Einführung: Deklaration der Rechte der Völker Russlands: Unterschied zwischen den Versionen

Aus 1000 Schlüsseldokumente
Wechseln zu: Navigation, Suche
Keine Bearbeitungszusammenfassung
KKeine Bearbeitungszusammenfassung
Zeile 5: Zeile 5:




Seit dem 19. Jahrhundert war die Nationalitätenfrage Gegenstand heftiger Diskussionen und Auseinandersetzungen in der russischen Gesellschaft. Obwohl die Mehrheit der Sozialdemokratie das Russische Reich als „Gefängnis der Völker“ betrachtete, waren die Meinungen über das Schicksal der Nationalitäten im Sozialismus geteilt. Während die einen in der Aufhebung der Unterscheidungen zwischen Nationen eine wichtige Voraussetzung für wirtschaftliche Integrationsprozesse und damit für den Aufbau des Sozialismus sahen und nationale Befreiungskämpfe für „reaktionär“ erklärten, plädierten die anderen gerade umgekehrt für die Selbstbestimmung der Völker im sozialistischen Staat und für die Unterstützung nationaler Emanzipationsbewegungen, die aus ihrer Sicht ein unbestreitbares Befreiungspotential besaßen. Lenins eigene Position in dieser Frage gewann ihr Profil in den Jahren 1913 bis 1916 im Zuge der Auseinandersetzungen, die er gleichzeitig an zwei Fronten führte – auf der einen Seite gegen R. Luxemburg und G. Pjatakov, auf der anderen Seite gegen die Vertreter der nach dem ethnischen Prinzip organisierten Gruppen in der Sozialdemokratie. Er war bereit, das Selbstbestimmungsrecht der Nationalitäten einschließlich ihres Austrittsrechts aus dem russischen Staatsverband zu unterstützen, betonte aber, dass er einen Austritt unter den gegebenen Umständen nicht für sinnvoll halte. Diese Haltung ermöglichte den Bolschewiki eine flexible Politik in der Nationalitätenfrage. Auf der einen Seite konnten sie sich die Unterstützung der Nationalbewegungen sichern, auf der anderen Seite waren sie bestrebt, die formal unabhängigen Völker möglichst eng miteinander zu verbinden.
Seit dem 19. Jahrhundert war die Nationalitätenfrage Gegenstand heftiger Diskussionen und Auseinandersetzungen in der russischen Gesellschaft. Obwohl die Mehrheit der Sozialdemokratie das Russische Reich als „Gefängnis der Völker“ betrachtete, waren die Meinungen über das Schicksal der Nationalitäten im Sozialismus geteilt. Während die einen in der Aufhebung der Unterscheidungen zwischen Nationen eine wichtige Voraussetzung für wirtschaftliche Integrationsprozesse und damit für den Aufbau des Sozialismus sahen und nationale Befreiungskämpfe für „reaktionär“ erklärten, plädierten die anderen gerade umgekehrt für die Selbstbestimmung der Völker im sozialistischen Staat und für die Unterstützung nationaler Emanzipationsbewegungen, die aus ihrer Sicht ein unbestreitbares Befreiungspotential besaßen. Lenins eigene Position in dieser Frage gewann ihr Profil in den Jahren 1913 bis 1916 im Zuge der Auseinandersetzungen, die er gleichzeitig an zwei Fronten führte – auf der einen Seite gegen {{#set:Glossar=Luxemburg, Rosa}} [[Glossar:Luxemburg, Rosa|R. Luxemburg]] und G. Pjatakov, auf der anderen Seite gegen die Vertreter der nach dem ethnischen Prinzip organisierten Gruppen in der Sozialdemokratie. Er war bereit, das Selbstbestimmungsrecht der Nationalitäten einschließlich ihres Austrittsrechts aus dem russischen Staatsverband zu unterstützen, betonte aber, dass er einen Austritt unter den gegebenen Umständen nicht für sinnvoll halte. Diese Haltung ermöglichte den Bolschewiki eine flexible Politik in der Nationalitätenfrage. Auf der einen Seite konnten sie sich die Unterstützung der Nationalbewegungen sichern, auf der anderen Seite waren sie bestrebt, die formal unabhängigen Völker möglichst eng miteinander zu verbinden.


