Einführung:Denkschrift über die Aufgaben eines Vierjahresplans
In seiner Amtszeit als Reichskanzler hat Adolf Hitler nur wenige schriftliche Ausarbeitungen verfasst, und allein aus diesem Grunde kommt seiner „Denkschrift über die Aufgaben eines Vierjahresplans“ erhebliche Bedeutung zu. Dem Stil nach diktiert und offenbar wenig bis gar nicht redigiert, illustriert das Dokument Hitlers Denk- und Redestil in eindringlicher Weise. Von der im August 1936 verfassten Denkschrift existierten nur drei Exemplare: Hitlers Original sowie jeweils eine Abschrift für Hermann Göring als Reichsminister der Luftfahrt und für Reichskriegsminister Werner von Blomberg. Ob eine weitere Kopie, wie vom britischen Historiker Richard Overy konstatiert, an Fritz Todt (und damit nach dessen Tod 1942 an Albert Speer) ging, ist unklar. Speer behauptete später, eine Abschrift von Hitler persönlich 1944 erhalten zu haben. Allerdings erfolgten seine Einlassungen im Vorfeld des Nürnberger „Hauptkriegsverbrecherprozesses“ 1945 und in der Absicht, zur eigenen Entlastung den streng geheimen Charakter der nationalsozialistischen Kriegspläne zu betonen. In der nationalsozialistischen Führung war die Denkschrift auf einer Ministerratssitzung schon im September 1936 durch Göring bekannt gegeben worden, und die deutsche Öffentlichkeit erfuhr vom Vierjahresplan auf dem Nürnberger „Parteitag der Ehre“ im selben Monat. In der Tat erhielt der Plan größere Publizität, als ursprünglich geplant gewesen war.
Das gute Dutzend Schreibmaschinenseiten stellt Hitlers ausführlichste zusammenhängende Stellungnahme zu wirtschaftspolitischen Fragen dar und dokumentiert, dass er entsprechende Themen keineswegs ignorierte, sein Verständnis ökonomischer Zusammenhänge jedoch limitiert war. Zuvorderst unterstreicht das Memorandum, dass Ordnungs-, Struktur- und Konjunkturpolitik für Hitler kein Selbstzweck, sondern dem innenpolitischen Machterhalt und den außenpolitischen Expansionszielen instrumentell untergeordnet waren. Diese Gewichtung entsprach Hitlers grundsätzlichen, vagen Vorstellungen von Wirtschaftspolitik, beschrieb aber auch die Situation zur Jahresmitte 1936, die gekennzeichnet war durch innenpolitische Stabilisierung, verschiedene Konflikt- und Kriegsszenarien auf internationaler Bühne sowie die sich abzeichnende ökonomische Krise. Dreieinhalb Jahre nach der Machtübernahme befand sich das NS-Regime dank der brutalen Ausschaltung der Opposition einerseits und der weitgehenden Beseitigung der Arbeitslosigkeit andererseits fest im Sattel. Die offizielle Aufrüstung 1935 und die Remilitarisierung des Rheinlandes im März 1936 waren intern populär und außenpolitisch folgenlos geblieben, wie auch der Propagandaerfolg der Olympischen Spiele in Berlin illustrierte. Zugleich standen mit dem Überfall des faschistischen Italiens auf Abessinien 1935-36 und dem Militärputsch in Spanien (Juli 1936) die Zeichen auf Krieg in Europa. Der Wahlsieg der linken Front Populaire in Frankreich im Mai 1936 galt dem NS-Regime als ideologische Bedrohung. Das Deutsche Reich unterzeichnete derweil Ende 1935 den Antikominternpakt mit Japan, im folgenden Jahr trat Italien bei.
Unterdessen stieß die seit 1933 eingeschlagene Rüstungspolitik zunehmend an die Grenzen einer strukturellen Devisen- und Rohstoffkrise, die zu einem wachsenden Handelsbilanzdefizit des Deutschen Reiches führte. Trotz des von Reichsbankpräsident und Reichswirtschaftsminister Hjalmar Schacht angelegten Goldvorrats manövrierte die Umleitung der inländischen Ressourcen in die Rüstungsproduktion die deutsche Volkswirtschaft in eine unübersehbare Schieflage: Das Reich importierte Rohstoffe wie auch Lebensmittel, und für beides standen keine ausreichenden Devisen zur Verfügung, weil die deutsche Wirtschaft immer mehr für den inländischen Bedarf produzierte und immer weniger Güter exportierte. Das prinzipielle Problem war dabei keineswegs neu: Zur Verringerung der Rohstoffabhängigkeit hatten Partei- und Wehrmachtsstellen schon 1933 Forschungs- und Investitionsvorhaben initiiert, und Schachts „Neuer Plan“ hatte 1934 eine akute Devisenkrise abgewendet.
