Einführung:Protokollnotiz der Sitzungen des Präsidiums des CK der KPSS im Zusammenhang mit den Ereignissen in Polen und Ungarn

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von: Jörn Petrick


1.

Infolge der stalinistischen Herrschaft war es in der Sowjetunion sowie den Ländern des Warschauer Paktes zu enormen sozialen und politischen Verwerfungen gekommen. Zur Entschärfung dieses Konfliktpotentials setzte Chruščev in der Sowjetunion auf eine vorsichtige Entstalinisierungspolitik, ohne damit eine Abkehr vom kommunistischen System und von der führenden Rolle der Partei zu verbinden. Für die häufig altstalinistischen Führungen in den „sozialistischen Bruderländern“ war unklar, inwieweit sie dem unsteten Kurs Chruščevs folgen konnten bzw. mussten und wo die Grenzen für eine nationale Politik lagen. Die „Geheimrede“ Chruščevs bedeutete in den innerparteilichen Führungskämpfen eine Schwächung der stalinistischen Kräfte gegenüber den Reformern. Infolge der politischen und sozialen Verwerfungen und der schwankenden Entstalinisierungspolitik kam es im gesamten Ostblock zu Streiks und Aufständen. Diese „Entstalinisierungskrise“ (Foitzik) bildete den Rahmen für die miteinander eng verbundenen Ereignisse in Ungarn und Polen 1956.[1]

In Ungarn wehrte sich der stalinistische Erste Sekretär des ZK der Ungarischen Partei der Werktätigen (Magyar Dolgozók Partja, MDP), Mátyás Rákosi, entschieden gegen eine Entstalinisierungspolitik in seinem Land. Im April 1955 war es ihm gelungen, Imre Nagy, der ihm 1953, nach dem Volksaufstand in der DDR, von Moskau als Ministerpräsident zur Seite gestellt worden war, wieder zu entmachten und dessen „Neuen Kurs“ endgültig zum Scheitern zu bringen. Die innerparteiliche Opposition gegen Rákosi verstärkte sich jedoch und begann, ihn schließlich direkt anzugreifen. Am 27. Juni 1956 übte der von der Jugendorganisation der MDP initiierte Diskussionskreis „Petőfi Kör“ (Petőfi-Kreis) in einer von den Medien verbreiteten Diskussion erstmals massive öffentliche Kritik an Rákosi. Der am Folgetag im polnischen Posen ausgebrochene Aufstand ließ Rákosi und auch Moskau das Schlimmste für Ungarn befürchten. Allerdings reagierte Moskau anders als von Rákosi erwartet und entmachtete ihn. Am 18. Juli wurde mit Ernő Gerő ein neuer Erster Sekretär gewählt. Doch Gerő war wie Rákosi ein Hardliner und die Situation in Ungarn begann sich nach einer kurzen Beruhigung wieder zu verschärfen. Auch als Gerő sehr vorsichtig Zugeständnisse machte, wie etwa die Rehabilitierung Laszlo Rajks, verbesserte sich die Lage für die Parteiführung nicht.

Nachdem es vom 19. bis 21. Oktober zur Gründung eines unabhängigen Studentenverbandes gekommen war, beschlossen die Studenten der Technischen Universität diesem beizutreten und der Regierung eine „16 Punkte“-Deklaration vorzulegen. In dieser forderten sie u.a. den Abzug der sowjetischen Truppen aus Ungarn, freie und geheime Wahlen sowie Meinungsfreiheit. Nachdem ihnen eine Verlesung der Forderungen im Rundfunk untersagt worden war, riefen sie zu einer Demonstration am 23. Oktober 1956 auf, mit der sie ihre Forderung durchsetzen, aber auch ihre Sympathie mit dem neuen Reformkurs in Polen unter Parteisekretär Gomułka („Polnischen Oktober“) bekunden wollten. Die Demonstration am 23. Oktober 1956 begann friedlich und stand anfänglich ganz im Zeichen der Sympathie für die Veränderungen in Polen. Im Laufe des Tages verschärfte sich aber der Ton und die Demonstranten, deren Anzahl von 50 000 auf 200 000 anstieg, forderten schließlich „Russen nach Hause! Rákosi in die Donau, Imre Nagy an die Macht!“[2]

