Einführung:Gustav Stresemann, Rede zum deutschen Beitritt zum Völkerbund

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von: Wolfgang Elz, 2010


Die Vorgeschichte des deutschen Beitritts zum Glossar:Völkerbund reicht bis zum Kriegsende 1918 zurück: Punkt 14 von Woodrow Wilsons Programm für den künftigen Friedensschluss forderte die Gründung eines Völkerbunds „zu dem Zweck, großen und kleinen Staaten in gleicher Weise gegenseitige Garantien für die politische Unabhängigkeit und territoriale Integrität zu gewähren“. Bei Kriegsende hoffte man in Deutschland, dass ein solcher Völkerbund den Kriegsverlierer vor der Rache der Sieger schützen würde. Tatsächlich aber schloss der Versailler Vertrag, der in seinen einleitenden 26 Artikeln die Satzung des Völkerbundes enthielt, Deutschland und die anderen Verlierer des Weltkriegs vorläufig von dem zu gründenden Bund aus. Da zudem nicht nur Russland, sondern – wegen der Nichtratifizierung der Pariser Vorortverträge durch den Kongress in Washington – auch die USA schließlich keine Mitglieder des 1920 zusammentretenden Völkerbunds wurden, empfand man in Deutschland diesen Genfer Bund (mit seinen Organen Rat, Versammlung und Generalsekretariat) mehr und mehr als Instrument der Siegermächte und insbesondere Frankreichs. Diese Haltung verstärkte sich noch, als der Völkerbund mit seinen anfangs 42 Mitgliedstaaten in Fragen der Ausführung des Versailler Vertrags wiederholt Positionen der Siegermächte bestätigte, so etwa 1921 im deutsch-polnischen Konflikt um Oberschlesien. 1923 schließlich wartete man in Berlin vergeblich auf ein Einschreiten des Völkerbunds gegen die französisch-belgische Ruhrbesetzung. Damit war der Völkerbund in deutschen Augen als Instrument Frankreichs gründlich diskreditiert.

Erst zwei Entwicklungen des Jahres 1924 führten zu einer Neuorientierung: In Großbritannien setzte die neue Labour-Regierung in ungleich höherem Maß als ihre Vorgänger auf die Stärkung des Völkerbunds, um ihn als universales Instrument des Ausgleichs nutzen zu können; sie ließ erkennen, dass sie einen Beitritt Deutschlands wünsche. In Deutschland gewann unter Gustav Stresemann, nach seiner kurzlebigen Kanzlerschaft im Jahr 1923 bis zu seinem Tod 1929 deutscher Außenminister, die Erkenntnis an Boden, dass die Befriedigung des französischen Sicherheitsbedürfnisses Voraussetzung für jede Revision des Versailler Vertrags sein würde.

Im Herbst 1924 nannte die Reichsregierung den Mitgliedern des Völkerbundsrats vier Bedingungen für einen deutschen Beitritt: 1. Deutschland müsse ein ständiger Ratssitz zugestanden werden; 2. Deutschland könne wegen seiner Entwaffnung nicht an einer Bundesexekution gemäß Art. 16 der Bundessatzung teilnehmen; 3. es könne auch bei einem Beitritt weiterhin die im Versailler Vertrag niedergeschriebene deutsche Kriegsschuld nicht anerkennen; 4. es erwarte, am Mandatssystem des Völkerbunds für die Kolonien beteiligt zu werden.

Die Reaktion der angeschriebenen Mächte war verhalten. Vor allem der deutsche Vorbehalt bezüglich Art. 16 wurde abgelehnt. In den Vorverhandlungen zu den Locarno-Verträgen und schließlich noch in Locarno selbst war dies der entscheidende Punkt: Deutschland bestand – neben der als selbstverständlich erachteten Zusicherung eines ständigen Ratssitzes – auf einer Zusage im Hinblick auf Art. 16, weil aus seiner Sicht andernfalls eine Belastung seiner seit dem Vertrag von Rapallo besonderen Beziehung zu Russland drohte; die westlichen Verhandlungspartner weigerten sich lange Zeit unter Hinweis auf die Pflichten eines jeden Völkerbundsmitglieds, auf die deutsche Forderung einzugehen. Als die Vertragsverhandlungen in Locarno jedoch so gut wie abgeschlossen waren, einigte man sich auf eine informelle Lösung in Form einer Anlage zum Vertragswerk; sie beruhte auf einer Interpretation des Art. 16, wonach jeder Staat nur „in einem Maße“ zur Mitwirkung an Sanktionen verpflichtet sei, „das mit seiner militärischen Lage verträglich ist und das seiner geographischen Lage Rechnung trägt“. Faktisch bedeutete dies ein Dispens für Deutschland.

