Einführung: Sowjetisch-französischer Beistandsvertrag
Während über die Bewertung des sowjetisch-französischen Beistandsvertrages als Höhepunkt der außenpolitischen Bemühungen der Sowjetunion um die Schaffung eines europaweiten Systems der „kollektiven Sicherheit“ Konsens besteht, bleibt die Frage nach der Verantwortung für das Scheitern dieser Politik umstritten. Die traditionelle sowjetische und einige Vertreter der russischen Historiographie weisen die Verantwortung Frankreich und Großbritannien zu. In jüngster Zeit sind jedoch Studien erschienen, deren Autoren (z.B. Sluč) meinen, dass auch Stalin bereits 1938 zur Appeasement-Politik neigte. Dem widersprechen andere Autoren (z.B. Mel'tjuchov), die als Beleg statistische Daten aus sowjetischen Militärarchiven anführen, die illustrieren sollen, dass die UdSSR 1938 bereit war, die antideutsche Koalition militärisch zu unterstützen.
Die Wende in der sowjetischen Außenpolitik von der Konfrontation zu einem Bündnis mit den Garantiemächten des Versailler Systems begann 1933. Nach der Niederlage der Kommunisten in Deutschland und einer rasanten Verschlechterung der deutsch-sowjetischen Beziehungen sah sich Stalin international isoliert. Um eine Alternative zur weggefallenen deutsch-sowjetischen Kooperation zu schaffen, entschloss man sich zu einem politischen Kurswechsel und einer Annäherung an den früheren Gegner Frankreich. Dies lag auch im Interesse der führenden Kreise in Frankreich, deren Absicht es war, ein politisches Gegengewicht zu Nazideutschland zu schaffen.
Im November 1933 fasste das Politbüro des CK der VKP(b) den Grundsatzbeschluss für eine Umorientierung der sowjetischen Außenpolitik von Deutschland auf Frankreich. Mit dem Abklingen der Großen Depression waren die sowjetisch-französischen Wirtschaftsgegensätze aus der Welt geschafft. Am 11. Januar 1934 wurde der sowjetisch-französische Handelsvertrag unterzeichnet und am 16. Februar desselben Jahres ein ähnlicher Vertrag zwischen der Sowjetunion und Großbritannien. Das Problem der außenpolitischen Sicherheit stand dabei ganz oben an.
Die UdSSR war bereit, dem von Deutschland verlassenen Völkerbund, den Moskau früher als die „Kommandozentrale des Weltimperialismus“ betrachtet hatte, beizutreten, und zum loyalen Mitglied dieser „Gemeinschaft“ zu werden. Am 19. Dezember 1933 verabschiedete das Politbüro des CK der VKP(b) einen Beschluss, der die endgültige Bereitschaft der sowjetischen Seite zum Ausdruck brachte, dem Völkerbund beizutreten, allerdings unter der Bedingung, dass das Schiedsgericht des Völkerbundes nur die Einhaltung der von der UdSSR nach ihrem Beitritt eingegangenen Verpflichtungen überwachen und sich nicht in die alten außenpolitischen Streitfragen, z.B. um Bessarabien, einmischen dürfe. Die UdSSR schlug auch andere Vorbehaltsklauseln vor, die jedoch von den anderen Mitgliedern des Völkerbundes ignoriert wurden. Dennoch trat die UdSSR am 18. September 1934 dem Völkerbund bei, „um in [seinem] Rahmen [...] regionale Abkommen über gegenseitige Verteidigung gegen eine Aggression von Seiten Deutschlands abzuschließen“. Der französische Außenminister Jean Louis Barthou kommentierte diesen politischen Schritt mit dem Satz: „Mein Hauptziel ist erreicht – die Regierung der UdSSR wird jetzt mit Europa zusammenarbeiten.“
Zunächst wollte man Hitler einen „Ostpakt“ nach dem Muster der Locarno-Verträge von 1925 vorschlagen, in denen die Westgrenzen Deutschlands festgelegt worden waren. Außerdem sollte sich Deutschland dazu verpflichten, keine Änderung der im Versailler Vertrag festgelegten Ostgrenzen zu fordern. Nach einem Plan, der im April 1934 von Barthous Stellvertreter Léger entworfen wurde, sollten Deutschland, die UdSSR, die Tschechoslowakei, Polen und die baltischen Staaten ein „Ost-Locarno“ garantieren. Barthou war der Meinung, dass Frankreich und die UdSSR eine Sonderkonvention hätten abschließen sollen, die sowohl den „Ostpakt“ als auch die Einhaltung der Locarno-Verträge abgesichert hätte. Die direkte Teilnahme an einem Pakt der osteuropäischen Staaten wäre für Frankreich wenig akzeptabel gewesen. So entstand die Idee, zwei getrennte Verträge abzuschließen. Litvinov schlug vor, beide Entwürfe zu vereinen, und versuchte Barthou von der Notwendigkeit eines „Ostpaktes“ unter Beteiligung Frankreichs ohne Deutschland zu überzeugen.
