Einführung: Beschluss über die Auflösung der Komintern
Während die sowjetische Geschichtswissenschaft die im Dokument selbst genannten Motive für die Auflösung der Komintern für bare Münze nahm, betonen zeitgenössische russländische und westliche Autoren den pragmatischen Charakter dieser Entscheidung im Kontext der Situation des Zweiten Weltkriegs. Bereits in den 1930er Jahren war in der offiziellen sowjetischen Ideologie eine Abschwächung des Internationalismus zugunsten eines Patriotismus zu beobachten, der den Interessen der UdSSR als Großmacht besser entsprach. Dies drückte sich auch in der Durchsetzung einer neuen ideologischen Linie innerhalb der Komintern aus, die die UdSSR zur gemeinsamen Heimat des Weltproletariats erklärte und ihren nationalen Interessen Vorrang vor den Interessen der kommunistischen Bewegungen in anderen Ländern einräumte. Dieser Grundsatz war allgemein bekannt und verhinderte, dass die Kommunisten in den Dienst der sowjetischen Außenpolitik gestellt wurden: Der Erfolg der Kommunisten wurde mit Sowjetisierung, mit der Eroberung des eigenen Landes durch eine andere Macht – mit einer Neuauflage des Russischen Imperiums – assoziiert
Die Führung der kommunistischen Bewegung und vor allem Stalin selbst waren sich dieses Problems seit langem bewusst. Eine Auflösung der Komintern, die noch von Lenin gegründet worden war, wäre jedoch einer offensichtlichen Herausforderung der alten bolschewistischen Ideologie gleichgekommen. Erst nach der Zerschlagung des alten Bolschewismus während des Großen Terrors 1937-1938 gewann Stalin genügend Macht, um über das Schicksal der Komintern zu entscheiden, ohne seinen Einfluss in den kommunistischen Parteien zu verlieren. Schließlich wurde mit der Ermordung Trockijs auch die letzte Möglichkeit beseitigt, dass ein angesehener Mistreiter Lenins die eingeholte Fahne der Komintern wieder hissen und erklären konnte, dass die von Stalin aufgelöste Kommunistische Internationale auch ohne ihn fortbestehe.
Die Entscheidung, die bisher von der Komintern als Führungszentrum der kommunistischen Bewegung wahrgenommenen Funktionen auf die UdSSR und die VKP(b) zu übertragen, setzte einen großen außenpolitischen Erfolg der Sowjetunion und eine klare Definition der Perspektiven für die Ausdehnung des Systems der kommunistischen Regime voraus. Die Niederlagen in der ersten Phase des Großen Vaterländischen Krieges im Jahre 1941 zwangen Stalin, diese Entscheidung aufzuschieben – man war auf eine strenge Führung der Kommunisten in den verschiedenen Ländern angewiesen, außerdem hätte eine Auflösung wie eine weitere Niederlage ausgesehen. Doch nach dem Sieg in Stalingrad begann die Autorität der UdSSR in der ganz Welt rasch zu wachsen. Im Rahmen der Anti-Hitler-Koalition begannen die Verhandlungen über die Nachkriegsordnung in Europa, die Teheraner Konferenz wurde vorbereitet. Unter diesen Bedingungen erwies sich die formale Bindung der kommunistischen Parteien an die UdSSR als Hindernis für die sowjetische Diplomatie. Die von ihr gewählte Strategie bestand darin, die Situation so darzustellen, als seien die kommunistischen Parteien selbständige Subjekte der nationalen politischen Szene ihrer Länder. Es musste sichergestellt werden, dass die Kommunisten am demokratischen Aufbau Europas nach dem Krieg teilnehmen konnten. Der künftige Machtzuwachs der UdSSR in Europa sollte weder die Europäer noch die amerikanischen Partner mit der Aussicht auf eine sofortige „kommunistische Transformation“ des sowjetischen Einflussbereichs beunruhigen. Die Erfahrungen des Spanischen Bürgerkrieges ließen die kommunistischen Führer zudem zu dem Schluss kommen, dass es für sie sinnvoller gewesen wäre, im Namen der großen „prosozialistischen“ und „Arbeiterparteien“ zu handeln, anstatt wie bisher im Namen der kommunistischen Parteien.