Seit 1935 spitzten sich die Konflikte indes zu, insbesondere im Streit des Reichswirtschaftsministers mit dem Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft, Walter Darré, um die Bereitstellung von Devisen für Nahrungsmittelimporte. Hitlers Entscheidung, die Auseinandersetzung durch Göring schlichten zu lassen, bedeutete einen entscheidenden Einschnitt, indem sie einen neuen Akteur in der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik installierte. Im April 1936 wurde Göring zum Reichskommissar für Rohstoffe und Devisen ernannt und holte umgehend Sachverständigengutachten ein, die Auswege aus der Zahlungs- und Versorgungskrieg weisen sollten. Diese – vom langjährigen Ministerialbeamten Ernst Trendelenburg und dem Leipziger Oberbürgermeister Carl Friedrich Goerdeler verfassten – Memoranden sollten Hitlers Vierjahresplan-Denkschrift entscheidend beeinflussen. Die vor allem von Goerdeler vorgeschlagene und von Schacht unterstützte Drosselung der Rüstungsanstrengungen, die Liberalisierung des Außenwirtschaftsverkehrs, die Abwertung der Reichsmark und die Hinnahme steigender Arbeitslosenzahlen galten Göring und Hitler als Belege für die Unfähigkeit der alten, nationalkonservativen Eliten, die Ziele des Regimes in ihrem ganzen Umfang zu begreifen. Der aggressive Tonfall von Hitlers Denkschrift zeugt von diesem Konflikt.
Das Memorandum zerfällt in zwei größere Teile. In einem ersten legt Hitler seine aus „Mein Kampf“ bekannten „theoretischen“ Prämissen dar: ein biologistisch-materialistisches Welt- und Geschichtsbild, in dem Völker und Weltanschauungen seit Jahrhunderten im Kampf um „Lebensraum“ aufeinanderprallen und nur unter Vernichtung des jeweiligen Gegners fortbestehen können. Als aktuellen Konflikt seiner Zeit identifiziert Hitler jenen zwischen „der abendländischen Welt“ einerseits und dem gleichermaßen rassistisch (jüdisch), ideologisch (marxistisch) und machtpolitisch (sowjetisch) definierten „Bolschewismus“ andererseits. In dem von ihm gezeichneten Endzeitszenario kommt dabei dem Deutschen Reich sowohl aufgrund seines rassischen „Volkswert[es]“ als auch seiner „weltanschaulichen“, d. h. nationalsozialistischen Stärke die Rolle des Retters gegen die „bolschewistischen Angriffe“ zu. Um dieser indes gerecht werden zu könne, so Hitler, müsse Deutschland „militärisch durchorganisiert“ und die Wehrmacht zur „ersten Armee der Welt“ entwickelt werden. Dieser Aufgabe seien „alle anderen Wünsche bedingungslos unterzuordnen“.
Unter diesen Prämissen wendet sich der zweite Teil der Denkschrift der eigentlichen wirtschaftspolitischen Thematik zu. In einem ersten Schwerpunkt charakterisiert Hitler – in der Sache durchweg unzutreffend – Deutschlands ökonomische Situation als gekennzeichnet durch Überbevölkerung, Lebensmittelmangel und die Unmöglichkeit, die landwirtschaftliche Erzeugung zu steigern. Die Lebensmitteleinfuhr stelle mangels Devisen schon im Frieden, mehr noch aber im Kriege keine Option dar; allein die Hinzugewinnung von Lebensraum verspreche, diese Defizite zu beseitigen. Anders schätzt Hitler die Situation auf dem Gebiet industrieller Grundstoffe ein. Statt Rohstoffe zu lagern, sollten diese vorbehaltlos zu Waffen und Gerät verarbeitet werden, die den Krieg entschieden. Zudem gelte es, jene Ressourcen, die bislang importiert würden, mit allen Mitteln selbst zu erzeugen bzw. zu substituieren, um Devisen ausschließlich für unverzichtbare und alternativlose Einfuhren zu reservieren. In einem konkreten „Programm“ nennt die Denkschrift Benzin, Gummi (Kautschuk), Eisen(erz) und industrielle Fette als Schwerpunkte der deutschen Ersatzstofferzeugung bzw. Ersetzung durch heimische Ressourcen. Dabei handelte es sich um jene Vorhaben, die seit Ende 1933 von Wilhelm Keppler, Hitlers „Wirtschaftsberater“ und Leiter der „Sonderaufgabe Deutsche Roh- und Werkstoffe“, vorangetrieben wurden und in der Folge in Görings Portfolio übergingen.
