Einführung: Nichtangriffsvertrag zwischen Deutschland und der Sowjetunion
Betrachtet man die Hintergründe, die auf deutscher Seite zu diesem Vertragsabschluss führten, so zeigt sich eine Kombination aus programmatischem und taktischem Verhalten der nationalsozialistischen politischen Führung. Bereits 1936 war Hitler von der Phase des inneren Aufbaus zur Realisierung seines außenpolitischen Programms übergegangen. Wirtschafts- und militärpolitisch wurden die Weichen für eine stufenweise Gewinnung der deutschen Vorherrschaft auf dem Kontinent gestellt. Ende 1937 zeichnete sich ab, dass Hitler seine kriegspolitischen Pläne nun auch gegen Großbritannien durchzusetzen bereit war. Die Verwirklichung der nationalsozialistischen Lebensraumkonzeption sollte mit dem Anschluss Österreichs und der Tschechoslowakei beginnen und nach der Zerschlagung der Sowjetunion 1943/45 zur Errichtung der deutschen Hegemonie auf dem europäischen Kontinent führen. Hitler konnte seine zunächst mit Revisionsforderungen kaschierte Außenpolitik bis 1939 Zug um Zug erfolgreich verwirklichen, obwohl sich die Siegermächte des Ersten Weltkrieges verpflichtet hatten, die Versailler Friedensordnung im Rahmen der „Politik der kollektiven Sicherheit“ zu erhalten.
Die Sowjetunion unterstützte dieses Konzept seit Ende 1933 aktiv und trat 1934 dem Völkerbund bei. Doch die Politik der kollektiven Sicherheit scheiterte, da keine der sie vertretenden Mächte daran interessiert war, zum Schutz der Nachkriegsordnung in militärische Auseinandersetzungen mit dem hochrüstenden Deutschland verwickelt zu werden. Stattdessen setzte sich in Großbritannien unter Premierminister Neville Chamberlain eine Appeasement-Politik durch, die darauf abzielte, Deutschlands Revisionismus zu dulden und der nationalsozialistischen Regierung territoriale Zugeständnisse um den Preis einer mittelfristigen Einbindung in die europäische Ordnung zu machen. Dieser Politik des General Settlement war jedoch kein Erfolg beschieden, weil man den Charakter der auf Expansion angelegten deutschen Außenpolitik verkannte. Erst die Zerschlagung der Tschechoslowakei zwang Großbritannien 1939 zum Umdenken. Doch selbst nach der britisch-französischen Garantieerklärung für die Unabhängigkeit Polens (31. März 1939) führte Großbritannien seine Verständigungsversuche mit Deutschland fort. Hitler interpretierte diese kooperative Haltung als Schwäche. Er glaubte, dass seine Einschüchterungspolitik Erfolg haben werde, wenn es zu einer deutsch-sowjetischen Verständigung käme. In diesem Kontext war der deutsch-sowjetische Nichtangriffsvertrag vom 23. August 1939, der Deutschland künftig militärisch den Rücken freihielt, ein pragmatischer Coup. Er hielt Hitler allerdings nur bis zum Sieg der deutschen Wehrmacht an der Westfront davon ab, seine ideologisch motivierten militärischen Absichten gegen die Sowjetunion in die Tat umzusetzen.
Das sowjetische Interesse an einem Nichtangriffsvertrag mit Deutschland ergab sich aus der Sicht des stalinistischen Regimes durch das Versagen der Politik der kollektiven Sicherheit. Insbesondere das Münchner Abkommen vom 29. September 1938 wurde kritisiert. Denn bei den Verhandlungen zwischen Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Italien über die Abtretung des Sudetenlandes war die Sowjetunion ausgeschlossen und damit international isoliert worden. Nachdem Deutschland im März 1939 das Abkommen gebrochen und die Tschechoslowakei erobert hatte, boten sich Stalin aufgrund der britisch-französischen Garantieerklärung für Polen zwei Optionen für die künftige außenpolitische Orientierung: ein Bündnis mit Großbritannien und Frankreich gegen Deutschland oder eine Verständigung mit Deutschland. Die deutsch-sowjetischen Verhandlungen im Sommer 1939 ergaben, dass die nationalsozialistische Regierung das scheinbar bessere Angebot hatte: Da die Gespräche unter dem Druck der Vorbereitungen des deutschen Angriffs auf Polen geführt wurden, versprach der Vertrag mit Deutschland der Sowjetunion Neutralität im zu erwartenden Krieg, eine Abgrenzung der territorialen Interessen „von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer“, eine Intensivierung des Warenaustausches mit Deutschland sowie das Ende der militärischen Bedrohung der Sowjetunion durch Japan und damit die Beseitigung der Gefahr eines Zweifrontenkrieges für die UdSSR.