Hitler war die Idee eines „Ostpaktes“ fremd – er beabsichtigte, seine Ansprüche gegenüber den östlichen Nachbarn im Laufe der Zeit geltend zu machen und sie zu zwingen, zumindest die Gebiete zurückzugeben, die Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg entzogen worden waren, sowie die ehemaligen österreichischen Besitztümer mit deutscher Bevölkerungsmehrheit. Dann versuchte Barthou die Briten, deren Beziehungen zu den Deutschen enger waren, für den Pakt zu gewinnen. Doch im Juli erklärte London Barthou sein grundsätzliches „Nein“ zu allen Bündnisverträgen, an denen die UdSSR als Partner beteiligt sein sollte. Daraufhin gab Barthou zu verstehen, dass er auch alleine – ohne Großbritannien und Deutschland – zu einer Einigung mit den Kommunisten kommen könne: „In der fernen Vergangenheit schloss das republikanische Frankreich einen Vertrag mit dem zarischen Russland, obwohl ihre Regime sich sehr voneinander unterschieden. Doch die Geschichte wurde von der Geographie bestimmt, und so ist ein französisch-russisches Bündnis zustande gekommen.“ Daraufhin änderten die Briten ihre Meinung und erklärten sich zu einem Kompromiss bereit: Als Gegenleistung für das „Ost-Locarno“ sollte die Gleichberechtigung Deutschlands auf dem Rüstungssektor wiederhergestellt werden. Alle diese Forderungen wurden jedoch hinfällig, da Hitler die Beschränkungen von Versailles ohnehin zu missachten und zu umgehen gedachte.
Bis zum Herbst 1934 wurde klar, dass Deutschland nicht bereit war, an einem „Ostpakt“ teilzunehmen. Dieser Entschluss kam weder für Stalin noch für Barthou unerwartet. Nun konnte über einen Pakt zur „kollektiven Sicherheit“ zwischen der UdSSR, Frankreich und seinen Verbündeten in Osteuropa verhandelt werden. Die neue Fassung des „Ostpaktes“ hatten einen unverhohlen antideutschen Charakter. Schwierigkeiten ergaben sich jedoch in den Beziehungen zwischen den Ländern, die daran beteiligt werden sollten. Polen wollte kein Bündnis mit der UdSSR, die territoriale Ansprüche an das Land stellte. Die polnische Vertretung drängte auch auf eine Beteiligung Rumäniens am Pakt, dem eine Teilnahme der UdSSR jedoch nicht gelegen gekommen wäre, da die UdSSR die Rückgabe Bessarabiens anstrebte.
Barthou unternahm große Anstrengungen, um eine Lösung für diese Probleme zu finden. Doch am 26. Januar 1934 schloss Polen einen Nichtangriffspakt mit Deutschland – in der Überzeugung, dass die Freundschaft mit Deutschland sicherer sei, als die Freundschaft mit der Sowjetunion. Am 9. Oktober 1934 traf König Aleksandar von Jugoslawien, der seit Jahren versuchte, Serben, Kroaten, Slowenen und Mazedonier zu einer Nation zu vereinen, in Paris ein. Als Barthou ihn im offenen Auto begleitete, fielen Schüsse, die beide Staatsmänner tödlich trafen.