Mit Forderungen wie der, binnen 18 Monaten in der Benzinerzeugung exportunabhängig zu werden, griff Hitler verbreitete Autarkie-Visionen auf. Gleichwohl behauptete die Denkschrift keineswegs, die völlige Selbstversorgung des Deutschen Reiches erreichen zu können – jedenfalls nicht in den Grenzen von 1936 –, sondern eben nur auf jenen Gebieten, „auf denen diese möglich ist“. Eine echte, dauerhafte Autarkie war hingegen allein durch die Eroberung von Lebensraum zu realisieren, eine Konzeption, die nach Kriegsbeginn als „Großraumwirtschaft“ ausformuliert werden sollte. Eben darauf steuerte Hitler dezidiert zu, indem er seine Denkschrift mit zwei Forderungen enden ließ: „1. Die deutsche Armee muss in 4 Jahren einsatzfähig sein. 2. Die deutsche Wirtschaft muss in 4 Jahren kriegsfähig sein.“
Richteten sich die devisenpolitischen Maßgaben Hitlers vor allem gegen Schacht und Goerdeler, so fanden sich in den die Rohstofferzeugung behandelnden Abschnitten der Denkschrift wiederholt scharfe Attacken erneut gegen das „Wirtschaftsministerium“, mithin Schacht, aber auch gegen jene „Wirtschaftler“, die skeptisch ob der technischen Machbarkeit und vor allem ob der Rentabilität der Rohstoffsubstitution seien. Sähen sich die industriellen Bedenkenträger nicht dazu in der Lage oder seien nicht willens, die entsprechenden Produktionsmethoden zu entwickeln, müsse der Staat einspringen, und „dann benötigen wir keine Privatwirtschaft mehr.“ Ähnliche Drohungen wiederholte auch Göring mehrfach, nachdem er am 18. Oktober 1936 zum Beauftragten für den Vierjahresplan ernannt worden war. Ein Teil der historischen Forschung hat Hitlers Denkschrift daher als radikalen Bruch in der Ordnungspolitik des „Dritten Reiches“ verstanden, mit der die Grundlage einer „Befehlswirtschaft“ (G. Mollin, P. Hayes) etabliert und die unternehmerischen den staatlichen Interessen strikt untergeordnet worden seien. Neuere Studien (C. Buchheim, J. Scherner, T. Schnanetzky) belegen indes zum einen, dass Schachts Kurs auf zentralen Feldern fortgesetzt wurde, zum anderen dass die Drohrhetorik kaum in die Tat umgesetzt wurde.
Gerade in der Ersatzstoffproduktion blieb Zwang die Ausnahme, und freiwillige Investitionen überwogen. Zudem wurden diese mit einem breiten Arsenal an staatlichen Beihilfen unterstützt, unter denen die privaten Unternehmen jene Varianten wählten, die ihren Einschätzungen kurz- und langfristiger Rentabilität am besten entsprachen. Auch die Gründung der Reichswerke „Hermann Göring“ – lange als Paradebeispiel für staatlichen Zwang angeführt – erscheint in der jüngeren Forschung in neuem Licht: Die Entscheidung, die qualitativ schlechten Eisenerze im Salzgittergebiet zu fördern und in neu zu errichtenden Hochöfen zu verhütten, wurde zwar gegen die Bedenken der Privaten (die Überkapazitäten auf dem Stahlmarkt fürchteten) getroffen; die Gründung des Staatsunternehmens war jedoch gerade deswegen erforderlich, weil das Regime offenen Zwang scheute und die privatwirtschaftlichen Verfügungsrechte im Kern respektierte.
