacharov gleich nach seiner Verbannung vollständig von der Außenwelt zu isolieren, Kollegen und Verwandte kamen zu ihm. Bonnėr fuhr nach Moskau. 1980 wurde der Druck auf die Braut von Bonnėrs Sohn Aleksej Semenov, Elizaveta Alekseeva, verstärkt, im Mai wurde sie über die Unzulässigkeit von Besuchen in Gor`kij „verwarnt“. Semenov emigrierte in die USA, Alekseeva strebte danach, das gleiche zu tun und Sacharov erreichte ihre Ausreise aus der UdSSR zur Vereinigung mit dem Bräutigam. Aber der KGB entschied sich, sie „nicht einfach nur so“ herauszulassen. Der „Faktor Alekseeva“ erlaubte es, „Druck“ auf Sacharov auszuüben. In seinem Brief an Brežnev vom 26. Mai 1981 schrieb Sacharov darüber, dass „die Ausnutzung des Schicksals meiner Schwiegertochter durch den KGB zur Rache gegen und Druck auf mich unwürdig ist“.

Sacharov und Bonnėr entschieden sich, dem Druck der Behörden die Waffe des Hungerstreiks entgegenzusetzen, zu der sie auch später greifen würden.

Am 22. November erklärten Sacharow und Bonnėr den Hungerstreik mit der Forderung, Alekseeva die Ausreise aus dem Land zu erlauben. Der Hungerstreik löste eine scharf ablehnende Reaktion eines bedeutenden Teils der Dissidenten aus (Revol‘t Pimenov, Pëtr Grigorenko, Lidija Čukovskaja, F. Krasavin u.a.). Die Dissidenten wandten sich nicht so sehr gegen die Methode selbst, sondern gegen „die Bedeutungslosigkeit des Ziels“, das sich Sacharov setzte. Das Akademiemitglied charakterisierte die Aufrufe der Dissidenten, „um der Allgemeinheit willen das Private zu opfern“ als „totalitäres Denken“. Sacharov erinnert sich, dass „viele unserer Dissidentenfreunde ihren Angriff auf Lisa (E. Alekseeva – d. Verf.) sowohl vor dem Beginn des Hungerstreiks richteten als auch selbst als wir ihn schon begonnen hatten und so die Türen verschlossen, im buchstäblichen und übertragenen Sinne. Lisa MUSSTE angeblich den Hungerstreik verhindern oder (dann) ihn aufhalten, da er ‚wegen ihr‘ geführt wurde! Dieser Druck auf Lisa war äußerst grausam und äußerst ungerecht“. Die moralische Isolation unter diesen Umständen war eine wahre Folter und die diesen Boykott verwirklichenden Oppositionellen mussten das wissen. Im Kern erwies sich in diesem Konflikt Sacharov als konsequenter als seine Kameraden in der Bewegung. Für ihn war der Hungerstreik eine „Fortsetzung meines Kampfes für die Menschenrechte, für das Recht auf freie Wahl des Landes des Wohnsitzes…“. Der Umstand, dass es in diesem Fall die reale Chance gab, den Sieg davonzutragen, spielte nicht die letzte Rolle, was unter den schweren Bedingungen des Jahres 1981 äußerst wichtig war. Und Sacharow siegte.

Die liberal gesinnten Gelehrten erläuterten der Leitung der Akademie der Wissenschaften, dass ein Tod Sacharovs im Verlauf des Hungerstreiks einen grandiosen Skandal hervorrufen würde, in deren Zentrum die Akademie der Wissenschaften stehen würde. Das würde einen langfristigen Bruch der wissenschaftlichen Beziehungen, das Ende der Auslandsreisen für die einen und eine Demütigung für die anderen bedeuten. Nach den Erinnerungen von Evegnij Fejnberg übten auf Anatolij Aleksandrov[1] „nicht nur die, die nur einen Bruch der wissenschaftlichen Beziehungen fürchteten, Druck aus, sondern auch die, denen Andrej Dmitrievič [Sacharov, Anm. d. Übers.] als einmalige Persönlichkeit, einfach als Mensch, der Liebe und Bewunderung hervorrief, teuer war. Manchmal war das Gerede von dem möglichen Bruch der Beziehungen nur die „rationale Bemäntelung“ von persönlicheren Gefühlen. Ich weiß nicht genau, wie es geschah, aber Anatolij Petrovič [Aleksandrov, Anm. d. Übers.] überwand sich letztendlich und schritt zur Tat, er fuhr zu Brežnev, der die Frage entschied „Mag sie abfahren“. Am 8. Dezember rief der Präsident der Akademie der Wissenschaften, Aleksandrov, persönlich bei Alekseeva an und teilte ihr mit, dass die Frage positiv entschieden werde. Der Hungerstreik ging bis 9. Dezember weiter. Nach der zutreffenden Beobachtung von L. Litinskj schafften Sacharov und Bonnėr „es im letzten Moment“. Am 13. Dezember, verschlechterten sich mit der Einführung des Kriegsrechts in Polen die Beziehungen zwischen der UdSSR und den USA drastisch und die Gründe für Zugeständnisse an die Dissidenten waren vertan. Aber schon am 19. Dezember flog Alekseeva nach Paris ab.

