Einführung: Beschluss „Über den Genossen Chruščev N.S.“

Aus 1000 Schlüsseldokumente
Wechseln zu: Navigation, Suche


von: Aleksandr Šubin


Anfang der 1960er Jahre geriet Chruščevs Kurs in zunehmende Schwierigkeiten, und seine Antworten auf die innen- und außenpolitischen Herausforderungen riefen Unzufriedenheit in verschiedenen Schichten der sowjetischen Gesellschaft sowie auf den höchsten Ebenen der Macht hervor. 1962 kam es zu Arbeiterunruhen; die Versorgungslage verschlechterte sich. Chruščevs scharfe Angriffe auf Vertreter der Kultur verärgerten die Intelligencija. Sein Abrüstungsprogramm wurde von den Militärs missbilligt, vor allem angesichts der Berlin- und der Kubakrise und der Verschärfung des Konflikts mit China. Chruščevs Reformen, die Unberechenbarkeit und der „Voluntarismus“ seiner Politik (insbesondere seine Auseinandersetzungen mit den kommunistischen Führern und seine administrativen Reorganisationsmaßnahmen) stießen bei der Nomenklatura auf Ablehnung. Unter diesen Umständen beschloss seine unmittelbare Umgebung, ihn von der Macht zu entfernen.

Chruščev zog es vor, Entscheidungen allein zu treffen, oft ohne sich mit anderen Mitgliedern der Partei- und Staatsführung zu beraten. Bei weitem nicht alle dieser Entscheidungen waren durchdacht und angemessen. Als begeisterungsfähiger und impulsiver Mensch war er nicht geneigt, Einwänden nachzugeben, zumal wenn sie vorsichtig und zaghaft vorgebracht wurden. Sein „Voluntarismus“ und seine Schroffheit führten zu seiner Isolation und untergruben seine Autorität sowohl im Volk als auch in der Parteiführung. Die Idee, Chruščev zu beseitigen, wurde seit dem Frühjahr 1964 in zwei Kreisen des Partei- und Staatapparates diskutiert. Die eine Gruppe war das Umfeld des CK-Sekretärs und gerade abgelösten Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets L. Brežnev, der über Verbindungen sowohl zur älteren Gegenration an der Spitze der Nomenklatura als auch zum militärisch-industriellen Komplex verfügte. Die aktivsten Befürworter der Absetzung Chruščevs waren die von ihm geförderten jungen „Aufsteiger“, der Vorsitzende des Komitees für Partei- und Staatskontrolle A. Šelepin und der Vorsitzende des Komitees für Staatssicherheit (KGB) V. Semičastnyj, die als Gruppe der „Komsomolzen“ bekannt waren (beide hatten früher an der Spitze der VLKSM gestanden).

Die in privaten Gesprächen geäußerte Idee, Chruščev seines Amtes zu entheben, wurde vom Ersten Stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrates A. Kosygin, dem CK-Präsidiumsmitglied N. Podgornyj und Präsidiumsmitgliedern unterstützt. Die Gegner Chruščevs konnten sich mit dem Verteidigungsminister Marschall P. Malinovskij und dem Chefideologen der Partei M. Suslov einigen. D. Boffa zufolge war Suslov der „der Haupturheber der Aktion“. R. Pichoja zeigte jedoch anhand von Archivdokumenten, dass A. Šelepin die zentrale Rolle bei der Vorbereitung der Absetzung Chruščevs spielte. Auch die Rolle Brežnevs sollte nicht unterschätzt werden, da er sowohl im Falle eines Erfolges als auch im Falle einer Niederlage die Hauptverantwortung getragen hätte.

Jeder von ihnen hatte etwas gegen Chruščev oder hegte Zweifel an seiner unberechenbaren Politik. In den Augen der obersten Parteiführung hatte er viele Fehler gemacht. Einige konservativ gesinnte Funktionäre konnten ihm die Entlarvung Stalins nicht verzeihen, der für sie der furchtbare Halbgott blieb und dessen Politik sie für richtig hielten. Šelepin setzte die unentschlossenen CK-Mitglieder mit allen Mitteln des Komitees für Partei- und Staatskontrolle unter Druck.

Bis zuletzt war die Position A. Mikojans, des im Präsidium verbliebenen alten Bolschewiken, unklar. Aufgrund seiner politischen Erfahrung genoss er den Respekt Chruščevs und der gesamten Partei. Mikojan war ein Gegner des Stalinismus, aber auch unzufrieden mit Chruščevs „Voluntarismus“.

Chruščev wurde gewarnt, dass Vorbereitungen für seine Absetzung getroffen würden. Goljukov, der früher die Leibwache von N. Ignatov, dem Vorsitzenden des Obersten Sowjets der RSFSR, geleitet hatte, teilte ihm dies über seinen Sohn Sergej mit. Auf Anweisung Chruščevs traf sich Goljukov sogar mit Mikojan, doch dieses Treffen blieb ohne Folgen.

Nachdem Chruščev und Mikojan in den Urlaub nach Picunda abgereist waren, trat am 12. Oktober das Präsidium des CK zusammen, um über die Situation zu beraten. Es wurde beschlossen, ein Plenum des CK abzuhalten, da die Vorschläge Chruščevs für das bereits geplante November-Plenum „viele Fragen aufwerfen“ würden. Dies war ein formaler Vorwand, um Chruščev nach Moskau einzubestellen.

Chruščev war in Picunda isoliert. Als er erkannte, dass seine Macht bedroht war, hatte er die Möglichkeit, in eine der Hauptstädte der Unionsrepubliken zu fliegen und zu versuchen, sich die Unterstützung der ihm treu ergebenen Beamten und Militärs zu sichern. Die Gefahr einer Spaltung der Partei mit katastrophalen Folgen und das Fehlen von Unterstützungsgarantien im Falle eines offenen Konflikts mit dem CK hielten jedoch ihn davon ab. Er ordnete sich dem CK-Präsidium unter.