Zum Zeitpunkt der bolschewistischen Machtergreifung existierten auf dem Territorium des ehemaligen Reiches bereits starke nationale Befreiungsbewegungen, die in Finnland, im Transkaukasus und in der Ukraine besonders ausgeprägt waren. Polen sowie große Teile des heutigen Belarus und des Baltikums standen unter deutscher Besatzung. Die Bolschewiki waren zunächst weit davon entfernt, ganz Russland unter ihrer Kontrolle zu haben. Zudem war ihre Macht im Zentrum noch labil und wurde nur als provisorisch angesehen. Lenin und seine engsten Vertrauten führten einen erbitterten Kampf gegen das „Versöhnlertum“ im eigenen CK und gegen die Pläne einer sozialistischen Koalitionsregierung, die an die Stelle des bolschewistischen Rates der Volkskommissare (SNK) treten sollte. Es lag daher in ihrem unmittelbaren Interesse, die nationalen Befreiungsbewegungen umgehend als Verbündete zu gewinnen. Diese Aufgabe sollte die „Deklaration der Rechte der Völker Russlands“ lösen.
Zum Zeitpunkt der bolschewistischen Machtergreifung existierten auf dem Territorium des ehemaligen Reiches bereits starke nationale Befreiungsbewegungen, die in Finnland, im Transkaukasus und in der Ukraine besonders ausgeprägt waren. Polen sowie große Teile des heutigen Belarus und des Baltikums standen unter deutscher Besatzung. Die Bolschewiki waren zunächst weit davon entfernt, ganz Russland unter ihrer Kontrolle zu haben. Zudem war ihre Macht im Zentrum noch labil und wurde nur als provisorisch angesehen. Lenin und seine engsten Vertrauten führten einen erbitterten Kampf gegen das „Versöhnlertum“ im eigenen CK und gegen die Pläne einer sozialistischen Koalitionsregierung, die an die Stelle des bolschewistischen Rates der Volkskommissare (SNK) treten sollte. Es lag daher in ihrem unmittelbaren Interesse, die nationalen Befreiungsbewegungen umgehend als Verbündete zu gewinnen. Diese Aufgabe sollte die „Deklaration der Rechte der Völker Russlands“ lösen.

Version vom 29. Oktober 2024, 13:04 Uhr


von: Natal'ja Gerulajtis, 2011 (aktualisiert 2024)


Seit dem 19. Jahrhundert war die Nationalitätenfrage Gegenstand heftiger Diskussionen und Auseinandersetzungen in der russischen Gesellschaft. Obwohl die Mehrheit der Sozialdemokratie das Russische Reich als „Gefängnis der Völker“ betrachtete, waren die Meinungen über das Schicksal der Nationalitäten im Sozialismus geteilt. Während die einen in der Aufhebung der Unterscheidungen zwischen Nationen eine wichtige Voraussetzung für wirtschaftliche Integrationsprozesse und damit für den Aufbau des Sozialismus sahen und nationale Befreiungskämpfe für „reaktionär“ erklärten, plädierten die anderen gerade umgekehrt für die Selbstbestimmung der Völker im sozialistischen Staat und für die Unterstützung nationaler Emanzipationsbewegungen, die aus ihrer Sicht ein unbestreitbares Befreiungspotential besaßen. Lenins eigene Position in dieser Frage gewann ihr Profil in den Jahren 1913 bis 1916 im Zuge der Auseinandersetzungen, die er gleichzeitig an zwei Fronten führte – auf der einen Seite gegen R. Luxemburg und G. Pjatakov, auf der anderen Seite gegen die Vertreter der nach dem ethnischen Prinzip organisierten Gruppen in der Sozialdemokratie. Er war bereit, das Selbstbestimmungsrecht der Nationalitäten einschließlich ihres Austrittsrechts aus dem russischen Staatsverband zu unterstützen, betonte aber, dass er einen Austritt unter den gegebenen Umständen nicht für sinnvoll halte. Diese Haltung ermöglichte den Bolschewiki eine flexible Politik in der Nationalitätenfrage. Auf der einen Seite konnten sie sich die Unterstützung der Nationalbewegungen sichern, auf der anderen Seite waren sie bestrebt, die formal unabhängigen Völker möglichst eng miteinander zu verbinden.