Deutlicher fiel der Zäsurcharakter des Vierjahresplans an der Regimespitze aus. Mit Göring als Vierjahresplan-Beauftragtem erwuchs Schacht ein mächtiger Gegner, der dank seiner weitreichenden Vollmachten die Kompetenzen des Reichwirtschaftsministers usurpierte. Schachts Demission als Minister 1937 und seine Entlassung als Reichsbankpräsident 1939 waren die Folge. Göring baute sich unterdessen aus den Resten des Preußischen Staatsministeriums einen eigenen Stab auf und gliederte führende Ministerialbeamte anderer Ressorts ein. Diese Personalidentität reduzierte zum einen die interministerielle Konkurrenz, zum anderen stärkte sie Görings Position als oberste wirtschaftspolitische Instanz. Die hohe Zahl an Militärs, die in der Vierjahresplanbehörde tätig waren, unterstrich die Ratio der neuen Organisation; technologische Expertise wurde aus dem Personalpool deutscher Unternehmen, namentlich der I.G. Farbenindustrie AG, gewonnen. Die Kombination von Personalidentität und industriellen Schwerpunkten haben einzelne Historiker (M. Spoerer/J. Streb) zum Anlass genommen, den Vierjahresplan als „riesige[n] Chemieplan“ zu bewerten. Görings Ära als „Wirtschaftsdiktator“ (Overy) währte bis 1940/42, als mit Todt und Speer zwei Akteure auf den Plan traten, die aus dem expandierenden Vierjahresplankosmos heraus das Rüstungsministerium als zentrale Instanz der Kriegswirtschaft etablierten.
Dass der Stern der Vierjahresplanbehörde bald wieder sank, lag zum einen in Görings Person begründet, zum anderen in der durchwachsenen Leistungsbilanz. Zwar hatte der Vierjahresplan wichtigen Anteil an der radikalen Ausrichtung der deutschen Wirtschaft auf Rüstungszwecke. Bei einem Investitionsvolumen von 13,25 Mrd. RM von 1936 bis 1942 entfielen 50 % aller deutschen Industrieinvestitionen in diesem Zeitraum auf rüstungsrelevante Bereiche. Engpässe bei Roh- und Grundstoffen konnten bis 1942/43 weitgehend verhindert werden – allerdings auch, weil erst der Devisenbesitz im Inland (nicht zuletzt durch ‚Arisierungen‘) und dann die besetzten Gebiete hemmungslos geplündert wurden. In beiden Fällen trat Görings Vierjahresplanbehörde als Motor auf, etwa durch Sonderorganisationen wie die Haupttreuhandstelle Ost in Polen oder die Berg- und Hüttenwerksgesellschaft Ost und den gemeinsam mit der Wehrmacht errichteten Wirtschaftsstab Ost in den sowjetischen Gebieten.
Autarkie wurde indes zu keiner Zeit erreicht – nicht in der Raubwirtschaft des Zweiten Weltkrieges und erst recht nicht bis 1939. Fiel in diesen Jahren die Integration in die Weltwirtschaft keineswegs geringer aus als vor 1936 – im Kern kann von einer „Importsubstitutionspolitik zur Überwindung von Devisenlücken“ (R. Banken) gesprochen werden –, so war das NS-Regime bis zum Überfall im Sommer 1941 bemüht, die Handelsbeziehungen mit der Sowjetunion zu revitalisieren. Auch die endemischen Zuteilungsprobleme wurde nicht gelöst, sondern blieben ein ständiger Begleiter der deutschen Rüstungs- und Kriegswirtschaft, weil auch bessere Kontingentierungskonzepte das strukturelle Problem mangelnder Ressourcen nicht aufzulösen vermochten. Die Ersatzstoffvorhaben auf den Gebieten von Benzin- und Eisenerzproduktion erfüllten die in sie gesetzten Hoffnungen nicht annähernd.
Unter dem Strich stellt Hitlers Vierjahresplan-Denkschrift keinen Wendepunkt in der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik dar, sondern war ein wichtiges, nicht zuletzt auch öffentlichkeitswirksames Moment innerhalb eines breiteren Prozesses der verschärften und beschleunigten Kriegsvorbereitung. Damit steht sie in engem Zusammenhang zur Hoßbach-Niederschrift (1937), und in ähnlicher Weise korreliert der Wechsel von Schacht zu Göring mit dem Revirement an der Wehrmachtsspitze 1938. Der britische Historiker Adam Tooze hat allerdings argumentiert, dass mit der Denkschrift die kontinuierliche Intervention Hitlers in wirtschaftliche (Verteilungs)Fragen begann. Zum Schlüsseldokument wurde die Vierjahresplandenkschrift schließlich vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg 1945 sowie im sogenannten Wilhelmstraßen-Prozess, in dem eine Reihe führender Mitarbeiter der Vierjahresplanbehörde vor Gericht stand. Hitlers Ausführungen zählten dabei zu den wichtigsten Beweisstücken, um den Anklagepunkt der Planung und Vorbereitung des Angriffskrieges nachzuweisen.
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