Einführung:Beschluss der Regierung der DDR über eine Nationalhymne
Mit ihrer Hymne gelingt der DDR etwas, was ihr politisch selten geglückt ist. Das von Johannes R. Becher geschriebene und von Hanns Eisler vertonte Nationallied wird schnell volkstümlich, wenn auch unter massivem Einsatz der ganzen Medien- und Organisationsmacht von Partei und Staat. Im letzten Jahr der DDR ist sie beliebter denn je. Durch die Öffnung der Mauer gewinnt sie unerwartete Aktualität – und geradezu spielerisch ihren zwischenzeitlich verbotenen Text zurück: „Deutschland einig Vaterland“ singen die Massen auf Leipzigs und Ost-Berlins Straßen. Und nicht etwa „Einigkeit und Recht und Freiheit“. Das Deutschlandlied bleibt in der DDR selbst mit seiner unmissverständlich demokratischen, dritten Strophe, weitgehend unbekannt, von Anfang an als „Mord- und Raublied“ der westdeutschen Imperialisten verpönt. Unter dem forschen Antifaschismus der frühen DDR haben die Menschen dort nur gelernt, dass die Hoffmann-Haydn-Hymne zusammen mit dem Horst-Wessel-Lied die Nazi-Hymne war. Während sich der Westen mit dieser Erbschaft noch Jahre später abmühen muss, kann sich die DDR bereits in ihrem Gründungsjahr hymnisch profilieren.
Und sie tut dies mit gesamtdeutschem Gestus, der allerdings seinen werbenden Charme zu diesem Zeitpunkt schon verloren hat. Den Auftrag dazu hat das Politbüro schon im September 1949 dem Schriftsteller Johannes R. Becher und dem Komponisten Hanns Eisler erteilt. Becher bittet den Komponistenfreund, seinen Liedtext so bald als möglich zu vertonen. Es solle die zukünftige Nationalhymne des ersten deutschen „Arbeiter- und Bauernstaates“ werden, betont er die Eile. Eisler ist von dem Schwung und der menschlichen Wärme des Liedes so angetan, dass er sich sogleich ans Klavier setzt und eine Melodie spielt – die Urfassung der späteren DDR-Hymne.
Anfang November arrangiert Wilhelm Pieck mit dem Politbüro in seiner Wohnung ein Vorspiel beider Komponisten. Eisler setzt sich mit seiner Melodie durch, und schon am 7. November erklingt die neue DDR-Hymne erstmals öffentlich. Anlässlich der Regierungsfeier zum Jahrestag der Oktoberrevolution wird sie vom Rundfunkchor in der Lindenoper gesungen.
Anders als allgemein erwartet wird, hat Becher kein Kampf- oder Marschlied geschrieben, sondern eine Friedenshymne, ein Sehnsuchtslied, das die deutsche Einheit, das „einig Vaterland“ beschwört. Nicht umsonst fällt auf „einig“ der höchste Ton des in F-Dur geschriebenen Liedes. Es ist eine ins Politische gewendete religiöse Vision der Auferstehung und Erneuerung. Sie steht dem Deutschlandlied näher als der Marseillaise und den revolutionären Arbeiterliedern. Politische Begriffe im engeren Sinne kommen in ihm nicht vor. Von antifaschistischen Parolen und sozialistischen Visionen ganz zu schweigen. Schönste Pathosformeln wie „Glück und Frieden“, „Zukunft“ und „neues Leben“, dominieren. Der Text spiegelt Bechers literarische Wurzeln im Expressionismus und seine Erfahrungen der Exiljahre wider. Die Gründung der DDR deutet er nicht als revolutionäres Geschehen, sondern als „Osterereignis – nach dem Karfreitag des Krieges“.
Dem entspricht die choralartige Melodie, die nur dort von einem vorwärtsdrängenden Marschrhythmus mit punktierten Viertel- und Achtelnoten unterbrochen wird, wo der Text zu gemeinsamer Anstrengung auffordert, um dann wieder friedlich und feierlich zu enden. Der Krieg ist nur noch metaphorisch gegenwärtig: in den Ruinen, dem besiegten Feind, den Tränen der Mutter. Auch Melodramatisches fehlt nicht.
