Architektur der Postmoderne - die Neue Staatsgalerie in Stuttgart

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Architektur der Postmoderne - die Neue Staatsgalerie in StuttgartПостмодернистская архитектура – Новая государственная галерея в Штутгарте
1984
1984
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Innerhalb von kurzer Zeit avancierte die 1984 eröffnete Neue Staatsgalerie in Stuttgart zum postmodernen Bauwerk in der Bundesrepublik par excellence. Die Architektur der Postmoderne löste den Funktionalismus der Nachkriegszeit ab und stand für eine unkonventionelle „Kombination von Heterogenem“. Damit repräsentierte sie zugleich eine allgemeine gesellschaftlich-kulturelle Entwicklung im Zeichen von radikaler Pluralisierung, Individualisierung und Entnormativierung, die bereits zeitgenössisch als grundlegende Veränderung der Moderne empfunden wurde.


[Русская версия отсутствует]


von: Andreas Rödder, 2011


Am 9. März 1984 wurde an der Stuttgarter Konrad-Adenauer-Straße ein Bauwerk eröffnet, das weit über die Stadtgrenzen hinaus für Aufsehen sorgte. Neben dem streng klassizistischen Altbau der Stuttgarter Staatsgalerie stach die Neue Staatsgalerie mit ihrer geschwungenen grünen Fassade, ihren pink- und blaufarbenen Geländern und einer Reihe von eigentümlichen Besonderheiten ins Auge. Während die zentrale Rotunde Schinkels Altes Museum in Berlin und somit den Klassizismus zitierte, nahm die großflächige Verarbeitung von Glas und Stahl die Traditionen der Moderne auf. Die breiten Rampen auf der Frontseite spielten auf die Athener Akropolis an, der Verwaltungstrakt hingegen auf Le Corbusiers Stuttgarter Weißenhof-Villa, wo die auffälligen, poppig bunten Entlüftungsrohre zugleich an das Pariser Centre Pompidou erinnerten. Die vorgeblendete Travertin-Fassade verlieh der Neuen Staatsgalerie Züge einer Monumentalarchitektur, die durch herausgebrochene Quader am Parkdeck zugleich eine ironische Brechung erfuhren – ebenso wie die Rotunde durch das halb im Boden versenkte Säulenportal.

Dieser Bau widersprach dem heiligen Ernst klassizistischer und klassisch-moderner Museumsbauten, und so wurde er in hochfahrenden Kontroversen wütend als Festungsarchitektur und als vergängliche Modeerscheinung beschimpft. Die Auseinandersetzung um den Erweiterungsbau der Stuttgarter Staatsgalerie hatte sich zum Zeitpunkt der Eröffnung bereits über zehn Jahre hingezogen, denn die erste Ausschreibung war schon 1974 erfolgt. Die zunächst vorgelegten Entwürfe folgten ganz der funktionalistischen Architekturtradition: form follows function – ohne freilich die Jury völlig zu überzeugen. Hinter ihrem Unbehagen stand ein architekturgeschichtlicher Paradigmenwechsel. Erst so wurde es möglich, dass der Engländer James Stirling 1977 mit einem neuen Vorschlag reüssierte, der noch wenige Jahre zuvor in den Zeiten der technokratisch-machbarkeitsgläubigen Modernisierungsideologie keine Chance gehabt hätte.

Stirlings Entwurf setzte sich vom strengen Funktionalismus des International Style ab, der die Architektur und die Stadtplanung der Nachkriegszeit beherrscht hatte. Er hatte sich im Konzept der „autogerechten Stadt“ (Hans Bernhard Reichow) und den damit verbundenen Verkehrsdurchbrüchen und großflächigen Kahlschlagsanierungen manifestiert, in der Umgestaltung der Altstädte nach dem Prinzip der „Funktionsschwächebehebung“[1] sowie den am Reißbrett entworfenen, hochverdichteten Hochhaussiedlungen und Trabantenstädten an den Peripherien der Städte, vom Märkischen Viertel in Berlin bis München-Neuperlach, einschließlich der obligatorischen Wohnhochhäuser auch in kleineren Städten und Gemeinden.

Bereits in den sechziger Jahren war jedoch vereinzelt die zunehmende „Unwirtlichkeit“ der Städte beklagt worden,[2] und zu Beginn der siebziger Jahre setzte eine nachhaltige Gegenbewegung ein. Eine zunehmende Kritik an der „funktionalistischen Bedeutungsleere der Spätmoderne“[3] führte zur Abwendung von Großsiedlungen und „Klötzchenstadt“ und zur Wiederentdeckung der historischen Stadt. Funktionale Großbauten, die bis dahin als modern gegolten hatten – wie die 1967 fertiggestellte Universität Bochum oder das 1969 begonnene Klinikum in Aachen – wurden nunmehr als seelenlose „Containerarchitektur“, als „Betonbrutalismus“ und „Bauwirtschaftsfunktionalismus“ gebrandmarkt, und im Falle der Heidelberger Großsiedlung Emmertsgrund wurden die weiteren Planungen ganz eingestellt.

Die zentrale Gegenbewegung firmierte seit 1975 unter dem Begriff, den der amerikanische Architekturtheoretiker Charles Jencks in einem programmatischen Aufsatz geprägt hatte: „Postmoderne“. Anstelle funktionalistischer „Univalenz“[4] forderte er einen künstlerischen Überschuss, oder wie es Heinrich Klotz formulierte: „Nicht nur Funktion, sondern auch Fiktion!“[5] In der gebauten Praxis stand die Postmoderne für „Mehrsprachigkeit“ statt einheitlicher Großform, für einen phantasievoll-spielerischen Eklektizismus. Diese postmoderne „Kombination von Heterogenem“[6], wie sie James Stirling in Stuttgart geradezu paradigmatisch realisierte, stand zugleich in einem geistig-kulturellen Zusammenhang, der weit über die Architektur hinausreichte.