Das System der Mittel der Information (Desinformation) der Massen, die Medien, führte seinen Angriff auf Sacharov fort. Das Hauptkampffeld blieben die Beziehungen Sacharovs zur internationalen Öffentlichkeit. Hier war das Akademiemitglied wirklich gefährlich, im Westen hörte man auf seine Stimme. Im Februar 1983 schrieb Sacharov den Aufsatz „Die Gefahr eines thermonuklearen Krieges“, in dem er nachwies, dass der Westen im Rüstungswettlauf hinter der UdSSR zurückgeblieben war. „Die Wiederherstellung des strategischen Gleichgewichts,“ schrieb Sacharov, „ist nur durch die Investition umfangreicher Mittel bei einer wesentlichen Änderung des psychologischen Zustands in den Ländern des Westens möglich… Ich verstehe natürlich, wir verdammen uns, da wir in nichts gegenüber dem potenziellen Gegner zurückbleiben möchten, zum Rüstungswettlauf, der tragisch für die Welt ist, in der es so viele lebenswichtige, keinen Aufschub duldende Probleme gibt. Aber die größte Gefahr ist, in einen allgemeinen thermonuklearen Krieg zu rutschen. Wenn man die Wahrscheinlichkeit eines solchen Ausgangs um den Preis von noch zehn oder fünfzehn Jahren Rüstungswettlauf verringern kann, muss man diesen Preis vielleicht zahlen…“ Hier nimmt das Akademiemitglied sich als organischen Teil der westlichen Welt wahr, der „seiner Seite“ rät, den Druck auf den „potenziellen Gegner“ zu erhöhen.

Indem er die Sinnlosigkeit eines Atomkriegs nachwies, richtete Sacharov übrigens die Aufmerksamkeit auf die Gefahr eines „Kriegs der Sterne“. Aber das Hauptaugenmerk der „sowjetischen Öffentlichkeit“ war auf die Worte des Akademiemitglieds über die Vertretbarkeit der Stationierung amerikanischer Raketen gerichtet.

Die Reaktion ließ nicht auf sich warten. Am 3. Juli 1983 erschien in der Izvestija der Aufsatz der Akademiemitglieder A. Dorodnicyn, A. Prochorov, G. Skrjabin und A. Tichonov, „Wenn man die Würde und das Gewissen verliert“, in dem sie schrieben: „Sacharov ruft die USA, den Westen dazu auf, unter keinen Umständen irgendwelchen Beschränkungen des Rüstungswettlaufs, des atomaren in erster Linie, zuzustimmen“. Seine Kollegen wiesen die Meinung des Akademiemitglieds über die mögliche Fortsetzung des Rüstungswettlaufs für noch 10-15 Jahre zurück und erklärten: „Heute ruft Sacharov dazu auf, die massenmörderische Macht der Atomwaffen zu nutzen, um das Sowjetvolk erneut einzuschüchtern, unser Land zu zwingen, vor dem amerikanischen Ultimatum zu kapitulieren“. Mit einem Unterton der Unzufriedenheit schreiben die Akademiemitglieder auch über die Geduld des sowjetischen Volkes gegenüber Sacharov, er lebe ruhig in Gor`kij und nicht wie in Amerika, wo man einst die Rosenbergs hingerichtet habe.