Gegen 21.00 Uhr versammelten sich die Demonstranten vor dem Rundfunkgebäude und forderten die Verlesung der „16 Punkte“ im Radio. Stattdessen wurde jedoch eine Rundfunkansprache von Gerő ausgestrahlt, in der die Demonstranten als Faschisten bezeichnet und ihnen harte Strafen angedroht wurden. Die dadurch verschärfte Situation eskalierte, als aus dem Rundfunkgebäude Schüsse auf die Demonstranten abgegeben wurden. Der Aufstand brach aus: Das Stalin-Denkmal wurde gestürzt und Waffendepots, Telefonzentralen sowie das Redaktionsgebäude der Parteizeitung und das Rundfunkgebäude gestürmt.

Bereits seit dem späten Nachmittag wurde in der Sowjetischen Botschaft in Budapest über eine militärische Intervention nachgedacht. Gerő hatte beim Militärattaché der Botschaft darum ersucht. Der sowjetische Botschafter in Ungarn (Andropov) und der Befehlshaber des „Besonderen Armeekorps“ der sowjetischen Streitkräfte in Ungarn informierten auch Chruščev und den sowjetischen Verteidigungsminister Žukov über dieses Hilfeersuchen. Chruščev, der zunächst gezögert hatte, weil er nicht von Gerő selbst darum gebeten worden war, stimmte der Intervention schließlich zu. Er verlangte zugleich ein schriftliches Hilfeersuchen der ungarischen Regierung und eine mögliche Zusammenkunft des Zentralkomitees der MDP erst nach der Lösung des Konflikts, außerdem sollte Nagy vorerst nicht zum Ministerpräsidenten bestimmt werden.

2. Die Dokumente

Bei den drei hier abgedruckten Dokumenten handelt es sich 1. um eine kurze handschriftliche Arbeitsnotiz des Leiters der Allgemeinen Abteilung des CK der KPSS, Vladimir Malin, über die Nachtsitzung des Präsidiums des CK der KPSS am 23. Oktober 1956, 2. um eine Arbeitsnotiz Malins über die erweiterte Sitzung des Präsidiums des CK mit den Parteichefs der kommunistischen „Bruderparteien“ der DDR, ČSSR und Bulgariens am 24. Oktober 1956 und 3. um eine Mitschrift des Sekretärs von Novotný, Jan Svoboda ebenfalls über die Sitzung vom 24. Oktober.

Die Dokumente berichten 1. über die, mit einer Gegenstimme (Mikojan) gefällte Entscheidung der sowjetischen Führung, in Ungarn militärisch zu intervenieren, 2. über die Zustimmung der Vertreter der Bruderparteien zur Intervention in Ungarn, nur Ulbricht wünschte sich noch ein härteres Vorgehen und kritisierte die Position Moskaus als zu nachgiebig, 3. über die Entwicklung in Ungarn, wie sie sich für Chruščev darstellte, 4. die Überzeugung Moskaus, den Aufstand schnell niederschlagen zu können, und 5. die Zustimmung Chruščevs zur Mitarbeit Nagys in der ungarischen Regierung, jedoch nicht als Regierungschef.

Sie belegen 1. die große Zustimmung der Parteiführungen in Moskau , Berlin und Prag zu der Intervention, 2. dass außenpolitische Überlegungen gegenüber dem Westen in den Sitzungen keine Rolle spielten, 3. dass die Initiative zur Intervention von Gerő und dem sowjetische Botschafter in Ungarn, Andropov, ausging, und 4. dass Chruščev versuchte, die Lage in Ungarn gleichzeitig politisch, mit der Aufwertung des Reformer Nagys, und militärisch, ähnlich dem begrenzten und eher als Machtdemonstration gestalteten Einsatz in Ost-Berlin 1953, zu lösen.