Unter diesen Umständen stand im Frühjahr 1943 die Frage der Auflösung der Komintern auf der Tagesordnung. Am 8. Mai 1943 richtete der Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten Vjačeslav Molotov eine mit Stalin abgestimmte Anweisung an die Kominternführer Georgij Dimitrov und Dmitrij Manuil'skij, einen Resolutionsentwurf zur Auflösung der Komintern vorzubereiten. Am 11. Mai erörterten Dimitrow und Manuil’skij mit Stalin und Molotov den Resolutionsentwurf des Präsidiums des Exekutivkomitees der Komintern. Stalin schloss nicht aus, dass danach regionale Zusammenschlüsse kommunistischer Parteien gegründet werden könnten. Am 12. und 17. Mai berieten die Mitglieder des Präsidiums des Exekutivkomitees ausführlich über die Übertragung von Funktionen der Komintern auf den Apparat der kommunistischen Parteien, insbesondere auf das CK der VKP(b). Die Entscheidung über die Auflösung der Komintern, die von Stalin und Molotov getroffen und von Dimitrov unterstützt wurde, nahm die eigentliche Beschlussfassung vorweg. Sie löste bei einigen ehemaligen führenden Mitgliedern der Komintern einen Schock aus.
In der Diskussion über die Auflösung der Komintern, die zwischen dem 14. und dem 17. Mai 1943 stattfand, stritten die Mitglieder des Präsidiums des EKKI mehr über die Details der Begründung dieses politischen Schrittes als über seine Zweckmäßigkeit. So vertrat Rákosi die Auffassung, dass die Auflösung der Komintern einen Rückzug von den früheren Positionen bedeute, vergleichbar mit der Einführung der NĖP. Thorez, der seinerzeit von der Aufgabe der von ihm verfolgten Volksfrontpolitik betroffen war, zählte die Hauptniederlagen der Komintern auf – die Unfähigkeit, die Sozialdemokratie zu besiegen und die Ausbreitung des Faschismus zu stoppen. Wolf korrigierte seine Kollegen, indem er darauf hinwies, dass die Auflösung der Komintern keinen Rückzug, sondern eine Vorwärtsbewegung bedeute, denn inzwischen ‚seien „die Parteien erwachsen“ geworden und bräuchten keinen Vormund mehr. Dieser Gedanke wurde auch im Dokument selbst konsequent vertreten.
Wilhelm Pieck äußerte bereits 1943 seine Zweifel an der Zweckmäßigkeit der Auflösung und begründete dies mit der politischen Schwäche einiger kommunistischer Parteien, darunter auch seiner eigenen, der deutschen. Doch sein Kollege Kolarov entgegnete ihm, solange die UdSSR existiere, würden die Kommunisten eine Führung haben. Und genau das sei der Sinn des verabschiedeten Beschlusses: Die zentralistische Führung der kommunistischen Parteien von Moskau aus wurde nicht aufgehoben, sondern nur verdeckt. In der Diskussion sprach Kolarov auch ein gefährliches Thema an, das die Perspektiven der politischen Entwicklung in der Zukunft betraf, nämlich die Möglichkeit, dass regionale Verbindungen der kommunistischen Parteien, z.B. auf dem Balkan, entstehen könnten. Als Tito und Dimitrov 1948 diese Idee aufgriffen und weiterentwickelten, führte dies zu einem scharfen Konflikt zwischen der UdSSR und Jugoslawien. Auch Rákosi „sah“ die weitere Entwicklung der Ereignisse „voraus“, als er darauf hinwies, dass nach dem Krieg das Führungsgremium der Komintern in neuer Form wiederhergestellt werden könne. Dies geschah 1947 mit der Gründung des Kominforms.