Die Verträge von Locarno sollten erst mit dem Beitritt Deutschlands zum Völkerbund in Kraft treten. Er war für März 1926 vorgesehen, verzögerte sich aber um ein halbes Jahr, weil andere Staaten – Polen, Brasilien, Spanien – nun ebenfalls einen ständigen Ratssitz beanspruchten. Am 10. September 1926 war es endlich soweit: Um 10.30 Uhr wurde der deutsche Beitritt im Genfer Reformationssaal vollzogen; Momčilo Ninčić, als jugoslawischer Außenminister 1926/27 Präsident der Versammlung, hieß die deutsche Delegation willkommen, begrüßte ihre Anwesenheit „als ein neues Pfand für den Erfolg friedlichen Zusammenarbeitens der Völker“ und erteilte schließlich Gustav Stresemann das Wort.

Die Rede, die Stresemann nun hielt, war ganz auf die Situation und die Zuhörer zugeschnitten. Sie warf einen kurzen, eher streifenden Blick auf die lange Entwicklung hin zum Beitritt Deutschlands, formulierte Stresemanns Hoffnung auf eine bessere Zukunft und wiederholte dabei seine außenpolitische Programmatik: die Notwendigkeit einer freien Weltwirtschaft als Voraussetzung für die wirtschaftliche Erholung; die Bewahrung der nationalen Souveränität bei gleichzeitiger gegenseitiger Achtung der Völker; die Locarno-Verträge als Beispiel für den Aufbau einer künftigen internationalen Rechtsordnung. Frühere deutsche Forderungen wurden stark abgeschwächt: Während sich in Entwürfen zur Rede noch Passagen finden, die aus der eigenen, durch den Versailler Vertrag erzwungenen Abrüstung ein „Recht“ Deutschlands auf die Abrüstung der anderen ableiteten, äußerte Stresemann in seiner Rede nur noch den Wunsch, dass die allgemeine Abrüstung vorankommen möge; und die Feststellung des Memorandums vom Herbst 1924, dass der Beitritt Deutschlands zum Völkerbund keine Anerkennung der Kriegsschuld bedeute, ist in der entsprechenden Passage der Rede, in der sich Stresemann auf die Gewinner und Verlierer des Krieges bezieht, kaum noch erkennbar. Vielmehr setzte er der Unterteilung in Sieger und Verlierer das gegenseitige Vertrauen entgegen, das in Zukunft herrschen müsse. Stresemann äußerte die Hoffnung, künftig „alle Weltmächte“ (also auch die USA und Sowjetunion) im Völkerbund vereinigt zu sehen, sowie Spanien und Brasilien, die wegen der Verweigerung eines ständigen Ratssitzes ihren Austritt angekündigt hatten, im Bund zu halten. Er versicherte die feste deutsche Bereitschaft, auf der Grundlage von Gerechtigkeit und Freiheit, Friede und Einigkeit an den Zielen des Völkerbundes mitzuwirken, die er – ohne den Dichter namentlich zu nennen – mit den Worten Goethes wiedergab, wonach „wir Menschen uns zu dem Geschlecht bekennen, das aus dem Dunkel ins Helle strebt“: die friedliche internationale Zusammenarbeit souveräner Staaten als die helle Zukunft, die aus dem Dunkel von Krieg und Nachkriegszeit hervorgehen müsse.

Die Rede war für Stresemann, einen begabten Rhetor, keine seiner ganz großen Reden. Aber sie schaffte es, souverän den Bogen von der Außenseiterposition, die Deutschland noch zwei Jahre zuvor gegenüber dem Völkerbund eingenommen hatte, zu der nun als geradezu selbstverständlich erachteten Tatsache, dass Deutschland ab jetzt ein vollwertiges Mitglied sein würde – ohne Schuldzuweisungen, Selbstrechtfertigungen oder ausschweifende Erklärungen. Zudem spiegelte sie exakt Stresemanns Programm der Verständigungspolitik wider, das in Locarno eine erste Krönung erfahren hatte: Es ging nicht um die Aufgabe staatlicher Souveränität, es ging auf deutscher Seite auch nicht um den Verzicht auf Revision des Versailler Vertrags. Aber es ging um eine friedliche, nicht gewaltsame Revision, die letztlich nur durch Zusammenarbeit und Verhandlungen – durch einen echten Abgleich der Interessen – erreicht werden konnte.