Im Jahr 1983 erschien das Buch von Nikolaj Jakovlev „Die CIA gegen die UdSSR“, wo über Sacharov und Bonnėr eine Flut persönlicher Beleidigungen hereinbrach. Im April 1983 baute N. Jakovlev in der Zeitschrift Smena seine Enthüllungen über den moralischen Charakter von Bonnėr aus: „In der Jugend erreichte das liederliche Mädchen beinahe Professionalität in der Verführung und anschließenden Ausbeutung … älterer und folglich in hohen Positionen stehender Männer“. Bonnėr wurde beschuldigt, dass sie zum Leuchtturm der Anstrengungen der „Provokateure“ wurde, die „diesen seelisch im Ungleichgewicht befindlichen Menschen zu Taten, die dem Antlitz des Gelehrten Sacharov widersprechen“ drängen.

Das waren nicht nur Worte. „Sehr viel, und im Besonderen das Geschreibsel von Jakovlev, meinte Sacharov, zeugt davon, dass die Behörden (der KGB) sich anschickten, meine ganze gesellschaftliche Tätigkeit in Zukunft als zufällige Verirrung darzustellen, die durch Einfluss von außen hervorgerufen wurde, und besonders durch den Einfluss von Ljusja,[2] einer eigensüchtigen, lasterhaften Frau, einer Verbrecherin, Jüdin, faktisch, einer Agentin des internationalen Zionismus. Man musste mich wieder selbst zu einem angesehenen sowjetischen (russischen, das ist wesentlich) Gelehrten machen und meinen Namen für die Zwecke der ideologischen Kriegsführung missbrauchen“.

Mit dem Angriff auf Bonnėr versuchten die Behörden „zwei Hasen auf einmal zu fangen“: Die Sache des Akademiemitglieds zu kompromittieren und zugleich seine Frau „außer Gefecht zu setzen“, eines physisch kranken Menschen, der aber die einzige ständige Verbindung von Sacharov mit der Außenwelt darstellte. Im September 1983 versuchte Bonnėr, Jakovlev wegen Verleumdung gerichtlich zu belangen, aber sobald die Ermittlungen erste Unstimmigkeiten in den Angaben Jakovlevs zum Vorschein brachten, wurde der Fall „geschlossen“. Im Ganzen betrachtet taten das Buch „Die CIA gegen die UdSSR“ und die Zeitung Smena ihr Werk: ein großer Teil der Leser, selbst kritisch Gestimmte, glaubte, dass vielleicht hier nicht alles stimmte „aber irgendetwas muss daran sein“. Sacharov erhielt tatsächlich eine wunderbare Möglichkeit, Jakovlev zu antworten.

Am 14. Juli kam Jakovlev zu Sacharov, um ihn zu interviewen. Das Akademiemitglied, das nicht wenig über eine solche Frechheit erstaunt war, führte trotzdem mit dem Besucher eine lange Unterredung, in dem er den Autor von „Die CIA gegen die UdSSR“ auf die Verlogenheit der von ihm vorgebrachten Angaben hinwies. „Ich gebrauchte in dem Gespräch häufig absichtlich beleidigende Ausdrücke, aber Jakovlev reagierte darauf überhaupt nicht und verfolgte irgendein eigenes Ziel… Jakovlev:‚Ich bin ein parteiloser Historiker‘. Ich: ‚Was hat das für eine Bedeutung? In der Partei gibt es manchmal prinzipienfeste Menschen, die Respekt verdienen, aber was ist mit Ihnen? Aber was, wenn Sie in Ihrer Geschichte auch verlogen sind?‘ Jakovlev:‚Sie können gegen mich gerichtlich vorgehen. Ich habe Zeugen, Angaben der Staatsanwaltschaft, das Gericht wird es klären.‘ Ich sage:‚Ich glaube nicht an die Objektivität des Gerichts in dieser Sache, ich gebe Ihnen einfach eine Ohrfeige‘. Als ich das gesagt hatte, ging ich schnell um den Tisch herum, er sprang auf und es gelang ihm, sich verteidigend, einen Arm auszustrecken und sich zu bücken, wobei er die Backe verdeckte und so parierte er den ersten Schlag, aber ich erreichte dennoch mit dem zweiten Schlag mit der linken Hand (den er nicht erwartet hatte) mit den Fingern seine aufgedunsene Backe“ (Jakovlev selbst nannte diese Aktion des Akademiemitglieds einen „Fingerzeig“). Danach entfernte sich der Leidtragende stolz mit den Worten „Und das auch noch von einem Intellektuellen!“. Wenn man berücksichtigt, dass das die zweite Handlung dieser Art im Leben von Sacharov war, sah sie kaum wirkungsvoll aus, wurde aber trotzdem als ausreichende Genugtuung eingeschätzt.