„Auferstanden aus Ruinen / Und der Zukunft zugewandt, / Laß uns dir zum Guten dienen, / Deutschland, einig Vaterland. / Alte Not gilt es zu zwingen, / Und wir zwingen sie vereint, / Denn es muß uns doch gelingen, / Daß die Sonne schön wie nie / Über Deutschland scheint, / Über Deutschland scheint.“
Sogleich wird die Bevölkerung mit der Hymne bekannt und vertraut gemacht. Eine geballte Medien- und Organisationsmacht kommt zum Einsatz. Radio, Zeitungen und Zeitschriften sorgen ebenso dafür wie Schulen, Betriebe und die Veranstaltungen der Parteien und anderer Massenorganisationen, dass die DDR-Bürger ihre Hymne zur eigenen machen. Seit November 1949 bringen alle Rundfunksender zu Beginn und zum Ende ihrer Programme alle drei Strophen des Liedes, mit großem Chor und großem Orchester. „Auferstanden aus Ruinen“ und „dass nie mehr eine Mutter ihren Sohn beweint“ steht weithin sichtbar an Häuserwänden zwischen Ruinen und flattert fröhlich auf Transparenten an Autobahnbrücken und Dorfeingängen. Die Melodie und ihre beliebtesten Verse sind bald in aller Munde. Schon ein Jahr nach Beginn dieser Kampagne schreibt Becher in sein Tagebuch: „Die Nationalhymne hat sich durchgesetzt. In den Dörfern stehen Strophen auf Spruchbändern, und alle Menschen unterschiedslos kennen und singen sie.“ Bei so viel Popularität können Spott – und Neid nicht ausbleiben.
Westdeutsche Zeitungen mokieren sich über den „sogenannten Nationalgesang“ der „sogenannten DDR“. Verächtlich sprechen sie von „Spalterhymne“ und „Aktivistenlied“. Sie sind sich nicht zu schade, Becher als „Barden Moskaus“ zu denunzieren und Eisler des Plagiats zu bezichtigen. Trotz ihrer ins Überpolitische ausgreifenden Poesie wird der Text bald zum politischen Problem. Die DDR ändert ihr Nationsverständnis und gibt die gesamtdeutsche Perspektive auf. Viel spricht nun dafür, dass langfristig zwei deutsche Teilstaaten nebeneinander bestehen. Schon 1967 hat die DDR ihr Staatsbürgerschaftsgesetz geändert und im Oktober 1974 ändert sie ihre Verfassung. Die DDR versteht sich nicht mehr als „deutsche Nation“, sondern als „sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern.“ Nun muss viel umbenannt werden, aus deutsch und Deutschland wird DDR. Nur konsequent, dass die DDR-Bevölkerung nicht mehr singen soll „Deutschland, einig Vaterland.“ Die Partei- und Staatsführung will es so. Warum der Text nicht verändert wird – wie der der sowjetischen Hymne nach Stalin, wissen wir nicht.
Aus der Becher-Eisler-Hymne wird ein Lied ohne Worte. Aber nicht nur der sonst so wortgewaltige Osten verstummt hymnisch. Auch in der Bundesrepublik wird der Hoffmannsche Text in den siebziger Jahren immer seltener gesungen. Angesichts der Unsicherheit mit den Strophen ist der Text nie wirklich heimisch geworden, von einem historisch-kritischen Textverständnis ganz zu schweigen. Man begnügt sich mit der schönen Haydn-Melodie, spricht von den „verstummten Hymnen“ der Deutschen und den beiden glücklosen Hymnendichtern. Als die Demonstrationszüge in den Novembertagen 1989 durch die Straßen Leipzigs und Ostberlins ziehen und in Chören rufen: „Wir sind das Volk“ wird die Becher-Hymne aktiviert und nun erst in ihr Recht gesetzt. Auf der legendären Protestkundgebung vom 4. November in Berlin am Palast der Republik ruft der Wittenberger Pfarrer Friedrich Schorlemmer der Menge zu: „Im Herbst 1989 sind wir auferstanden aus Ruinen und der Zukunft neu zugewandt ... Es ist wahr, unser Land ist kaputt. Es ist wahr, dumpf, geduckt, bevormundet haben wir gelebt ... Heute sind wir hierher gekommen, offener, aufrechter, selbstbewusster.“
Und während in den Tagen der Volksfeststimmung um den 9. November in westdeutschen Städten meist gesungen wird: „So ein Tag, so wunderschön wie heute“ oder auch „Freude schöner Götterfunken“, bevorzugen die Bürger der DDR „Deutschland einig Vaterland“. Nur konsequent, dass Volkskammer und Ministerrat auch die offizielle Wiederverbreitung der alten Hymne in Melodie und Text beschließen. Ja, die Begeisterung ist so groß, dass vorgeschlagen wird, die Becher-Eisler-Hymne zum Nationallied für das vereinigte Deutschland zu machen. Weil das die Anhänger der 3. Strophe des Deutschlandliedes auf den Plan ruft, kommt als Kompromiss ein hymnisches Mixtum aus Becher und Haydn, Hoffmann und Eisler ins Gespräch.