3. Folgen der Intervention

Zum Zeitpunkt der Sitzung am 24. Oktober 1956 waren bereits sowjetische Truppen (ab vier Uhr) in Budapest einmarschiert. Sie stießen auf erbitterten Widerstand. Der Einsatz der Truppen führte zu einem nationalen Aufstand in Ungarn.

Die ungarische Parteiführung wählte noch am selben Tag Imre Nagy zum Ministerpräsidenten, um die Unruhen durch politische Zugeständnisse einzudämmen. Gerő blieb aber Erster Sekretär der Partei. Die Emissäre aus Moskau, Mikojan, Suslov und Serov trafen erst am Nachmittag in Ungarn ein und wurden mit der Wahl Nagys vor vollendete Tatsachen gestellt, denen sie letztendlich aber zustimmten.

Die neue Regierung unter Nagy verhängte das Standrecht und bezeichnete den Aufstand als konterrevolutionär. Die Kämpfe hielten weiter an. Am 25. Oktober kam es auf dem Platz vor dem Parlament zu einem Massaker an Demonstranten, nachdem aus umliegenden Gebäuden Schüsse auf die versammelten Demonstranten und mit ihnen verbrüderte sowjetische Soldaten abgefeuert worden waren. Der Aufstand breitete sich im ganzen Land aus. Die Nagy-Regierung befand sich unter gewaltigem Druck und suchte nach politischen Lösungen. Die Kämpfe innerhalb der Parteiführung hielten weiter an, aber die Reformer begannen sich langsam gegen die Stalinisten durchzusetzen. Gerő wurde von János Kádár als Parteichef abgelöst, und Nagy kündigte Verhandlungen über den sowjetischen Abzug der Truppen an, ohne Mikojan zu konsultieren.

Am 28. Oktober wurde die neue Regierung vereidigt. In einer ersten Radioansprache kündigte Nagy erneut Verhandlungen über den Abzug der sowjetischen Truppen an, versprach den Aufständischen Straffreiheit, erkannte die inzwischen gebildeten revolutionären Organe an und verordnete einen Waffenstillstand. Den Aufstand bezeichnete er nicht mehr als konterrevolutionär. Nagy versuchte, durch diese Eingeständnisse die Lage zu beruhigen. Die Kämpfe flauten auch aufgrund des Waffenstillstandes ab.

Am selben Tag erhielt die sowjetische Führung das bereits am 23. Oktober geforderte Interventionsersuchen der ungarischen Regierung für den sowjetischen Einmarsch am 24. Oktober. Da Gerő nicht Regierungschef, sondern „nur“ Parteichef war, konnte er ein solches Hilfeersuchen nicht selbst unterschreiben. Da Nagy die Unterschrift verweigerte, unterzeichnete schließlich Hegedüs am 27. Oktober das auf den 24. Oktober zurückdatierte Schreiben, obwohl er nicht mehr das Amt Ministerpräsidenten innehatte.

Am 30. Oktober erklärte Nagy die Abschaffung des Einparteiensystems und nahm Mitglieder der Partei der kleinen Landwirte und der Nationaldemokratischen Partei in die Regierung auf. Am 31. Oktober löste sich die alte kommunistische MDP auf. Sie wurde am selben Tag als Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei (Magyar Szocialista Munkáspárt, MSZMP) neu gegründet und das Politbüro mit reformfreundlichen Kräfte besetzt, die hofften, dadurch die Situation beruhigen zu können. Bereits am 30. Oktober hatte Moskau in einer Deklaration erklärt, dass es sich nicht die inneren Angelegenheiten der „Bruderländer“ einmischen werde und dass die Stationierung von sowjetischen Truppen überprüft werden könne. Gleichzeitig wurden die sowjetischen Truppen am 30. und 31. Oktober aus Budapest abgezogen, wenn auch nur aus taktischen Gründen.