Wenn die Rede im Reformationssaal mit großem Applaus aufgenommen wurde, war dies also vermutlich weniger dem Text selbst geschuldet als vielmehr der Bedeutung des Augenblicks: Deutschland hatte nun – für alle sichtbar – die Zulassungskarte in den Kreis der gleichberechtigten Staaten der Welt erworben.

Wahre Begeisterungsstürme löste dagegen die unmittelbar folgende Rede des französischen Außenministers Aristide Briand aus, der mit großen pathetischen Worten das Ende der langen Reihe deutsch-französischer Kriege beschwor und allgemeine Abrüstung und allgemeinen Frieden am Horizont aufziehen sah (beiden Rednern wurde drei Monate später in Oslo gemeinsam der Friedensnobelpreis verliehen).

Mit dem Beitritt Deutschlands war aber nicht nur dessen Wiedereintritt in die Völkergemeinschaft praktisch und symbolisch vollzogen. Er leitete auch eine Phase engster Zusammenarbeit zwischen Stresemann auf der einen und Briand auf der anderen Seite ein – an der sich immer wieder auch der britische Außenminister Austen Chamberlain beteiligte. Zwar erwies sich ein fast konspiratives Treffen Stresemanns und Briands im kleinen Ort Thoiry, das genau eine Woche nach dem glänzenden Tag von Genf stattfand und bei dem eine Gesamtbereinigung aller deutsch-französischen Streitpunkte erörtert wurde, schnell als Fehlschlag. Zu große Widerstände in der französischen Politik, aber auch in Großbritannien und den USA, verhinderten einen allgemeinen Ausgleich und zeigten damit auch bereits die Grenzen der beiderseitigen Verständigung auf. Dennoch bildeten die folgenden Jahre den Höhepunkt nicht nur der Tätigkeit des Völkerbunds, sondern auch der deutsch-französischen Zusammenarbeit.

Dass die Kooperation der drei Außenminister Stresemann, Briand und Chamberlain, meist im Rahmen oder am Rande von Völkerbundssitzungen, eher an das Wirken des Europäischen Konzerts des 19. Jahrhunderts erinnerte als an die ursprünglichen Ideen von Woodrow Wilson, stand dazu nicht im Widerspruch: Der Völkerbund konnte unter den gegebenen Umständen nur funktionieren, wenn die europäischen Großmächte, die nicht bereit waren, ihren Status aufzugeben, einigermaßen vertrauensvoll zusammenarbeiteten. Selbst wenn Stresemann in den folgenden Jahren die Tribüne des Völkerbundes gelegentlich für Angriffe auf die Minderheitenpolitik der ostmitteleuropäischen Staaten, insbesondere Polens, nutzte, wurde ihm dies von seinen Partnern als innenpolitisch notwendige Nutzung des internationalen Forums zugestanden.

Auch wenn greifbare Erfolge selten blieben: Schon das gleichberechtigte Verhandeln, der vertrauensbildende, auf friedlichen Ausgleich zielende Umgang miteinander sollte sich bald – nach seinem Verlust – als Wert an sich erweisen. Denn mit dem Tod Stresemanns 1929 und mit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929/30 änderte sich dies alles schlagartig. Zwar blieb der Völkerbund noch für kurze Zeit das internationale Forum schlechthin, aber er konnte weder Briands Initiative von 1930 für eine engere Zusammenarbeit der europäischen Staaten fruchtbar werden lassen, noch sah er sich in der Lage, dem flagranten Völkerrechtsbruch Japans mit dem Übergriff auf die Mandschurei vom Herbst 1931 wirkungsvoll entgegenzutreten. Vielmehr fielen die Staaten wieder ganz überwiegend in nationalen Egoismus zurück, nicht nur im Bereich der Wirtschaft, wo sehr bald Autarkie zum erneuten Leitbild wurde, sondern auch im außenpolitischen Kalkül. Die nachfolgenden deutschen Regierungen verfolgten eine nun viel aggressivere revisionistische Politik, die sich im Wechselspiel mit den nationalsozialistischen Wahlerfolgen aufschaukelte. Zusammen mit der französischen Reaktion, gegenüber einem solchen Deutschland höchst vorsichtig zu sein, führte dies dazu, dass das große Projekt des Völkerbunds, die im Februar 1932 eröffnete Abrüstungskonferenz, sehr bald ins Stocken geriet.

