Einführung: Michail Romm, ''Lenin im Oktober'', Mosfilm 1937

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von: Natalja Gerulajtis, 2011


1. Der Film Lenin im Oktober war das Ergebnis eines Wettbewerbs für Theaterstücke und Drehbücher, dessen Hauptjuror Stalin selbst war. Die beiden siegreichen Drehbücher waren „Der Aufstand“ (Vosstanie) von Aleksej Kapler und „Der Mann mit der Pistole“ (Čelovek s ruž’ëm) von Nikolaj Pogodin. Der Regisseur Michail Romm wurde mit der Verfilmung von „Der Aufstand“ beauftragt; später wurde der Titel in einen eindeutigeren geändert – Lenin im Oktober. Romm erhielt umfangreiche Unterstützung, darunter die Erlaubnis, im Leningrader Winterpalast zu drehen.

Die Besetzung des Films war eine Staatsangelegenheit. Die Wahl des Hauptdarstellers überraschte viele: Boris Ščukin spielte damals erfolgreich die Komödienrolle des Tartaglia in „Prinzessin Turandot“. Später sah man darin sogar einen gewissen Hintergedanken Stalins: Der erste Führer der Oktoberrevolution und des Bolschewismus sollte auf der Leinwand etwas leichter wirken als der zweite Führer – Stalin selbst. Tatsächlich empfahl Maksim Gorkij Ščukin für die Rolle des Lenin. Dessen schauspielerische Verkörperung des Führers wurde zum Klassiker. Sie wurde später immer wieder parodiert, zum Beispiel in dem Film „Hochsicherheitskomödie“ (Komedia strogogo režima), der nach dem Zerfall der Sowjetunion in die Kinos kam.

Ščukins Lenin-Darstellung kommt dem im sowjetischen Film üblichen Gelehrtenbild nahe – ein „weltfremdes“, in Gedanken versunkenes Genie ohne „praktische Ader“. Der Lenin in Romms Film erscheint als eine Art exzentrischer „Spezialist“[1]. Er hat die „Idee“ zum Aufstand und setzt sich dafür ein. Die „Technik“ der Machtübernahme ist jedoch das Werk anderer – Stalin, Sverdlov, Dzeržinskij, also jener politischen Führer, die 1937, auf dem Höhepunkt des Großen Terrors, nicht als „Volksfeinde“ galten. Im Film kümmern sich diese Figuren respektvoll um den Führer, wobei solche „Fürsorge“-Episoden manchmal erstaunlich naiv wirken: Der notorisch kranke Dzeržinskij bietet Lenin seinen Mantel an, weil es draußen friert. Diese bildliche Prägung, die Darstellung Lenins als „Spezialist“, hielt sich im sowjetischen Kino bis in die 1950er Jahre, erst dann wurde sie von den „Sechzigern“ abgelehnt, die im Führer einen Intellektuellen und Denker suchten.

Passend zu diesem Charakterbild verhält sich Lenin in Romms Film manchmal seltsam. Das scheint seine Menschlichkeit und Vitalität zu unterstreichen. Er kann sich für einen halben Satz vergessen, plötzlich in seine eigenen Gedanken versinken und dann wieder zum Gespräch zurückkehren. Der „menschlichste Mensch“ fällt manchmal in seine „Kindheit“ zurück, gibt ein unangebrachtes „ansteckendes Lachen“ von sich, missachtet die Regeln der Diskretion, um sich mit Menschen aus dem Volk zu unterhalten. Charakterzüge, die Lenins Biografen tatsächlich festgehalten haben, werden im Film auf die Spitze getrieben und karikiert – unbewusst natürlich, aus dem Eifer heraus, die Anweisungen von oben zu erfüllen. Dabei war Lenin kein Intellektueller, sondern ein Revolutionär. Er war asketisch, überzeugend in der Diskussion und fähig, mit den einfachen Leuten zu sprechen.