Im Bereich der Humanwissenschaften ging die Verbreitung des Begriffs „Postmoderne“ insbesondere von Jean-François Lyotards „Bericht über die Lage des Wissens in den höchstentwickelten Gesellschaften“ aus, der 1982 erstmals in deutscher Sprache unter dem Titel „Das postmoderne Wissen“ erschien.[7] „Die große Erzählung“ – so seine zentrale These –, konkret: die aufklärerische Erzählung von der Emanzipation des Menschen ebenso wie die idealistische Erzählung von der Entfaltung des Wissens durch den spekulativen Geist, „hat ihre Glaubwürdigkeit verloren“. Lyotard legte keine wirkliche Definition des Begriffs „Postmoderne“ vor, der sich ohnehin seit jeher einer klaren Definition entzieht. Aber er brachte die Diskussion auf die Spur wesentlicher Merkmale: die Abkehr von der Fortschrittsgläubigkeit der Moderne, die Zurückweisung des Verbindlichen, die Zersplitterung („éclatement“) des Ganzen („unitotalité“).

„Radikale Pluralität“ als „der einheitliche Fokus des Postmodernen“[8] erfasst dabei einen allgemeinen Zusammenhang der gesellschaftlich-kulturellen Entwicklung. Ihr Kern liegt in den Privatheitsformen. Aus der Norm der fünfziger Jahre, der bürgerlichen Kleinfamilie aus verheirateten Eltern mit eigenen Kindern, ging eine Vielzahl von Paarbeziehungen hervor: Verheiratete und Unverheiratete mit und ohne eigene und nicht eigene Kinder, zudem Alleinerziehende, gleichgeschlechtliche Paare und Singles. Diese Entwicklung war eng verbunden mit dem Wandel der Geschlechterverhältnisse und der Herauslösung von Frauen aus Haushalt und Familie zugunsten von Erwerbstätigkeit. Zugleich trat in der Sexualmoral ein Wandel von strenger Normierung zu lockerem Laissez-faire ein, der auch mit einem entsprechend vielfältigen Angebot in einer erheblich erweiterten Medienlandschaft zusammenhing. Mit steigendem Wohlstand gewann die Freizeitgestaltung zunehmend an sozialkultureller Bedeutung, während dauerhafte soziale Bindungen jedweder Art, vor allem an die Kirchen, deutlich zurückgingen. Die Sozialwissenschaften registrierten einen Wertewandel, der in den sechziger Jahren eingesetzt hatte, von „Pflicht- und Akzeptanzwerten“ zu „Freiheits- und Selbstentfaltungswerten“[9], die sich in emanzipatorisch-partizipatorischer ebenso wie in hedonistischer Form manifestierten.

Abstrakt gesprochen: Die radikale Pluralisierung im Zeichen des „anything goes“[10] verband sich mit fortschreitender Individualisierung und einer Entnormativierung, die zugleich einen spezifisch postmodernen „Verlust der Gewissheit“[11] mit sich führte. Damit stellte sie eine Radikalisierung und zugleich eine partielle Überwindung der klassischen Moderne dar, wie sie sich in den westlichen Industriegesellschaften seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert etabliert hatte. Dafür stand die Architektur als der „postmoderne Artikulationssektor par excellence“[12] – und in Deutschland wie kein zweites Bauwerk die Neue Staatsgalerie in Stuttgart.

  1. Jörn Düwel/Niels Gutschow, Städtebau in Deutschland im 20. Jahrhundert: Ideen-Projekte-Akteure. Teubner, Stuttgart 2001, S. 222.
  2. Alexander Mitscherlich, Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1965.
  3. Heinrich Klotz, Kunst im 20. Jahrhundert: Moderne - Postmoderne - Zweite Moderne. 2., durchges. Aufl, C.H.Beck, München 1999, S. 114-145.
  4. Charles Jencks, Die Sprache der postmodernen Architektur: Die Entstehung einer alternativen Tradition. 2. erw. Aufl., DVA, Stuttgart 1980, S. 15.
  5. Heinrich Klotz, Moderne und Postmoderne: Architektur der Gegenwart 1960–1980. 3. Aufl., Vieweg, Braunschweig 1987, S. 423.
  6. Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne. 5. Aufl., Akademie Verlag, Berlin 1997, S. 20 und 117-118.
  7. Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen: Ein Bericht. Hrsg. von Peter Engelmann. 4. Aufl., Passagen, Wien 1999. Die folgenden Zitate: S. 112, 120 und 175.
  8. Welsch, op. cit., S. 4-5.
  9. Helmut Klages, Traditionsbruch als Herausforderung: Perspektiven der Wertewandelsgesellschaft. Campus, Frankfurt a. M./New York 1993, S. 9-10, 15, 23 und 26.
  10. Paul Feyerabend, Wider den Methodenzwang. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1976, S. 13.
  11. Zygmunt Baumann, Postmoderne Ethik. Hamburger Edition, Hamburg 1995, S. 332.
  12. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, op. cit., S. 18.

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Foto: Julian Herzog. CC BY 4.0, Wikimedia Commons.

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