Einführung: Dekret „Über die Abschaffung der Todesstrafe“

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von: Beate Fieseler, 2011 (aktualisiert 2024)


Das Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 26. Mai 1947 hob die Todesstrafe in der Sowjetunion auf. Dies war nicht die erste Maßnahme dieser Art. Bereits im November 1917 hatte die sowjetische Regierung die Todesstrafe offiziell abgeschafft, ihre weitere Anwendung gegen Konterrevolutionäre jedoch geduldet. Mit dem Dekret über den „Roten Terror“ vom 16. Juni 1918 wurde sie offiziell wieder eingeführt, im Januar 1920 (außer für Militär- und Revolutionstribunale) erneut abgeschafft und noch im selben Jahr vollständig wiederhergestellt. In Kontinuität zum Russischen Reich ahndete das sowjetische Strafrecht Kriminaldelikte mit vergleichsweise milden Strafen, harte Strafen bis hin zur Todesstrafe galten vor allem für politische Vergehen, die nicht vor den ordentlichen Gerichten verhandelt wurden, sondern in die Zuständigkeit von Sondergerichten bzw. der Organe der Staatssicherheit fielen.

Obwohl die Todesstrafe nicht dem offiziellen Verständnis von Strafe als Besserungsmaßnahme und Erziehungsmittel entsprach, welches das sowjetische Strafrecht der 1920er Jahre prägte, sahen die Strafgesetzbücher der einzelnen Sowjetrepubliken (RSFSR 1922, 1926) weiterhin den Tod durch Erschießen als „außerordentliche Maßnahme“ bei „Verbrechen schwerster Art, die die Grundlagen des Sowjetregimes und der Sowjetverfassung bedrohen“, vor. Dabei handelte es sich meist um politische Straftaten, doch auch militärische oder ökonomische Vergehen konnten mit der Todesstrafe belegt werden. Einschränkend bestimmte das Gesetz lediglich, dass Personen, die zum Zeitpunkt des Verbrechens das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hatten, sowie Schwangere nicht zum Tode verurteilt werden durften.

Die in den Strafgesetzbüchern in Aussicht gestellte „anderweitige Regelung“, also die Aufhebung der Todesstrafe, kam vorerst nicht zustande. Nachdem jedoch 1927 ihre Anwendung auf bestimmte politische und militärische Delikte sowie Raubüberfälle eingeschränkt worden war, sank die Zahl vollstreckter Todesurteile deutlich. Doch schon ab 1929 kam es im Zuge der Kollektivierung und Entkulakisierung erneut zu Massenhinrichtungen. Zu Beginn der dreißiger Jahre, also noch bevor die sowjetische Justiz 1934 zum Schuldstrafrecht zurückkehrte und damit den Vergeltungsgedanken gegenüber dem bis dahin favorisierten Präventionsgedanken deutlich in den Vordergrund rückte, wurde der Katalog von Verbrechen, die mit der Todesstrafe geahndet werden sollten, ausgeweitet. Er umfasste nun auch Waffendiebstahl, Mord durch Militärpersonal unter bestimmten Bedingungen sowie Hochverrat. Während des Zweiten Weltkrieges wurde die Anwendung der Todesstrafe erneut erweitert und galt nun auch für „Provokateure, Spione und andere Agenten des Feindes, die die öffentliche Ordnung störten“.

Zwar liegen keine gesicherten Angaben über die Zahl der in der Sowjetunion vollstreckten Todesurteile vor, doch war die Anwendung der Todesstrafe deutlich verbreiteter als im Russischen Reich. Für das erste Jahrzehnt nach der Oktoberrevolution von 1917 geht die Forschung von einigen 10 000 Fällen aus, in denen die Höchststrafe verhängt wurde. Die weitaus meisten Todesurteile wurden in den Jahren des politischen Massenterrors (1934–1938) gefällt, in der Regel wegen angeblicher konterrevolutionärer Verbrechen nach § 58 des Strafgesetzbuches. Nach bisher bekannten, aber noch immer unvollständigen Zahlen wurden allein im berüchtigten Terrorjahr 1937/38 von den mehr als 1,5 Millionen von der politischen Polizei verfolgten und verurteilten Menschen 681 692 hingerichtet.

Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, mit dem Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 26. Mai 1947, wurde die Todesstrafe in der Sowjetunion ausdrücklich abgeschafft. So spektakulär und auf Öffentlichkeitswirkung im In- und Ausland bedacht die Aufhebung auch gewesen sein mochte, handelte es sich lediglich um eine symbolische Maßnahme der politischen Führung, denn die allgemeine Abschaffung der Todesstrafe blieb eine Episode. Bereits am 12. Januar 1950 wurden sie durch ein Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR für „Vaterlandsverräter, Spione und Saboteure“ wieder eingeführt, also für einzelne politische Verbrechenstatbestände, die auf die Unterminierung der geltenden Staatsordnung abzielten. Die Neukodifizierung des Strafrechts unter Nikita Chruščev führte nicht zu einer erneuten Aufhebung der Todesstrafe. Im Gegenteil, per Dekret vom 30. April 1954 wurde sie auf vorsätzliche Tötung unter bestimmten Bedingungen ausgeweitet. Diese Maßnahme richtete sich vermutlich gegen eine bestimmte Gruppe Krimineller, die im Zuge der „Vorošilov-Amnestie“ vom März 1953 den Gulag verlassen konnten und deren Freilassung in der sowjetischen Gesellschaft massive Ängste auslöste. Spätere Dekrete der politischen Führung dehnten den Anwendungsbereich der Todesstrafe auf weitere nicht politisch motivierte Delikte aus. Da jedoch gleichzeitig die Höhe von Freiheits- und Verbannungsstrafen erheblich gesenkt wurde, kann für die Phase nach Stalins Tod insgesamt von einer Liberalisierung des Strafverfolgungssystems gesprochen werden.

Das Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 26. Mai 1947, um das es hier geht, sah die Aufhebung der Todesstrafe in Friedenszeiten vor. Die Abschaffung erstreckte sich also weder auf etwaige zukünftige Kriegszeiten noch auf Gebiete, in denen Kampfhandlungen stattfinden würden. In den Fällen, in denen nach den bis Mai 1947 geltenden Gesetzen die Todesstrafe zu verhängen war, wurde diese durch eine 25-jährige Haft in einem „Besserungsarbeitslager“ (ITL) des GULag-Systems ersetzt. Vor dem Hintergrund der desolaten Lebensverhältnisse und der harschen klimatischen Bedingungen in den Arbeitslagern kam dieses Strafmaß, wie in der Forschung betont wird, einer langsamen Hinrichtung gleich und dürfte insbesondere in den Hungerjahren um 1947 zahlreiche Opfer gefordert haben.

Bei der Interpretation der Wiedereinführung der Todesstrafe für „Vaterlandsverräter, Spione und Agenten-Saboteure“ im Januar 1950 dominiert die Ansicht, dass diese Maßnahme vor allem darauf abzielte, die Hauptangeklagten der „Leningrad-Affäre“ hinrichten zu können. Doch blieben diese mitnichten die einzigen Opfer der Justiz der späten Stalinzeit. So wurden in der DDR zwischen 1950 und 1953 Hunderte von Menschen aufgrund angeblicher „konterrevolutionärer Handlungen“ verhaftet, in die Sowjetunion verschleppt und dort von Militärtribunalen nach § 58 des sowjetischen Strafgesetzbuches zum Tode verurteilt.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die zahlreichen repressiven Maßnahmen der UdSSR in den Nachkriegsjahren, die – wie etwa die Diebstahlsdekrete vom 4. Juni 1947 – drakonische Strafen für Bagatellvergehen einführten, strafrechtlich weitaus bedeutsamer waren als die Abschaffung der Todesstrafe. Von einer Liberalisierung des sowjetischen Strafrechts in den Nachkriegsjahren kann also keine Rede sein. Die Forschung neigt vielmehr zu der Ansicht, dass die Todesstrafe vor allem deshalb aus dem sowjetischen Strafrecht getilgt wurde, um dessen spürbare Verschärfung zu verschleiern bzw. um die Folgen der vielen strafverschärfenden Dekrete zu mildern, mit denen die politische Führung der Sowjetunion unter Stalins persönlicher Federführung das bestehende Strafrecht durch politisch motivierte, verschärfende Ergänzungen pervertierte. Vor diesem Hintergrund ist die Aufhebung der Todesstrafe in der UdSSR im Mai 1947 eher als Propaganda- bzw. Ablenkungsmanöver von den Strafrechtsverschärfungen der späten vierziger Jahre denn als politische Grundsatzentscheidung zu werten. Entsprechend wenig Aufmerksamkeit hat das Dekret vom 26. Mai 1947 in der Forschung auf sich gezogen, zumal keine offiziellen Äußerungen oder Archivfunde überliefert sind, die Aufschluss über weitere Motive Stalins und seiner Führungsriege liefern könnten.


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