Es ist bemerkenswert, dass die Autoren des Films nicht einmal wussten, wie Lenin im Oktober 1917 während des bewaffneten Aufstands in Petrograd aussah. Der Film zeigt den Führer der Bolschewiki „klassisch“ mit Bart. In Wirklichkeit trug Lenin, der sich vor den Behörden versteckte, keinen Bart und sprach auch so vor dem Sowjetkongress. Aber alle offiziellen Interpretationen dieser Szene – sowohl auf der Leinwand als auch in der bildenden Kunst – zeigen Lenin in seiner „gewohnten“ Gestalt, aus Angst, die Zuschauer in die Irre zu führen.

2. Die Menschen aus dem Volk sind die „Basis“ für Lenin und die bolschewistische Führung. Der „bewusstere“ Teil des Volkes – die Arbeiter oder das Proletariat – liebt „Iljič“ bereits mit Ehrfurcht und nennt ihn respektvoll und liebevoll mit seinem Vatersnamen, wie es in der Partei üblich ist. Der weniger „bewusste“, ungebildete Teil des Volkes – die Bauern und Soldaten – diskutieren noch darüber, wie er wohl sei – mächtig und groß oder klein und lispelnd. Durch die Worte von Vasilijs Frau und den Soldaten fragt das Volk auch Lenin selbst: „Wie ist er denn so, Lenin?“. Die Frau als die „Bewusstere“ errät schließlich, dass es "Er" ist, der vor ihr steht. Am Ende des Films ist das Volk, repräsentiert durch die Delegierten des Sowjetkongresses, von der Größe Lenins überzeugt.

Der wichtigste Assistent Lenins in Romms Inszenierung ist der Arbeiter Vasilij, eine Kollektivfigur, verkörpert von Nikolaj Ochlopkov. Er ist Wächter, Sekretär und Verbindungsmann. Er schläft kaum, denn er muss sich um Lenin kümmern, rechtzeitig in der Fabrik sein, die Entwaffnung der Arbeiter verhindern und ihre Teilnahme am Aufstand vorbereiten. Vasilij ist ein Teil des Volkes. An seiner Seite steht ein Arbeiterorganisator – einer der Anführer beim Sturm auf den Winterpalast. Die beiden zeigen Witz, ja sogar Humor, mit dem sie die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki, die der Provisorischen Regierung dienen, „austricksen“.

3. Die Feinde Lenins werden in Romms Film als Karikaturen dargestellt. Doch ihre Welt ist vielfältiger als die geordnete Welt der Revolutionäre.

Formal ist der Hauptgegner des bolschewistischen Führers im Film die Provisorische Regierung, an deren Spitze die düstere – das Publikum soll ihr baldiges Ende erahnen – und bis zur Karikatur überhebliche Figur Kerenskij steht. Dieses Bild kann als ein ziemlich genaues, wenn auch zugespitztes Zerrbild des Ministerpräsidenten der Provisorischen Regierung erkannt werden.

Hinter Kerenskij steht eine Verschwörung von ausgesprochenen „bürgerlichen Reaktionären“. Die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki, ehemalige Revolutionäre, sind gezwungen, mit den „Reaktionären“ zusammenzuarbeiten, obwohl sie sich schämen und nur widerwillig mit den Spitzeln kommunizieren. Offene „Reaktionäre“, die mit ausländischen Botschaftern in Verbindung stehen, diskutieren über die Notwendigkeit, eine Diktatur ausländischer Handlanger zu errichten, schließen die Möglichkeit der Zerstückelung Russlands, der „eisernen Ordnung“ und der Ermordung Lenins nicht aus. „Gebt mir einen richtigen Würger, einen Henker!“ – rufen die Vertreter der Bourgeoisie im Film, – „Die Arbeiter werden von den Sozialrevolutionären und den Menschewiki entwaffnet.“ In der Diskussion werden auch andere bolschewistische Persönlichkeiten genannt, die getötet werden sollen: Dzeržinskij und Urickij.