1984 bekam der KGB noch einen Trumpf in die Hand. Die Gesundheit von Bonnėr verschlechterte sich. Die Gefangenen von Gor`kij hatten kein Vertrauen in die sowjetische Medizin. Sacharov bat den amerikanischen Botschafter, seine Frau in die amerikanische Botschaft aufzunehmen, um ihre Ausreise zur Behandlung in den USA zu erreichen. Aber am 2. Mai wurde Bonnėr auf dem Flughafen von Gor`kij verhaftet und gegen sie ein Strafverfahren eingeleitet. Dann begann Sacharov einen erneuten Hungerstreik. Diese Aktion rief im liberalen Milieu ebenfalls Streit hervor. Der Anlass schien noch unbedeutender als im Fall von Alekseeva, insofern sich Bonner auch in der UdSSR operieren lassen konnte. Die Befürchtungen von Sacharov schienen weit hergeholt zu sein. Fejnberg schätzt die Lage anders ein: „Die vergötterte Ehefrau, deren Gesundheit sich in einem kritischen Zustand befindet, ist ein hinlänglicher Grund. Die Bereitschaft, sein Leben ‚aufs Spiel zu setzen‘ konnte ein bitteres Gefühl und selbst Verurteilung bei anderen hervorrufen, doch dann muss man auch Puschkin verurteilen, der hervorragend verstand, was er für Russland bedeutete, und nichtsdestoweniger starb er, seine Ehre und die Ehre seiner Frau verteidigend…“

Am 6. Mai brach jede Verbindung von Sacharov mit der Außenwelt ab. Sein Tod konnte eine unerwünschte Resonanz hervorrufen. Schon nach einer Woche begann man, das Akademiemitglied zwangsweise zu ernähren. Diese Prozedur war schmerzhaft und erniedrigend. Nach den Erinnerungen von Boris Al`tšuler „sagte er irgendwann in Moskau zu Michail Levin: ‚Weißt Du, im Krankenhaus habe ich verstanden, was die Sklaven im Alten Rom durchmachten, wenn man sie kreuzigte‘“. Gleichzeitig wurde ein Film darüber gedreht, wie hervorragend Sacharov in Gor`kij lebe. Der Anführer der zerschlagenen Dissidentenbewegung war isoliert, mit dem Tod der Ehefrau bedroht und konnte nicht einmal nach seinem eigenen Willen sterben.

Am 19. Mai wandte sich Reagan mit der persönlichen vertraulichen Bitte, Bonnėr zu erlauben, auszureisen, an Konstantin Černenko. In der Antwort sagte man den Amerikanern: „Diese Dame und ihre Spießgesellen dramatisieren absichtlich die Lage für antisowjetische Zwecke. Was den wirklichen Zustand ihrer Gesundheit betrifft, so überlebt sie viele Zeitgenossen. Davon zeugt der autoritative Schluss von qualifizierten Ärzten“. Diese Prognose erwies sich als richtig. Mit der Korrektur, dass die „Dame“ dennoch einer qualitativ hochwertigen Operation im Ausland unterzogen wurde.

Am 10. August 1984 wurde Bonner zur Verbannung in Gor`kij verurteilt und verlor die Möglichkeit, die Stadt zu verlassen. Der Käfig war zugeschnappt, Sacharov war zuverlässig isoliert. Am 8. September wurde er aus dem Krankenhaus entlassen und brach den Hungerstreik ab. Noch einen Monat war er in tiefer Depression. In einem Brief an Aleksandrov vom 10. November 1984 schrieb Sacharov, dass er „den tragischsten Moment seines Lebens“ durchmache und bat um Hilfe für die Ausreise seiner Frau zur Behandlung und bekräftigte, dass ihre Reise keine politischen Ziele verfolge. Wenn seiner Bitte bis zum 1. März 1985 nicht entsprochen werde, erklärte Sacharov seinen Austritt aus der AN (später verschob er diese Frist auf den 10. Mai und nach der Wahl Michail Gorbačevs zum Generalsekretär verzichtete er auf dieses Vorhaben).