Zum Zeitpunkt der bolschewistischen Machtergreifung existierten auf dem Territorium des ehemaligen Reiches bereits starke nationale Befreiungsbewegungen, die in Finnland, im Transkaukasus und in der Ukraine besonders ausgeprägt waren. Polen sowie große Teile des heutigen Belarus und des Baltikums standen unter deutscher Besatzung. Die Bolschewiki waren zunächst weit davon entfernt, ganz Russland unter ihrer Kontrolle zu haben. Zudem war ihre Macht im Zentrum noch labil und wurde nur als provisorisch angesehen. Lenin und seine engsten Vertrauten führten einen erbitterten Kampf gegen das „Versöhnlertum“ im eigenen CK und gegen die Pläne einer sozialistischen Koalitionsregierung, die an die Stelle des bolschewistischen Rates der Volkskommissare (SNK) treten sollte. Es lag daher in ihrem unmittelbaren Interesse, die nationalen Befreiungsbewegungen umgehend als Verbündete zu gewinnen. Diese Aufgabe sollte die „Deklaration der Rechte der Völker Russlands“ lösen.

Der Entwurf der „Deklaration“ wurde vom ersten Volkskommissar für nationale Angelegenheiten, Iosif Stalin, unter persönlicher Mitwirkung Lenins ausgearbeitet. Sie setzte der Nationalitätenpolitik der Provisorischen Regierung das Selbstbestimmungsrecht der Völker und Ethnien entgegen. Zugleich hob die bolschewistische Regierung alle nationalen und religiösen Privilegien auf, soweit sie den Untergang des Russländischen Reiches überdauert hatten. Als zukünftige Form des nationalen Staatsaufbaus proklamierte die „Deklaration“ den freiwilligen Zusammenschluss der Völker Russlands.

Wie alle frühen Dekrete der Sowjetmacht zielte auch die „Deklaration“ in erster Linie auf eine agitatorische Wirkung. Indem Lenin und Stalin die Souveränität der Völker und die Wahrung ihres nationalen Kulturerbes nach außen verteidigten, hofften sie, die Kontrolle des russländischen Zentrums nicht nur über das Territorium des einstigen Russländischen Reiches, sondern auch über die antiimperialistischen und nationalen Befreiungsbewegungen anderer Länder aufrechterhalten zu können. Gleichzeitig schuf die „Deklaration“ eine neue Ausgangsbasis für den politischen Machtkampf, indem sie dem Widerstand eines Teils der antibolschewistischen Kräfte, die für die nationale Autonomie und Unabhängigkeit ihrer Territorien kämpften, den Wind aus den Segeln nahm.