Der Abschluss des deutsch-sowjetischen Vertrages kam zudem auch innenpolitischen Interessen des stalinistischen Regimes entgegen: Im Rahmen des dritten Fünfjahresplans und einer forcierten Aufrüstung war die Sowjetunion am Import von Industrie- und Rüstungsgütern interessiert. Der Prozess des innersowjetischen sozialistischen Aufbaus förderte das Bedürfnis nach Neutralität in einem künftigen europäischen Krieg ebenso wie der Zustand der Eliten, insbesondere der Führung der Roten Armee. Denn der Terror der dreißiger Jahre hatte die Schlagkraft der sowjetischen Streitkräfte empfindlich geschwächt. Auch konnte sich das Regime infolge der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft der Loyalität weiter Kreise der sowjetischen Bevölkerung im Kriegsfall nicht sicher sein.
Um die Integration der Sowjetgesellschaft mit ideologischen Mitteln voranzutreiben, schuf die stalinistische Führung unter dem Begriff des Sowjetpatriotismus einen neuen Nationalismus. In ihm verschmolzen Elemente des Klassenkampfes und des Internationalismus mit traditionellem Großmachtdenken. Die Stärkung der Sowjetmacht bedeutete nach den Vorstellungen des stalinistischen Regimes seit Ende der 1930er Jahre, das „Vaterland des Sozialismus“ zu schützen, sich jedoch zugleich in einem künftigen imperialistischen Krieg nicht auf eine pazifistische Position zu beschränken.
Diese Konstellation von Triebkräften und Motiven bewog die Sowjetführung dazu, nicht nur einen Nichtangriffsvertrag mit Deutschland abzuschließen, sondern in einem Geheimen Zusatzprotokoll Osteuropa in Einflusssphären aufzuteilen. Wie die Paragraphen des Nichtangriffsvertrages zeigten, richtete er sich nun gegen eine Politik des Status quo und gegen kollektive Absprachen. Damit kündigte sich ein Wandel des sowjetischen Sicherheitsdenkens an. Der Bruch mit der sowjetischen Vertragspraxis, die in den 1930er Jahren üblich geworden war, zeigte sich darin, dass der Vertrag keine Klausel enthielt, die den Vertragspartner von seinen vertraglichen Verpflichtungen entband, wenn die andere Seite einen Akt der Aggression vornahm. Die Formulierung war einerseits auf die kurzfristigen Interessen des deutschen Vertragspartners zugeschnitten. Denn die nationalsozialistische Regierung hatte in den Verhandlungen mit der Sowjetunion deutlich gemacht, dass ein deutscher Angriff auf Polen bevorstand. Daher trat der Vertrag bereits mit seiner Unterzeichnung in Kraft. Andererseits wurden mittelfristige Interessen festgeschrieben, indem sowohl für Kriegs- als auch für Friedenszeiten die Beteiligung an einem gegen den Vertragspartner gerichteten Bündnis mit dritten Mächten ausgeschlossen wurde. Die auf zehn Jahre angelegte Zusammenarbeit wurde durch Vereinbarungen ergänzt, die Konsultationen und friedliche Konfliktbeilegung in Streitfällen vorsahen. Diesen vorzubeugen, war Sinn des Geheimen Zusatzprotokolls, das für den Fall territorialer Veränderungen in Osteuropa die deutschen und sowjetischen Interessensphären skizzierte.