Aber auch unter diesen Umständen blieb Sacharov für die Behörden ein beständiges Problem, vor allem auf außenpolitischem Gebiet. Während des Besuchs von Frankreichs Präsidenten François Mitterrand in Moskau sprach dieser bei dem feierlichen Mittagessen im Kreml einen Toast auf Sacharov aus und erinnerte die Gäste, dass im Verhältnis zum Westen viel von der Lage des Akademiemitglieds abhing.

Der letzte Kanal „in die Freiheit“ blieben für Sacharov die Kollegen, die selten zu wissenschaftlichen Gesprächen zu ihm kamen. Aber sie beteiligten sich nicht an der Bewegung der Opposition, auch wenn sie aufrührerisch gestimmt waren. 1990 bestätigte Bonnėr, dass der dritte Hungerstreik von Andrej Dmitrievič (1985) nicht stattfinden hätte müssen, wenn seine Kollegen die Kraft gefunden hätten, seine direkte Bitte zu erfüllen… Aber in Moskau und ‚auswärts‘ schwiegen seine Kollegen wie Partisanen“. Es handelt sich um die Bitte von Sacharov an Vitalij Ginzburg, „durch ein aktives kollektives Vorgehen einer Gruppe von Akademiemitgliedern und Mitglieder-Korrespondenten zur Unterstützung meines Ansuchens“ beizutragen. „Das ist schon wahrhaftig eine Verwirrung, die offensichtlich auch großen Menschen eigen ist“, kommentierte Ginzburg. Die Akademiemitglieder schickten sich keineswegs an, die so offensichtlich persönliche Bitte Sacharovs nach der Ausreise seiner Frau zu unterstützen. Sie hatten kein Mistrauen zu der offiziellen sowjetischen Medizin und ja, wegen „Kleinigkeiten“ mit der Staatsmacht in Konflikt kommen wollten sie auch nicht. Besonders nicht unter den Bedingungen der beginnenden Veränderungen. Das betraf auch die ausländische akademische Öffentlichkeit. Zudem versuchte Sacharov über die Kollegen illegale Materialien zu übergeben, was ihre Empörung hervorrief. Die akademischen Gelehrten wollten keine Untergrundkämpfer spielen, die im Hinterland des eigenen Landes agierten.

Um den Präsidenten der Akademie der Wissenschaften, Aleksandrov, von der Notwendigkeit zu überzeugen, die Ausreise von Bonnėr zu erlauben, schrieb Sacharov: „Ich möchte und hoffe, meine öffentlichen Auftritte zu beenden. Ich bin bereit zur lebenslangen Verbannung. Aber der Tod meiner Frau (der unvermeidlich ist, wenn man ihre die Reise nicht erlaubt), wird auch mein eigener Untergang sein“.

Am Vorabend des Machtantritts Gorbačevs erreichte das Regime beinahe die Kapitulation Sacharovs. Aber die bürokratische Maschine war träge und Bonnėr wurde nach wie vor nicht über die Grenze gelassen.

Am 16. April 1985, nachdem sich die Gesundheit seiner Ehefrau erneut zu verschlechtern begonnen hatte, nahm Sacharov einen neuen Hungerstreik auf. Am 21. April wurde er zwangshospitalisiert und erneut zwangsernährt, was die inneren Organe schädigte. All dies geschah vor dem Hintergrund des Aprilplenums des CK der KPdSU, auf dem Gorbačev den neuen Kurs der KPdSU verkündete. Der Hungerstreik dauerte mit einer zweiwöchigen Unterbrechung bis zum 23. Oktober. Es ist interessant, dass gerade in dieser Zeit die Isolierung Sacharovs ihren Höhepunkt erreichte. Nach den Worten von Al`tšuler „wusste niemand, was in Gor`kij vor sich ging“. Im Juli erklärte der Westen Sacharov für vermisst.

Zur Erleichterung dieser Lage war das ernsthafte Interesse der obersten Führung der UdSSR an einer Verbesserung dieser Beziehungen notwendig. Der Ausgang des Kampfs von Sacharov mit dem Regime hing schon von Änderungen im Innersten des Regimes selbst ab, darunter seiner Außenpolitik. Die Eskalation des Konflikts mit dem Akademiemitglied untergrub die Reste des Prestiges der UdSSR im unpassendsten Moment, Gorbačov machte sich an das „Aufschlagen des Fensters nach Europa“. Im September wurde Sacharov informiert, dass Gorbačev sich mit seinem Brief über die kritische Lage, in der er sich befinde, vertraut gemacht habe.