Dass Hitlers erste große außenpolitische Aktion nach der „Machtergreifung“ im Oktober 1933 der plebiszitär-propagandistisch aufbereitete Austritt aus der Abrüstungskonferenz und aus dem gesamten Völkerbund war, zeigt in ihrer Negation immerhin, welche Bedeutung die der Völkerbundsidee an sich zukam: Die bilaterale „Revisionspolitik“ Hitlers, die von Anfang an auf weit mehr als nur die Revision des Versailler Vertrags zielte, war mit der Mitgliedschaft in einem noch so schwachen Genfer Völkerbund unvereinbar. Die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht 1935 und die Wiederbesetzung des Rheinlands 1936, also die offene Aufkündigung des Versailler Vertrags und der Locarno-Verträge, schlossen diesen Prozess ab: Durch den Versailler Vertrag war der Völkerbund entstanden; in den Verträgen von Locarno war Deutschlands Beitritt verankert worden. Nun, 1936, trat der Völkerbund in ein Schattendasein über, das zwar noch bis 1946 in Agonie dauerte; tatsächlich hatte er aber jede praktische Bedeutung verloren.

Die Textüberlieferung der Rede Stresemanns ist in mehrfacher Hinsicht interessant: Der amtliche, gedruckte Redetext liegt in zwei Übersetzungen ins Französische und Englische vor, die am Tag nach der Rede, am 11. September 1926, in Genf im Journal de la Septième Assemblée de la Société des Nations veröffentlicht wurden. Die beiden Übersetzungen unterscheiden sich in Nuancen bei der Wortwahl oder in Plural-Singular-Konstruktionen, sind aber im Wesentlichen inhaltsgleich. Die hier als Grundlage genommene deutsche Druckfassung aus Gustav Stresemann, Vermächtnis, Bd. 2, S. 591–595, stimmt in allen wesentlichen Punkten mit diesen Übersetzungen überein.[1]

Neben diesen gedruckten Fassungen befinden sich im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes insgesamt fünf maschinenschriftliche Vorlagen. Eine Disposition entwirft die Grundgedanken der Rede. Es folgen vier Korrekturstufen, von denen die letzten beiden „Reinschriften“ ohne wesentliche handschriftliche Vermerke Stresemanns sind. Die zweite Korrekturfassung (S. 96–107) ist hier als Faksimile wiedergegeben. Sie ist weitgehend inhaltsgleich mit der letzten Reinschrift, dokumentiert aber in den zahlreichen Anmerkungen Stresemanns intensive Beschäftigung mit dem Text. Lediglich das Ende der Rede, mit dem sich Stresemann sichtlich schwertat, weicht von der letzten Fassung ab. Aber auch die letzte Reinschrift unterscheidet sich noch in zwei Punkten von der tatsächlich gehaltenen Rede: Es fehlt der Dank an die Schweiz. Und, quellenkritisch bedeutsamer: Von der ersten maschinenschriftlichen Fassung an enthält der Text eine Passage, die aus der erzwungenen eigenen Abrüstung ein deutsches Recht auf die Abrüstung der anderen ableitet. Diese Passage wird in den folgenden Fassungen abgeschwächt, ist aber im Prinzip auch noch in der letzten Fassung, die vermutlich als Redevorlage diente, enthalten. Tatsächlich hat Stresemann aber – vielleicht spontan – dieses Pochen auf ein deutsches Recht auf generelle Abrüstung in seiner Rede ganz weggelassen.

  1. Leicht abweichende Fassungen finden sich in Schulthess’ Europäischer Geschichtskalender 67 (1926), S. 474-477, und Gustav Stresemann, Reden und Schriften. Politik, Geschichte, Literatur. 1897-1926. Bd. 2. Dresden 1926, S. 302–309. Im Bundesarchiv befindet sich ein Dokumentarfilm mit dem Titel „Die VII. Völkerbundsversammlung in Genf, September 1926 (Eintritt Deutschlands in den Völkerbund)“ [BArch, Abt. Filmarchiv, M 246]; ein Tondokument der tatsächlich gehaltenen Rede war nicht zu ermitteln.

[Русская версия отсутствует]