Ab dem 1. September 1939 erfüllten sich zunächst die gegenseitigen Erwartungen, die Deutschland und die Sowjetunion mit dem Vertrag verbanden. Trotz der Kriegserklärung Großbritanniens und Frankreichs an das Deutsche Reich konnte die Wehrmacht Polen besiegen. Deutschland und die Sowjetunion verbündeten sich am 17. September in einer Waffenbrüderschaft gegen die polnische Armee, als die sowjetischen Streitkräfte absprachegemäß vorrückten und den östlichen Teil Polens besetzten. Der deutsch-sowjetische Grenz- und Freundschaftsvertrag vom 28. September 1939 mit einem vertraulichen und zwei geheimen Zusatzprotokollen besiegelte dann die Teilung Polens, regelte den Grenzverlauf und konsolidierte auf dieser Basis die Kooperation der beiden Partnerstaaten. Stalin hatte sich gegen die Schaffung eines Restpolens als Pufferstaat ausgesprochen und das polnische Siedlungsgebiet Deutschland zugeschlagen, während er das mehrheitlich von Belarusen und Ukrainern besiedelte Gebiet behielt und der Sowjetunion angliederte. Dieses Gebiet hatte Großbritannien nach dem Ersten Weltkrieg Sowjetrussland zugesprochen. Daraus kann geschlossen werden, dass Stalin sich mit dieser Grenzziehung auch für den Fall absicherte, dass Deutschland im Krieg unterliegen und er Großbritannien und Frankreich als Siegermächten gegenüberstehen würde.
Die deutsch-sowjetische Freundschaft gründete sich seit dem 28. September 1939 zudem auf einer „Friedensinitiative“. In einer gemeinsamen Note hatten die beiden Mächte die Regierungen Großbritanniens und Frankreichs aufgefordert, die in Polen geschaffene politische Ordnung anzuerkennen und Frieden zu schließen. Als diese Rechnung nicht aufging, änderte sich in der Sowjetunion radikal das Bild vom äußeren Feind, das auf einer spezifischen Interpretation des Nationalsozialismus beruhte. War der Nationalsozialismus seit 1935 im sowjetischen Verständnis der „faschistische Hauptaggressor“, so galten nun die Westmächte als „Brandstifter des zweiten imperialistischen Krieges“, während Deutschland um seine Existenz kämpfte. Die deutsche und die sowjetische Propagandapolitik wurden aufeinander abgestimmt und auch die Kommunistische Internationale (Komintern) auf diesen Kurs eingeschworen. Hinzu kam eine prodeutsche Kulturpolitik, in der historische Themen im Vordergrund standen.
Die Verständigung zwischen den beiden Vertragspartnern wurde von deutscher Seite unterstützt, solange die Wehrmacht im Norden und Westen Europas militärisch gebunden war. Hitler billigte daher grundsätzlich die Schritte, die die Sowjetunion in ihrem Interessenbereich unternahm, um ihre Grenzen nach Westen auszudehnen, ehemals zarisches Territorium wieder zu annektieren und strategisch wichtige Positionen zu besetzen. Ende September/ Anfang Oktober 1939 wurden Estland, Lettland und Litauen Beistands- und Stationierungsverträge aufgezwungen; im Juni 1940 wurden diese Staaten annektiert und im Oktober 1940 als Sowjetrepubliken in die UdSSR eingegliedert. Rumänien musste im Juni 1940 Bessarabien und die nördliche Bukovina an die Sowjetunion abtreten. Nur Finnland weigerte sich im Herbst 1939, den sowjetischen Forderungen nachzukommen. Daraufhin griff die Rote Armee am 30. November an und verwickelte sich in den verlustreichen finnisch-sowjetischen Winterkrieg, der am 14. Dezember 1939 zum Ausschluss der UdSSR als Aggressor aus dem Völkerbund führte. Erst als sich im Frühjahr 1940 ein Eingreifen der Westmächte abzeichnete, unterbreitete die Sowjetführung ein Friedensangebot, das Finnland zu Gebietsabtretungen zwang.
Im Ergebnis hatte sich Stalin durch seine Osteuropapolitik möglicher Bündnispartner gegen Deutschland beraubt. Sein offensives außenpolitisches Konzept zielte auf machtpolitische Erfolge durch Expansionspolitik im Schatten des Krieges der Westmächte mit Deutschland.