Bei der Erörterung der Frage nach der Ausreise von Bonnėr siegte im Politbüro der Standpunkt von Nikolaj Ryžkov: „Ich bin dafür, Bonnėr ins Ausland zu lassen. Das ist ein humaner Schritt. Wenn sie dort bleibt, dann gibt es natürlich Aufsehen. Aber wir erhalten die Möglichkeit, auf Sacharov Einfluss zu nehmen.“ Ende Oktober wurde Bonnėr erlaubt, zur Behandlung in die USA auszureisen und am 25. November fuhr sie aus Gor`kij ab. Wie zu erwarten war, verwandelte sich ihre Reise in eine Propagandatour. Die Versicherungen Sacharovs bewahrheiteten sich nicht.

Das „Thema Sacharov“ blieb eines der wichtigsten Hindernisse auf dem Weg der neuen Entspannung, die Gorbačev sich vorgenommen hatte. Wenn er in die Länder des Westens fuhr, wurden Gorbačev konsequent Fragen nach Sacharov gestellt. Die Antworten Gorbačevs bewiesen den Zuhörern, dass der sowjetische Anführer bei weitem nicht so demokratisch und offen war, wie er scheinen wollte: „Über Sacharov. Ich musste schon auf eine ähnliche Frage antworten. Deshalb werde ich mich kurz fassen. Wie bekannt ist, hat er gesetzeswidrige Handlungen begangen. Darüber hat nicht nur einmal die Presse berichtet. Ihm gegenüber wurden Maßnahmen in Übereinstimmung mit unserer Gesetzgebung ergriffen. Die faktische Lage ist im gegenwärtigen Moment so. Sacharov lebt in Gor`kij unter normalen Bedingungen, widmet sich der wissenschaftlichen Arbeit und bleibt ein ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Der Zustand seiner Gesundheit ist, soweit mir bekannt ist, normal. Seine Frau ist unlängst zur Behandlung ins Ausland ausgereist. Was Sacharov selbst betrifft, bleibt er nach wie vor ein Träger von Geheimnissen von besonderer staatlicher Bedeutung und kann aus diesem Grund nicht ins Ausland ausreisen“. Begreiflicherweise konnten solche Antworten nur die Mitglieder von kommunistischen Parteien oder Leute, die wenig über Sacharov gehört hatten, befriedigen.

Ungeachtet dieser Schwierigkeiten war es nicht einfach, sich für die Freilassung Sacharovs zu entscheiden, weil dann die Wiedergeburt der halblegalen Dissidentenbewegung drohte, die eine Konkurrenz zur Partei in dem riskanten Zustand der Veränderungen darstellen konnte.

Die Repressionen gegen Andersdenkende setzten sich auch nach dem Machtantritt Gorbačevs fort. Noch am 18. November 1986 begann der Prozess gegen den Dissidenten P. Procenko, Mitarbeiter der Gebietsbibliothek in Kiew. Er wurde der Verbreitung religiöser Literatur beschuldigt. Der letzte Fall in der UdSSR wegen der Verbreitung von „Tamizdat“ und „Samizdat“ endete mit einem Urteil: 3 Jahre in einem Lager des allgemeinen Regimes. Doch schon 1987 wurde Pavel Procenko in die Freiheit entlassen. Als umwälzend erwies sich der Dezember 1986.

Am 22. Oktober schrieb Sacharov einen Brief an Gorbačev, in dem er darum bat, ihn aus der Verbannung zurückkehren zu lassen. Dort hieß es im Besonderen: „Ich wiederhole meine Verpflichtung, nicht zu gesellschaftlichen Fragen hervorzutreten, außer in Ausnahmefällen, wenn, nach dem Ausdruck von Lev Tolstoj, ich nicht schweigen kann“. Dieser Brief machte auf Gorbačev einen günstigen Eindruck und erstaunte ihn sogar ein wenig, denn der Generalsekretär urteilte nach den offiziellen Informationen und den Angaben des KGB, die Sacharov als bösartigen, verrückt gewordenen Sowjetfeind darstellten.