Am 31. Oktober beschloss das Präsidium des CK der KPSS eine erneute Intervention, die schließlich am 4. November erfolgen sollte. Die Moskauer Führung sah, trotz der durch Mikojan signalisierten Zustimmung zu den Veränderungen in Ungarn, ihre Macht immer mehr schwinden. Jeder weitere Schritt bedeutete in ihren Augen den Machtverlust in Ungarn, der im gesamten Ostblock eine Kettenreaktion auslösen konnte. Da die Westmächte mit der gleichzeitig ausgebrochenen Suezkrise beschäftigt waren und die USA Moskau ihre Nichteinmischung in Ungarn signalisiert hatten, waren von westlicher Seite keine Probleme zu erwarten. Um den Erfolg der Intervention zu sichern, wurden außerdem die Führer der befreundeten kommunistischen Parteien von dem Schritt informiert. Bis auf die polnische Führung signalisierten alle anderen Bruderländer ihre Zustimmung. Um die erfolgreiche Installation einer neuen Regierung in Ungarn nach dem Einmarsch sicherzustellen, wurden erhebliche Vorbereitungen getroffen. Am 1. November flogen, unter bis heute ungeklärten Umständen, Parteichef Kádár und Innenminister Münnich nach Moskau, wo sie mit der Führung der neuen Regierung beauftragt wurden. In Moskau wurde auch ein Regierungsprogramm für die neue Regierung ausgearbeitet.

Am 1. November erhielt Nagy erste Meldungen über die Verstärkung der sowjetischen Truppen in Ungarn. Nagy musste also mit einer unmittelbaren zweiten Invasion rechnen. Um der Sowjetunion das Interventionsrecht streitig zu machen, erklärte Nagy kurzerhand den Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt und die Neutralität seines Landes. Moskau stritt offiziell alle Invasionspläne ab und erklärte sich bereit, über den Truppenabzug aus Ungarn zu verhandeln. Am Abend des 3. November begab sich der ungarische Verteidigungsminister Pál Maléter mit einer Kommission in das sowjetische Hautquartier in Tököl bei Budapest, um weitere Gespräche über den Abzug zu führen. Am späten Abend wurden sie während der Verhandlungen von KGB-Chef Serov verhaftet. Die zweite Invasion hatte begonnen.

Am 4. November um 4.15 Uhr rollten die Panzer wieder in Budapest ein. Die Kämpfe, die im ganzen Land tobten, dauerten bis zum 11. November. Nagy flüchtete noch am 4. November in die jugoslawische Botschaft, wo er bis zum 22. November blieb. Beim Verlassen der Botschaft wurde er vom KGB nach Rumänien entführt, wo er bis zum April 1957 festgehalten wurde. Danach wurde er bis zur Eröffnung des Geheimprozesses vom 9. bis 15. Juni 1958 in Budapest inhaftiert. Am 16. Juni 1958 wurde er zusammen mit Maléter hingerichtet.

Die neue Kádár-Regierung, die am 9. November in Budapest eintraf, setzte sich mit Unterstützung der sowjetischen Truppen durch und machte der Revolution in Ungarn endgültig ein Ende. In der Zeit vom 23. Oktober, dem Tag des ersten sowjetischen Einmarsches bis zum 31. Dezember starben infolge der Kämpfe auf Seiten des Widerstandes 2.652 Menschen, 19.926 wurden verwundet; auf sowjetischer Seite gab es 699 Tote und 1 541 Verwundete. Zwischen 180 000 und 240 000 Ungarn flohen aus ihrem Land.[3]

  1. Foitzik, J. (Hrsg.), Entstalinisierungskrise in Ostmitteleuropa 1953-1956. Vom 17. Juni bis zum ungarischen Volksaufstand. Politische, militärische, soziale und nationale Dimensionen, Paderborn u.a. 2001
  2. Ahn, T. v., Fischer, H., Die Ungarische Revolution 1956, Erfurt 2006, S. 22f
  3. Dalos, G., 1956. Der Aufstand in Ungarn, Bonn 2006 (= Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 591), S. 184ff

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