Einführung:Richtlinien der Deutschen Zentrumspartei
Die Zentrumspartei bildete einen genuinen und integrierenden Bestandteil des modernen deutschen Parteiwesens. Drei Wurzeln lagen ihr zugrunde: Erstens ist das Streben nach angemessener Repräsentanz christlich-kirchlich gesinnter Personengruppen im zunehmend säkularistischen Nationalstaat zu nennen. Von daher forderten die politisch aktiv werdenden Katholiken seit 1848 die Gewährung kirchlicher Freiheitsrechte, die für sie im Rang bürgerlicher Grundrechte standen. Zweitens erschien vielen großdeutsch eingestellten Katholiken nach der kleindeutschen Reichseinigung von 1871 als unabweisbar, für die Erhaltung der bundesstaatlichen Gliederung und die nunmehrige Minoritäts-Existenz einzutreten. Drittens bezeugten bereits die ersten Wahlaufrufe, Konferenzen und Programmentwürfe der 1860er Jahre ein Bewusstsein für die sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen der entstehenden Industriegesellschaft.
Im Dezember 1870 bildete das Zentrum eine Fraktion von 48 Abgeordneten im preußischen Abgeordnetenhaus. Ihr Vorläufer war die dort bis 1867 bestehende Katholische Fraktion (Zentrum). Anfang 1871, nach den ersten Reichstagswahlen im Gefolge der Reichseinigung von 1870/71, schlossen sich 67 Abgeordnete zur Zentrumsfraktion im Reichstag zusammen. Sie blieb mit Führungspersönlichkeiten wie Ludwig Windthorst, Ernst Lieber, Alfred von Hompesch, Georg von Hertling, Adolf Gröber und Peter Spahn bis zum Ende des Kaiserreichs die bestimmende Kraft der Partei. Erst am 8. Februar 1914 trat mit dem Reichsparteiausschuss das erste zentrale Spitzengremium zusammen.
Das Zentrum verstand sich als überkonfessionelle politische Partei, die für die Wahrung von Recht und Verfassung eintrat. Doch entwickelte es sich infolge des Kulturkampfs, den Reichskanzler Otto von Bismarck und der nationale Liberalismus entfesselten, de facto zur Vertreterin der katholischen Volksminderheit, die 1910 bei 36,7 % der Gesamtbevölkerung Deutschlands ausmachte.
Die Bedrohung von außen führte zu innerer Geschlossenheit. Das Zentrum umfasste Angehörige aller sozialen Schichten, deren Interessenausgleich ihm auch programmatisch angelegen war. Zwischen 1874 und 1890 stimmten zeitweise über 80 % der wahlberechtigten Katholiken für die Zentrumspartei. In diesen Jahren entstand auch eine regional differenzierte katholische Presse. Anstelle einer Parteiorganisation dienten die katholischen Vereine dem Zentrum als soziale Basis. Am bedeutendsten wurde nach 1890 der Volksverein für das katholische Deutschland. Er widmete sich „apologetischen“ Aufgaben und der sozialen Schulung der Industriearbeiter. Auch das Gewerbe, der Kaufmanns- und der Mittelstand fanden im Zentrum Vertretung. Zur Unterstützung der vielfach an den Universitäten zurückgesetzten katholischen Gelehrten wurde 1876 bei Bonn die „Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft im katholischen Deutschland“ gegründet.
Seit 1894 wirkten die dem Zentrum nahestehenden Christlichen Gewerkschaften der sozialistischen Agitation unter den Industriearbeitern entgegen. Da sie im Gegensatz zu den katholischen Fachabteilungen Arbeiter verschiedener konfessioneller Herkunft aufnahmen, wurden sie erst nach innerkatholischen Auseinandersetzungen von der kirchlichen Hierarchie anerkannt. Während es Zentrum gelang, sich mit der „reichsfeindlichen“ polnischen und elsässischen Minderheit zu solidarisieren, konnte die Bruchlinie zum selbstbewussten, politisch liberal, konservativ oder sozial orientierten Protestantismus bis 1933 bzw. 1945 nicht überwunden werden. Die Aufrufe der „Kölner Richtung“ um Julius und Carl Bachem, den „Zentrumsturm“ zu verlassen, sowie die Verteidigung der protestantischen Landsleute gegen publizistische Angriffe französischer Katholiken im Ersten Weltkrieg, die den hohen Grad der „Integration“ der Katholiken im Kaiserreich anzeigte, blieben so ohne Wirkung.