Am 1. Dezember schlug Gorbačev auf der Sitzung des Politbüros vor, das Akademiemitglied Sacharov aus seiner Verbannung in Gor`kij nach Moskau zurückkehren zu lassen. Er glaubte den Beteuerungen des Akademiemitglieds über den Verzicht auf die aktive gesellschaftliche Tätigkeit nicht, sondern meinte, dass die Stellung der Reformer in der KPdSU objektiv stärker sei und Sacharov ein bedeutender Verbündeter im Kampf gegen die Konservativen in Zukunft sein könnte.

Nach dem Zeugnis des Stellvertreters Gorbačevs, Anatolij Černjaev, sagte der Generalsekretär ebenfalls: „Sacharov hat einstweilen nichts Schlechtes gesagt. Eine andere Sache ist, dass bei ihm in Fragen der Abrüstung Verwirrung herrscht. Selbst die Amerikaner begannen ihn dafür zu kritisieren…“

Wegen der Schwerfälligkeit des bürokratischen Apparats zog sich die Freilassung Sacharovs hin und deren Effekt wurde durch eine Tragödie „verwischt“, die einige Tage nach der Entscheidung des Politbüros vor sich ging. Am 8. Dezember starb nach der Beendigung des Hungerstreiks der Dissident Anatolij Marčenko.

Am 16. Dezember setzte sich Gorbačev über das erst kürzlich in der Wohnung des Akademiemitglieds installierte Telefon mit Sacharov in Verbindung und teilte ihm mit, dass er aus der Verbannung in Gor`kij nach Moskau zurückkehren könne. Auf dem Kursker Bahnhof bereiteten die Weggefährten und Gesinnungsgenossen Sacharov einen feierlichen Empfang.

Sacharov erinnerte sich: „Am 23. morgens stiegen wir auf den Bahnsteig des Jaroslaver Bahnhofs aus, der von einer Menge von Korrespondenten aus aller Welt überschwemmt war… Ungefähr 40 Minuten ging ich in dieser Menge langsam zum Auto… geblendet von Hunderten von Blitzlichtern, auf ununterbrochene beiläufige Fragen in mir vor den Mund gehaltene Mikrofone antwortend. Dieses informelle Interview war das Muster vieler folgender und die ganze Situation, wie ein ‚Modell‘ oder Vorbote des uns erwartenden unruhigen Lebens“. Übrigens hielt Sacharov sein Versprechen, auf eine aktive gesellschaftliche Tätigkeit zu verzichten, bis zur zweiten Jahreshälfte 1988. Er arbeitete im physikalischen P. Lebedev-Institut und trat bei öffentlichen Anlässen loyal auf.

Die Freilassung von Sacharov wurde die erste Schwalbe einer massenhaften Freilassung von politischen Häftlingen. Im Januar 1987 wurden 7 Personen vorzeitig entlassen, im Februar schon 60 und im März 66. 1987 forderte man von ihnen noch die Unterschrift unter den Verzicht auf oppositionelle Tätigkeit. Aber auch die, die nicht zustimmten zu unterschreiben, wurden freigelassen. 1988 verblieben nur die hinter Gittern, die der Anwendung von Gewalt schuldig waren, z. B. Flugzeugentführer.

Jedoch wurde die Freilassung der Andersdenkenden der Beginn des Endes der Dissidentenbewegung. Viele, die des Kampfes müde waren, schieden aus der aktiven Tätigkeit aus und wurden respektierte, aber passive Veteranen des Kampfes gegen den Totalitarismus. Andere emigrierten, um die Gastfreundschaft der westlichen Verbündeten auszukosten. Und nur Vereinzelte setzten die politische Tätigkeit fort und wurden Teil der informellen und dann der allgemeinen demokratischen Bewegung.

Der Verzicht auf die Strafverfolgung gegen Andersdenkende begann allmählich die Lage im gesellschaftlichen Leben der UdSSR zu ändern. Wie früher konnte eine Person für die Äußerung „falscher“ Ansichten von der Arbeit oder aus dem Institut entlassen werden (was auch für viele „demokratische“ Länder des Westens charakteristisch ist), aber trotzdem konnte eine neue Generation der Opposition, Nonkonformisten, Schritt für Schritt die halblegale und dann auch legale politische Struktur der Zivilgesellschaft entfalten.

(Übersetzung aus dem Russischen: Georg Wurzer)

Text und Übersetzung: CC BY-SA 4.0

  1. 1975 bis 1986 Präsident der Akademie der Wissenschaften, Anm. d. Übers.
  2. Kosename für Elena, Anm. d. Übers.
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