Eine Wende in den deutsch-sowjetischen Beziehungen trat nach dem deutschen Sieg über Frankreich ein. Nach dem spektakulären Sieg der Wehrmacht über den „alten Erzfeind“ gab sich Hitler der Illusion hin, einen Krieg gegen die Sowjetunion noch leichter gewinnen zu können als gegen Frankreich. Zudem kalkulierte er, dass Großbritannien nach einer Niederlage der Sowjetunion seinen „Festlandsdegen“ verlieren, den Widerstand aufgeben und zu einem Bündnis mit Deutschland bereit sein würde. Hitler entschloss sich also zu einem Zweifrontenkrieg, um das programmatische Ziel einer deutschen Hegemonie auf dem europäischen Kontinent zu verwirklichen. Die seit dem 31. Juli 1940 begonnenen geheimen operativen Planungen für einen Angriff auf die Sowjetunion führten dazu, dass Deutschland nunmehr einen harten Kurs steuerte und insbesondere auf dem Balkan und in Finnland keinen weiteren Einfluss der Sowjetunion zuließ. Gleichzeitig wurden aber die Wirtschaftsbeziehungen, die sich durch das Abkommen vom 11. Februar 1940 zu einem „Jahrhundertgeschäft“ entwickelt hatten, von deutscher Seite weitergeführt. Das NS-Regime wollte mit Hilfe der UdSSR so viele Rohstoffe wie möglich beziehen; zugleich sollte die Wirtschaftskooperation vortäuschen, dass Deutschland an der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion festhalten wollte. Je angespannter die deutsch-sowjetischen Beziehungen infolge der deutschen Balkanpolitik wurden, desto wichtiger wurde für Stalin die Einhaltung der Verträge mit Deutschland. Die nationalsozialistische Propagandaparole, Hitler werde nicht den Fehler begehen, einen Zweifrontenkrieg zu beginnen, traf sich letztlich mit Stalins durchaus rationalem Kalkül, dass es für Deutschland aus militärischen und wirtschaftlichen Gründen unmöglich sei, gleichzeitig an zwei Fronten – gegen Großbritannien und die Sowjetunion – zu kämpfen. Die Sowjetführung hielt daher an der Partnerschaft mit Deutschland fest. So traf der deutsche Angriff eine bündnispolitisch isolierte Sowjetunion, deren Kriegsvorbereitungen nicht ausreichten, um den Vormarsch der deutschen Wehrmacht in den ersten Kriegsmonaten aufzuhalten.
Betrachtet man die Historiographie, so gab es lange Zeit heftige Kontroversen über den Charakter des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrages, da das Geheime Zusatzprotokoll von der sowjetischen Geschichtswissenschaft als Fälschung bezeichnet wurde. Im Westen war es seit 1945 bekannt, allerdings hatten die Amerikaner nur eine Kopie erbeutet, während sich das verbliebene Original, wie man heute weiß, unter Verschluss in Moskau befand. Der sowjetischen Seite war es daran gelegen, den Nichtangriffsvertrag als Schutzmaßnahme gegen eine drohende deutsche Aggression im Kontext der marxistisch-leninistischen Geschichtsauffassung zu interpretieren, wonach ein sozialistischer Staat seinem Charakter nach friedlich sei. Die Auswirkungen von Glasnost' und Perestrojka führten dazu, dass die Möglichkeit einer offenen Diskussion des Geheimen Zusatzprotokolls den Ablösungsprozess Litauens, Estlands und Lettlands von der Sowjetunion als Okkupationsmacht wesentlich beschleunigte. Erst 1989 setzte sich in der Sowjetunion eine offizielle Geschichtsrevision durch, die die Echtheit des Protokolls bestätigte. Seitdem erforscht man in Russland die sowjetische Außen-, Osteuropa- und Deutschlandpolitik unter neuen Prämissen. Allerdings bleiben die Interpretationen in Ost und West unterschiedlich und driften erneut auseinander, da in der Russländischen Föderation unter der Präsidentschaft von Vladimir Putin eine Geschichtsrevision nach „patriotischen“ Maßgaben betrieben wird, die auch die Wiederbelebung stalinistischer Positionen miteinschließt.