Die „Deklaration“ sah die Verabschiedung einer Reihe von Dekreten zur Umsetzung ihrer Grundsätze vor. Ihre Bestimmungen bildeten die Grundlage für die Nationalitäten- und Außenpolitik Sowjetrusslands sowie für seine Verfassungsstruktur. Unter Bezugnahme darauf hatte der Rat der Volkskommissare am 16. (29.) Dezember 1917 das Recht des ukrainischen Volkes auf die Gründung einer eigenen Ukrainischen Republik anerkannt. Noch am 7. (20.) November proklamierte die Zentralrada, das regionale Vertretungsorgan, in Kiew die Ukrainische Volksrepublik (UNR) als autonomen Teil Russlands. Die Bolschewiki erkannten zwar das Recht der Ukraine auf Unabhängigkeit an, nicht aber den Machtanspruch der „bürgerlichen“ Zentralrada, die ihrerseits die Unabhängigkeit noch nicht beanspruchte. Die ukrainischen Boschewiki begannen einen Kampf für den Sturz der Zentralrada und die Gründung „ihrer“ UNR, die am 12. (25.) Dezember in Char’kov konstituiert wurde. Am 25. Dezember 1917 (7. Januar 1918) begannen sowjetische Truppen, darunter auch russische Einheiten, ihren Vormarsch auf Kiew.

Ähnlich war die Situation in Finnland. Am 31. Dezember (13. Januar) wurde seine Unabhängigkeit vom Rat der Volkskommissare in Russland anerkannt. Danach brach jedoch in dem nun unabhängigen Land ein Bürgerkrieg zwischen den Anhängern der „proletarischen Revolution“ und ihren Gegnern aus.

Die „Deklaration“ und die Bereitschaft der sowjetischen Regierung, die Autonomie der Ukraine, Finnlands, Polens, des Baltikums und Transkaukasiens anzuerkennen, schufen eine neue außenpolitische Situation. Die deutschen Diplomaten, die im Dezember 1917 Friedensverhandlungen mit Sowjetrussland aufnahmen, konnten nun von ihrem Verhandlungspartner Nichteinmischung in die Angelegenheiten der unabhängigen Nachbarstaaten verlangen. Vertreter der deutschen und österreichisch-ungarischen Diplomatie nahmen auch Verhandlungen mit der Zentralrada auf, die Trockij als gleichberechtigten Verhandlungspartner anerkennen musste. Am 24. Januar (6. Februar) 1918 erklärte die Zentralrada vor dem Hintergrund der sowjetischen Offensive die Unabhängigkeit der Ukraine von Russland. Am 9. (22.) Februar schlossen ukrainische Vertreter mit den Deutschen einen Friedensvertrag ab, in dem sich die Ukraine verpflichtete, Deutschland und Österreich-Ungarn Lebensmittel zu liefern und ihr Territorium für die Truppen der beiden Länder zur Verfügung zu stellen. Damit war das Schicksal der Ukraine einschließlich der Gebiete, die nie von der Zentralrada regiert worden waren, besiegelt.

Gemäß den Bedingungen des am 3. (16.) März 1918 unterzeichneten Brester Friedensvertrages verzichtete Sowjetrussland auf jegliche Einmischung in die Angelegenheiten der baltischen Staaten, der Ukraine und des Transkaukasus, die damals unter deutscher, österreichisch-ungarischer bzw. osmanischer Besatzung standen. Nach der Niederlage der Mittelmächte und der Annullierung des Brester Friedensvertrages wurden diese Gebiete jedoch zum Schauplatz militärischer Auseinandersetzungen zwischen lokalen Nationalitätenbewegungen, sowjetischen und sowjettreuen Kräften, Interventionsarmeen der Entente und weißen Truppen. Schließlich gelang es Sowjetrussland, das als Sieger aus dem Bürgerkrieg hervorging, die Kontrolle über alle Länder zu errichten, die einst zum Russischen Reich gehört hatten, mit Ausnahme seines westlichsten Teils, zu erlangen. Innerhalb weniger Jahre gelang es, dort bolschewistische Parteien an die Macht zu bringen, die eng mit der VKP(b) verbunden waren. Nur Finnland und die drei baltischen Staaten konnten ihre Souveränität behaupten. Moldawien fiel an Rumänien, die westlichen Teile der Ukraine und Weißrusslands an Polen. Drei Jahrzehnte später wurden diese Länder mit Ausnahme Finnlands der UdSSR einverleibt.

(Übersetzung aus dem Russ. von L. Antipow)


Nach oben