Der Name Urickij, eigentlich ein Verbündeter Trotzkis aus der Gruppe „Mežrajoncy“, wurde eingefügt, weil er tatsächlich im August 1918 ermordet wurde. Es ist klar, was die Autoren des Films im Sinn hatten: Von diesem Attentat aus sollten die Fäden zu den Verschwörungen des Bürgerkriegs gezogen werden. Es ist leicht zu erkennen, dass das im Film dargestellte Programm der „Reaktion“ – die in Stalins Version von den demokratischen Parteien bedient wurde – eine indirekte Rechtfertigung des Autoritarismus der Bolschewiki selbst war: Angesichts einer solchen Bedrohung war es notwendig, hart und brutal zu handeln.

In der Filmversion werden die Pläne der Reaktionäre um ein Haar verwirklicht: Das Regime der Provisorischen Regierung wird als Diktatur der Weißen Garde dargestellt. Doch die „Reaktion“ hat wenig Durchsetzungskraft – die Arbeiter, selbst die einfachen Sozialrevolutionäre, sind für die Bolschewiki. Kerenskij beschließt, den Bolschewiki selbst einen vernichtenden Schlag zu versetzen, wenn Verstärkung von der Front eintrifft.

Für die Autoren von Lenin im Oktober waren die Anhänger der Provisorischen Regierung jedoch nicht die einzige Bedrohung. Im Hintergrund der Verschwörung gegen die Revolution erschienen die Figuren Lev Trockij, Grigorij Zinov‘ev und Lev Kamenev: 1937 galten sie immer noch als die größte Gefahr für Stalins Machtsystem, obwohl die beiden Letztgenannten im Jahr zuvor erschossen worden waren. Obwohl sie im Film nicht zu sehen sind, agieren Kamenev, Zinov‘ev und Trockij dort unsichtbar und permanent, und zwar entgegen der historischen Wahrheit einstimmig. Laut Drehbuch begannen sie bereits 1917, Lenin zu schaden, indem sie sich der sofortigen Initiierung eines bewaffneten Aufstandes widersetzten.

In dieser Hinsicht war der Film ein Versuch, die Positionen von Trockij, einem der führenden Organisatoren des Oktoberputsches, und Zinov’ev und Kamenev, die gegen den Putsch waren, zu vereinen. Der Film-Lenin wendet sich schließlich gegen alle drei, obwohl bekannt war, dass der historische Lenin 1917 nur Zinov‘ev und Kamenev scharf kritisiert hatte. „Der Vorschlag von Trockij und von Kamenev und Zinov‘ev ist völlige Idiotie oder völliger Verrat!“, ruft Lenin aus. Mit solchen Szenen versuchten die Filmemacher Trockij zu kompromittieren, der in Wirklichkeit erst ab 1926 begann, sich mit Lenins ehemaligen Gegnern zu verbünden. In Lenins Aufruf findet sich jedoch auch ein Kompromiss zwischen historischer Wahrheit und offizieller Version: Trockij hatte am Vorabend der Oktoberrede andere Vorschläge als Kamenev und Zinov’ev, weshalb er hier gesondert erwähnt wird, während „Kamenev und Zinov’ev“ zu einer Gruppe zusammengefasst wurden.

4. Der erste Höhepunkt der Filmhandlung ist mit der Rede von Kamenev und Zinov‘ev verbunden. In diesem Fall wird die historische Wahrheit fast respektiert: Der Film „zitiert“ eine reale Episode aus der Vorgeschichte der Oktoberrevolution, die mit dem berühmten Artikel der beiden bolschewistischen Führer in Novaja Žizn‘ über die Unzulässigkeit des bewaffneten Aufstands verbunden ist. Der filmische Lenin ist empört, was den Drehbuchautoren die Gelegenheit gibt, in seine Tiraden die härtesten Bezeichnungen für Zinov‘ev und Kamenev einzuflechten: „politische Prostituierte“, „Verräter“, „Banditen“. Hatten die offenen Äußerungen von Kamenev und Zinov‘ev in der Presse Lenin 1917 tatsächlich empört, so klangen sie in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre vor dem Hintergrund des Kampfes Stalins und seiner Umgebung gegen die Opposition hochaktuell.