Auch eine Diskussion über historische Präzedenzfälle für die Entscheidung zur Auflösung der Komintern konnte nicht vermieden werden. Die Notwendigkeit dieses politischen Schrittes wurde damit begründet, dass Karl Marx 1876 die Erste Internationale aufgelöst habe. Kolarov erinnerte die Anwesenden jedoch daran, dass dies nach der Niederlage der Pariser Kommune geschah, so dass auch der jetzige Auflösungsbeschluss den Eindruck erwecken könnte, er sei ebenfalls durch eine Niederlage verursacht worden. Natürlich wussten die Mitglieder des Präsidiums nicht, dass die Auflösung der Ersten Internationale nur die Feststellung ihres vollständigen Zerfalls war, der bereits 1873 nach dem Austritt der Anarchisten und der Tradeunionisten stattgefunden hatte. Kolarov wurde belehrt, dass solche Analogien unangebracht seien und dass es darum gehe, die gegenwärtige Auflösung durch die unbestrittene Autorität von Marx zu verschleiern.
Die Mitglieder des Präsidiums des EKKI erörterten auch eingehend die Übertragung von Funktionen der Komintern auf die Führungsorgane der einzelnen kommunistischen Parteien, insbesondere auf das CK der VKP(b).
In der Nacht vom 19. auf den 20. Mai 1943 wurde auf einer Sitzung bei Stalin der Wortlaut eines Briefes des Präsidiums des EKKI an die nationalen kommunistischen Parteien abgestimmt und anschließend versandt. Die Abstimmung musste schnell erfolgen, damit der Brief nicht zufällig in die Hände des Gegners gelangte und vor der offiziellen Fassung öffentlich gemacht wurde.
Das Politbüro des CK der VKP(b) beriet darüber am 21. Mai. M. Kalinin wandte ein: „Die Feinde werden diesen Schritt ausnutzen. Es ist besser zu versuchen, das Zentrum der K.I. an einen anderen Ort zu verlegen, zum Beispiel nach London!“. Dieser Vorschlag eines alten Bolschewiken wurde mit Gelächter aufgenommen. Die VKP(b) unterstützte erwartungsgemäß die Entscheidung.
Am 22. Mai wurde der Brief offiziell in der Zeitschrift Kommunističeskij international veröffentlicht. Die Welt erfuhr von seinem Inhalt vor allem durch die Zeitung Pravda. In den folgenden Tagen erklärten die kommunistischen Parteien einstimmig ihr Einverständnis mit dem Präsidium. Am 8. Juni 1943 verfügte das Präsidium des EKKI, dass seine Organe mit Wirkung vom 10. Juni 1943 als aufgelöst zu betrachten seien.
Die Auflösung der Komintern, deren Organe längst zu einem bürokratischen Anhängsel des Apparats der VKP(b) geworden waren, hatte keine Auswirkungen auf die praktische Arbeit der kommunistischen Parteien. Sie wurden weiterhin von Moskau aus gelenkt und finanziell unterstützt. Auch in der UdSSR löste diese Entscheidung kein Unbehagen aus. Er fügte sich nahtlos in die Maßnahmen der sowjetischen Führung zur Normalisierung der Beziehungen zur Orthodoxen Kirche sowie zur Einführung der Schulterklappen an den Uniformen der Roten Armee ein, die auf die Behauptung und Festigung des Großmachtpatriotismus während des Zweiten Weltkrieges ausgerichtet waren. Vor diesem Hintergrund erschien der Verzicht auf eine weitere Erinnerung an die Weltrevolution, an die „Unterordnung“ der führenden Partei unter das Zentrum der Weltrevolution, nicht außergewöhnlich. Alle Kommunisten, die sich über diese Entscheidung hätten empören können, waren vernichtet, ins Ausland geflohen oder saßen im GULag. Für diejenigen, die in den kommunistischen Parteien verblieben waren, war die Auflösung der Komintern ein weiterer Schritt zur Erweiterung der UdSSR als „gemeinsame Heimat des Proletariats“ und des „sozialistischen Systems“.
Text und Übersetzung: CC BY-SA 4.0