Am 13. und 14. Oktober hielt das CK-Präsidium eine Sitzung ab, zu der Chruščev vorgeladen wurde. Chruščevs Präsidiumskollegen kritisierten ihn scharf. Zuerst tadelte ihn Brežnev in zweitrangigen Fragen, dann wurde der Erste Sekretär in allen Bereichen seiner Politik kritisiert. Alle Vorwürfe liefen darauf hinaus, dass Chruščev den kollektiven Charakter der Führung verletzt, seine Genossen in den wichtigsten politischen Fragen nicht konsultiert und nicht immer angemessene Entscheidungen getroffen habe. Die detaillierteste kritische Analyse stammt von Šelepin. Er konfrontierte Chruščev nicht nur mit persönlichen, sondern auch mit politischen Vorwürfen und legte dar, dass Chruščevs Kurs gegen die Interessen des sowjetischen Volkes gerichtet sei. Er versuchte zu zeigen, dass Chruščev in vielerlei Hinsicht den autoritären Stil Stalins übernommen hatte und eine Politik des Abenteuers betrieb, sei es in der Kubakrise oder beim „Karussell“ in der Landwirtschaft. Brežnev, der die Thesen seiner Rede selbst verfasst hatte (offensichtlich konnte er eine so wichtige Sache nicht einmal seinen engsten Mitarbeitern anvertrauen), sagte: „Wenn Sie, Nikita Sergeevič, nicht an solchen Lastern wie Machtgier, Selbstverblendung, Glaube an die eigene Unfehlbarkeit gelitten hätten, wenn Sie wenigstens ein wenig Bescheidenheit besessen hätten, dann hätten Sie die Entstehung Ihres eigenen Persönlichkeitskults verhindert, doch Sie taten umgekehrt alles dafür, um diesen Kult zu festigen.“

Am 14. Oktober stellte der stellvertretende Regierungschef D. Poljanskij den Antrag auf Amtsenthebung Chruščevs. Der Antrag wurde angenommen. Nur Mikojan plädierte für den Verbleib Chruščevs im Amt, allerdings mit eingeschränkten Vollmachten. Chruščev verteidigte zwar vorsichtig die Richtigkeit seiner Entscheidungen. Gleichzeitig erkannte er aber auch einen Teil der Kritik als berechtigt an und erklärte sich bereit, diese zur Kenntnis zu nehmen. Die Entscheidung in der Machtfrage konnte er damit aber nicht mehr beeinflussen. Schließlich sah sich Chruščev, um einer härteren Bestrafung zu entgehen, gezwungen, selbst um seine Entlassung zu ersuchen und sein Rücktrittsgesuch einzureichen. Dieses wurde vom Plenum des CK der KPSS am 14. Oktober 1964 angenommen. Im Unterschied zu 1957, als es Chruščev gelungen war, die Mehrheit des CK gegen die Mehrheit des Präsidiums zu mobilisieren, wurden die CK-Mitglieder diesmal von Chruščevs Gegnern „vorbereitet“. Wie 1957 hielt Suslov eine Rede, in der er diesmal Chruščev verurteilte. Ohne vorherige Diskussion wurde beschlossen, ihn aller Ämter zu entheben, L. Brežnev zum Ersten Sekretär des CK der KPSS und Kosygin zum Vorsitzenden des Ministerrats der UdSSR zu wählen. Chruščev wurde in den Ruhestand versetzt.

Unter Berufung auf die „leninsche Prinzipien der kollektiven Führung“ hieß es in dem Beschluss, Chruščev habe eine „nicht normale Atmosphäre“ geschaffen, die es den anderen Präsidiumsmitgliedern erschwert habe, ihre Aufgaben zu erfüllen. Die Gegner Chruščevs zitierten fast wörtlich Lenins Vorwurf an Stalin und stellten fest, dass er „große Macht in seinen Händen konzentrierte“.

Nach dem Oktoberplenum bemerkte Chruščev traurig, dass Stalin sie alle erschossen hätte, während er ihnen erlaubt habe, ihn seines Amtes zu entheben. Aber auch Chruščev wurde nach dem verlorenen Machtkampf nicht physisch beseitigt, sondern nur in den Ruhestand versetzt. Vielleicht war die Änderung des politischen Stils, der Verzicht auf Rache und Kampf bis zum letzten, eines der wichtigsten Ergebnisse des „Tauwetters“. Mit der Absetzung Chruščevs endete die Tauwetterperiode. Konservative Kreise der Nomenklatura hatten die Macht übernommen. Boffa ist jedoch nicht zuzustimmen, wenn er meint, dass nach Chruščevs Amtsenthebung die Keimzellen des politischen Pluralismus, die sich während der Wiederaufnahme der antistalinistischen Offensive entwickelt hatten, allmählich beseitigt wurden. Im Gegenteil, nach der Absetzung Chruščevs wurde die Reform von 1965 durchgeführt, die den „Chozrasčët“ einführte, und unter der Oberfläche der „Stagnation“ entwickelten sich das andere Denken, die informellen Bewegungen, die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der politischen Elite weiter. Die Gesellschaft kehrte nicht zur stalinistischen Einheit und Geschlossenheit zurück, sondern bewegte sich auf die Perestrojka zu.

Den Rest seines Lebens bis zu seinem Tod 1971 verbrachte Chruščev de facto unter Hausarrest auf der Regierungsdatsche. Dank der Hilfe seiner Nächsten konnte Chruščev seine Memoiren diktieren und in den Westen schleusen.

(Übersetzung aus dem Russ. von L. Antipow)


Nach oben