Andererseits überstand der Katholizismus den Umbruch von 1918/19 besser als andere politische Gruppierungen. Da die Katholiken im Kaiserreich teilweise systematisch zurückgesetzt worden waren, konnten sich ihre Führungskräfte leichter von der Hohenzollernmonarchie distanzieren als viele evangelische Christen. Sie vermochten den Übergang zur Republik überraschend gut mitzugestalten, weil die im Zentrum ausgebildete katholische Staatslehre die jederzeit zu bewahrende Ordnung des Gemeinwesens über die Staatsform stellte. Das Zentrum wirkte maßgeblich an der Verfassung der Weimarer Republik und ihrer Grundrechtsartikel mit. Seiner Absicht der Schaffung und Wahrung einer verlässlichen Rechtsordnung waren Grenzen gesetzt, weil es nur als Minderheitspartei dem Ansturm kommunistischer und reaktionärer antirepublikanischer Kräfte entgegenwirken konnte. An frühere Versuche der Ausweitung des Zentrums (1918) anschließend, propagierte der christliche Gewerkschaftsführer Adam Stegerwald am 20. November 1920 vor 340 Delegierten des Essener Kongresses die „Zusammenfassung der vaterländischen, christlichen, volkstümlichen und wahrhaft sozial denkenden Kreise aus allen Volksschichten“ in einer „großen gemäßigten Partei“, die „auf der Grundlage positiv christlicher Gesinnung“ ruhen solle. Die Bildung einer die Extreme von „rechts“ und „links“ verhindernden Kraft der Mitte blieb indes aus. Vorrangig schien es, die wirtschaftliche Not zu beheben, und die politischen Milieus des bisherigen Parteiensystems erwiesen sich vorerst als beharrlich.
Ein gewisser Ersatz für die verpasste Chance kann darin gesehen werden, dass sich das Zentrum als Partei der Mitte definierte und eine zunächst nach links, dann auch nach rechts offene Koalitionspolitik betrieb. Im Sinne eines umfassenden Gestaltungsanspruchs lässt sich die Aussage des Kulturexperten der Partei, Georg Schreiber, vom Januar 1923 interpretieren: „Das Zentrum sei jetzt mehr denn je das Zentrum des deutschen Parteilebens“. Nach der Revolution wollte die Partei einen wesentlichen Beitrag zum Neuaufbau leisten und zu diesem Zweck eine Sachpolitik betreiben, die den staatspolitischen Notwendigkeiten gerecht wurde. So nahmen denn die Richtlinien von 1922, „ein neues Programm für die alte Partei“ (R. Morsey), zu allen wichtigen Bereichen des Staatslebens prononciert Stellung: zu den „Auswärtigen Angelegenheiten“, zu „Staatsordnung und Verwaltung“, zu „Finanzwesen und Steuern“, zu „Wirtschaft und Arbeit“, zu „Volkswohlfahrt und Kultur“.
Die Betonung der Sach- und Staatspolitik schien geeignet, gemeinsames überparteiliches Handeln zu erleichtern und die immer noch virulenten konfessionspolitischen Vorbehalte zu entkräften. Das Bekenntnis der Richtlinien zu einer „zielklaren christlich-nationalen Politik“ spiegelte wohl den seit der Revolution von 1918/19 gestärkten Einfluss der christlich-nationalen Arbeiterbewegung wider. Die Kerntruppe der Christlichen Gewerkschaften war durch die Einzelverbände der deutschen Angestelltengewerkschaften und der Beamtengruppe verstärkt worden; die Fühler reichten weiter in die liberal orientierten Verbände hinein.
Die Offenheit und Sachorientierung der „Richtlinien“ trug auch der einigenden Tendenz des Weimarer „Volksstaats“ Rechnung, zu der die Finanzreform des Zentrumsparlamentariers Matthias Erzberger erheblich beitrug. In einer überspitzten Form praktizierte die Bayerische Volkspartei den Föderalismus, als sie im Reichstag die Fraktionsgemeinschaft mit der Schwesterpartei aufhob.