Nur am Rande finden jene Gehör, die daran erinnern, dass es längst eine Verschmelzung beider Hymnen gibt. Diese Synthese ist anspielungsreich, selbstkritisch und selbstbewusst und kommt ohne Drohgebärde und Pathos aus – die Kinderhymne von Bert Brecht und Hanns Eisler. Brecht hat sie, angeregt durch Adenauers Auftritt im Berliner Admiralspalast 1950 geschrieben. Es ist eine volksliedhafte und lakonische Bekenntnis- und Hoffnungshymne, die anspielungsreich auf die Hoffmann-Hymne Bezug nimmt. Und Eisler schreibt die Musik dazu. So verschmelzen die Werke von vier verschiedenen Künstlern, verschmelzen Romantik und Expressionismus, vormärzliches Freiheits- und Einigungsstreben und die Friedenssehnsucht der frühen Nachkriegsjahre – zur wahrhaft gesamtdeutschen Hymne. Die schönste ist sie wohl auch:
„Anmut sparet nicht noch Mühe / Leidenschaft nicht noch Verstand. / Daß ein gutes Deutschland blühe / Wie ein andres gutes Land. / Daß die Völker nicht erbleichen / Wie vor einer Räuberin, / Sondern ihre Hände reichen / Uns wie andern Völkern hin. / Und nicht über und nicht unter / Andern Völkern wolln wir sein / Von der See bis zu den Alpen / Von der Oder bis zum Rhein.“
Soll man es deutsch nennen, dass nicht sie die neue Hymne des vereinten Deutschland wird? Die Bundesrepublik hatte sie 1951 als „Parteilyrik“ abgetan. Sie könnte nun etwas wieder gut machen. Aber mit dem Wahlausgang in der DDR im März 1990 und dem Volkskammerbeschluss vom 3. Oktober ist auch die Entscheidung zur Übernahme der 3. Strophe des Deutschlandliedes gefallen. Der Briefwechsel zwischen dem Bundespräsidenten und dem Bundeskanzler im August 1991 wiederholt den legalisierenden Akt ihrer Vorgänger zur Beilegung des Hymnenstreits vierzig Jahre zuvor. Richard von Weizsäcker schreibt:
„Die 3. Strophe des Hoffmann-Haydn’schen Liedes hat sich als Symbol bewährt. Sie wird im In- und Ausland gespielt, gesungen und geachtet. Sie bringt die Werte verbindlich zum Ausdruck, denen wir uns als Deutsche, als Europäer und als Teil der Völkergemeinschaft verpflichtet fühlen.“ Und Helmut Kohl antwortet: „Der Wille der Deutschen zur Einheit in freier Selbstbestimmung ist die zentrale Aussage der 3. Strophe des Deutschlandliedes. Deshalb stimme ich Ihnen namens der Bundesregierung zu, daß sie Nationalhymne der Bundesrepublik Deutschland wird.“
Diese, die Geschichte unserer Hymne umstandslos glättenden Sätze müssen überraschen. Kein Wort, kein Gedanke, dass das Deutschlandlied nie die Hymne aller Deutschen war – und trotz aller überlegten und auch politisch klugen Bemühungen nicht werden konnte? Dass man dieses Nationallied im Ausland nach 1945 lange nicht hören mochte? Dass es auch im eigenen Land umstritten blieb? Und dass man sich später mit der Musik begnügte? Hätte ein gewisser Respekt gegenüber der DDR und der Brecht-Eisler-Hymne nicht den Gedanken nahelegen können, sie mit der dritten Strophe der Haydn-Hoffmann-Hymne zu kombinieren? Wir hätten ein wahrhaft gesamtdeutsches Nationallied bekommen und könnten es zwischen Rhein und Oder gemeinsam singen – ohne Hemmungen, ohne missverstanden zu werden – wenn wir denn überhaupt noch hymnische Töne singen mögen, öffentlich, gar gemeinschaftlich und heutzutage!
Text: CC BY-SA 4.0
[Русская версия отсутствует]