Der zweite Höhepunkt von Lenin im Oktober dreht sich um die Ereignisse am Vorabend der Rede der Bolschewiki. Hier laufen alle Handlungsstränge des Films zusammen. Lenin sitzt trotz des beginnenden Aufstandes noch immer in einer geheimen Wohnung und wartet auf das Kommando, das zu seinem Schutz einberufen wurde. Der Feind weiß durch den Verrat von Zinov’ev und Kamenev von dem Aufstand und bereitet eine Präventivmaßnahme vor: die Einnahme von Smolnyj. Dort befinden sich die Hauptkräfte der Bolschewiki, aber Lenin ist von ihnen abgeschnitten. Gleichzeitig haben Spione der Provisorischen Regierung den Führer aufgespürt und wollen ihn töten. Lenin kann nur gerettet werden, wenn die Strafeinheit aufgehalten wird. Hier kommt reine Fiktion ins Spiel, nach dem Muster der klassischen Geschichte von Ivan Susanin, dem Helden, der die Feinde, die den Zaren gefangen nehmen wollten, durch unwegsames Gelände führte: Die Feinde töteten den Helden – der Zar wurde gerettet. Eine ähnlich dramatische Episode findet sich im Filmgeschehen: Die Feinde sind auf dem Weg zu Lenins Versteck, doch der Chauffeur, der erkennt, dass Lenin in Gefahr ist, fährt sie zum falschen Ort und wird aus Rache getötet. Lenin gewinnt dadurch einen zeitlichen Vorsprung und kann dank seiner Intuition wenige Minuten vor dem Eintreffen der Strafeinheit die Wohnung verlassen. Mit Hilfe Vasilijs und seiner konspirativen Kunst – Lenin verkleidet sich lustigerweise mit Perücke und Stirnband – gelangt der Führer nach Smolnyj. Unter seiner Führung wird der bolschewistische Aufstand siegreich beendet.

5. Lenin im Oktober – eine Art Actionfilm, der auf der Geschichte der bolschewistischen Staatsgründung basiert – markiert die Abkehr des sowjetischen Kinos von der Ästhetik des Realismus und seine Hinwendung zum Neoklassizismus der Stalinzeit, dem sogenannten sozialistischen Realismus. Die ideologischen Ziele des Films bestimmten seinen Inhalt vollständig. Der für den Realismus charakteristische Psychologismus in der Darstellung der Charaktere trat in den Hintergrund: Die Figuren wurden klar in positiv und negativ eingeteilt – Zwischentöne als solche gab es nicht. Doch das Erbe des Realismus war unauslöschlich – und der sowjetische Historienfilm brauchte das Gefühl historischer Authentizität. Deshalb behielt Lenin im Oktober eine Spur der „wahren“ Ereignisse bei – genauer gesagt, eine Spur der offiziellen Version der historischen Ereignisse vom Oktober 1917. Selbst einige Episoden des Films, die dokumentarisch gedacht waren, berücksichtigten frühere filmische Erfahrungen. So lehnt sich die Episode „Der Sturm auf den Winterpalast“ an die Version von Sergej Ėjzenštejns Film „Oktober“ an, der als „Ersatz“ für die historische „Dokumentation“ der Oktoberrevolution im sowjetischen Kino gedacht war.

6. Nach 1953 vollzog der sowjetische Film eine schmerzhafte Abkehr von der stalinschen Interpretation der Ereignisse der Oktoberrevolution und vom Bild des Gründers des Sowjetstaates, wie es in Romms Film Lenin im Oktober dargestellt wurde. Die Ära des „Tauwetters“ verlangte nach einem neuen Lenin. Brillante Interpretationen von Schauspielern wie Kirill Lavrov, Jurij Kajurov und Innokentij Smoktunovskij zeigten einen anderen Führer – einen Intellektuellen und Reformer. Und Lenin im Oktober wurde 1956 gekürzt – Stalin wurde aus dem Film „herausgeschnitten“.

(Übersetzung aus dem Russischen: Florian Coppenrath)
  1. In den ersten Jahren der Sowjetmacht waren „Spezialisten“ gebildete und erfahrene Spezialisten auf jedem Gebiet, die meist aus einem „nichtproletarischen“ Umfeld stammten (Anm. d. Ü.).
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