Die durch die Kriegsfolgelasten und die Reparationen geförderte Tendenz zum Einheitsstaat nötigte das Zentrum allerdings zum verstärkten Wettstreit mit den Kräften des Liberalismus und mit den zwischen Mäßigung und Radikalismus schwankenden Sozialdemokraten. Die christliche Staatslehre und Philosophie, die Bildungs- und Jugendarbeit (Windthorstbunde) und damit die weltanschaulichen Grundlagen erfuhren eine neue Akzentuierung. Die Propagandatätigkeit schlug sich z.B. in den „Mitteilungen der Deutschen Zentrumspartei“ (seit 1924) und im „Politischen Jahrbuch“ (1925-1928) nieder, die verschiedene Politikfelder behandelten.
Diese Betonung des weltanschaulichen Charakters der Zentrumspartei trat in einen gewissen Gegensatz zur tendenziell vorbehaltlosen Koalitionspolitik. Gegen konservative Tendenzen in den eigenen Reihen verteidigte die Zentrumsführung wiederum ihren maßgeblichen Anteil an der Weimarer Verfassungsarbeit und den pragmatisch zu verstehenden ersten Verfassungsartikel, wonach die Staatsgewalt vom Volke (statt von Gott) ausgehe.
Die „christliche Volkspartei“, wie sich das Zentrum seit 1918 nannte, setzte sich von Anbeginn für die aktive Mitarbeit an der Republik ein. Nach der Ermordung des Zentrumspolitikers Erzberger durch rechtsradikale Täter formulierte sein Parteifreund Joseph Wirth, 1921 Reichskanzler, dann Außen- und Finanzminister: „Der Feind steht rechts“. Der Publizist Carl Muth forderte 1926 in der Zeitschrift „Hochland“, für die verfassungsmäßig gebotene Republik Partei zu ergreifen, statt gleichgültig abzuwarten. Auf dem 4. Reichsparteitag des Zentrums 1925 in Kassel waren ähnliche Stimmen zu vernehmen. 1931 wandte sich Karl Bachem in seinem Geschichtswerk über die Zentrumspartei scharf gegen den Nationalsozialismus, während der Zentrumskanzler Heinrich Brüning Anfälligkeit für autoritäre Tendenzen zeigte.
An der sinkenden Anzahl der Reichstagsabgeordneten des Zentrums und der Bayerischen Volkspartei ließ sich ablesen, dass ihnen die Wähler davonliefen: Ihr Anteil sank von 21,2 % bei den Wahlen zur Nationalversammlung 1919 auf 15,1 % bei der Reichstagswahl vom 14. Sept. 1930.
Das Jahr der „Machtergreifung“ 1933 bedeutete das Ende des Zentrums. Das NS-Regime übte so starken Druck auf die Partei aus, dass sie sich schließlich im Juli 1933 als letzte „bürgerliche“ Partei selbst auflöste. Viele Abgeordnete und Mitglieder des Zentrums wurden als ehemalige Angehörige einer der verhassten Weimarer „Systemparteien“ von den Nationalsozialisten beruflich benachteiligt, bespitzelt, verfolgt, verhaftet oder ins Exil getrieben.
Die Wiedergründung der Deutschen Zentrumspartei erfolgte im Oktober 1945 in Soest. Führende Gründerpersönlichkeit war der frühere Generalsekretär des rheinischen Zentrums, Wilhelm Hamacher. Die Partei wollte weiterhin die Interessen des katholischen Bevölkerungsteils vertreten, lehnte den Protestantismus als nationalistisch belastet ab und vertrat ein sehr soziales Programm. Die Mehrheit der Führung der Orts- und Provinz-Vereine des früheren Zentrums schloss sich jedoch der überkonfessionellen Gründung der Christlich-Demokratischen Union (CDU) an. Unter den völlig veränderten Bedingungen der zweiten Nachkriegszeit waren ehemalige Zentrumspolitiker wie Konrad Adenauer und Adam Stegerwald maßgeblich an der Neubildung der Unionsparteien CDU und CSU beteiligt. Sie taten dies aus innerer Überzeugung, um nach einer beispiellosen Niederlage christliche Grundsätze und frühere Wertmaßstäbe in eine zwischen 1933 und 1945 pervertierte Politik einzubringen, aber auch im Bewusstsein, dass die neuen interkonfessionellen Volksparteien den Herausforderungen einer gewandelten Welt und schwer berechenbaren Zukunft ausgesetzt waren.
[Русская версия отсутствует]