Der neue französische Außenminister Pierre Laval zeigte weniger Enthusiasmus im Kampf gegen Deutschland als sein Vorgänger. Fünf Jahre später war Frankreich von Deutschland zerschlagen und Laval wurde Chef der deutschfreundlichen Marionettenregierung; er wurde nach dem Krieg als Kollaborateur hingerichtet. 1935 spielte Laval nach den alten Regeln und führte Barthous Vorarbeiten zum „Ostpakt“ zu Ende. Dabei hielt er stets Ausschau nach Großbritannien, das gegenüber einem Militärbündnis mit der UdSSR negativ eingestellt war.
Damit war das Projekt eines „Ostpaktes“ endgültig gescheitert, und die UdSSR und Frankreich entschlossen sich, die Reste vertraglich festzuhalten. Und übrig geblieben war das Dreieck UdSSR-Frankreich-Tschechoslowakei. Die Tschechoslowakei geriet als Verbündeter Frankreichs in das „Dreieck“; die UdSSR wurde in Prag mit Sorge betrachtet, aber sie war weit weg, Deutschland dagegen nah. Und wenn sich sogar Frankreich entschied, Deutschland mit der Sowjetunion zu drohen, so war die tschechoslowakische Seite zur Teilnahme bereit.
Am 2. Mai 1935 wurde der Vertrag über den gegenseitigen Beistand zwischen der UdSSR und Frankreich abgeschlossen; am 16. Mai 1935 folgte ein vergleichbarer Vertrag zwischen der UdSSR und der Tschechoslowakei. Wie bereits ihr Titel verrät, sahen die Verträge den gegenseitigen Beistand der drei Länder vor, falls eine der vertragschließenden Parteien mit der Aggression eines fremden Staates konfrontiert werden sollte. Die UdSSR sagte der Tschechoslowakei ihren Beistand nur für den Fall zu, dass Frankreich seiner Verpflichtung nachkommen und ebenfalls Beistand leisten würde. Die französische Seite machte ihrerseits den Vorbehalt, dass die UdSSR nur dann Hilfe erhalten würde, wenn das Bündnis mit der UdSSR nicht im Widerspruch zu den Verpflichtungen Frankreichs gegenüber den osteuropäischen Nachbarn der UdSSR stünde.
Der Vertrag sollte seine logische Fortsetzung in der Schaffung eines umfassenden Systems der „kollektiven Sicherheit“ finden. Andernfalls konnte er nur im Falle eines deutsch-tschechischen Konflikts in Kraft treten, z. B. bei einem Überfall Deutschlands auf das Territorium der Tschechoslowakei (ein Überfall Deutschlands auf Frankreich war 1935 noch kein Thema). Weder Laval noch die spätere politische Führung Frankreichs waren jedoch an einem Ausbau des Systems der „kollektiven Sicherheit“ interessiert. Die Wirkung des Vertrages zeigte sich in der Sudetenkrise von 1938. Frankreich zog es vor, den Bündnisverpflichtungen gegenüber der Tschechoslowakei nicht nachzukommen, was wesentlich zur Kapitulation Prags beitrug. Aufgrund der Haltung Frankreichs hatte die UdSSR keinen Anlass, in den europäischen Konflikt einzugreifen. Dies war auch ausschlaggebend für die skeptische Haltung der UdSSR während der britisch-französisch-sowjetischen Verhandlungen 1939, als die letzte Chance vor dem Krieg, eine Anti-Hitler-Koalition unter der Beteiligung der UdSSR zu schaffen, ungenutzt blieb. Mit dem Abschluss des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrages am 23. August 1939 wurde der sowjetisch-französische Beistandsvertrag hinfällig.