Einführung: Freundschaftsvertrag zwischen Deutschland und der Sowjetunion (Berliner Vertrag)

Aus 1000 Schlüsseldokumente
Wechseln zu: Navigation, Suche


von: Christoph Mick, 2010


Das Vertragswerk von Locarno war der Höhepunkt der Ausgleichsbemühungen mit Frankreich und beunruhigte die sowjetische Regierung, die ein Einschwenken Deutschlands in die stets erwartete „antisowjetische Einheitsfront“ befürchtete. Der deutsche Botschafter in Moskau, Graf Ulrich Brockdorff-Rantzau, und die Ostabteilung des Auswärtigen Amtes standen der konsequenten Westorientierung Gustav Stresemanns skeptisch gegenüber und setzten sich vehement dafür ein, die „russische Karte“ weiter im Spiel zu halten. Obwohl Außenminister Stresemann und sein Staatssekretär Carl von Schubert die Annäherung an Frankreich und die Einbindung Deutschlands in multilaterale Vertragssysteme nicht gefährden wollten, stimmten sie dem Vertrag zu. Erstens wurde damit die „Ostfraktion“ im Auswärtigen Amt und im Reichstag teilweise zufriedengestellt, zweitens die deutschen Beziehungen zur Sowjetunion stabilisiert und drittens ein Beitrag zur Einbindung der Sowjetunion in das internationale System geleistet.

Die Sowjetregierung war an diesem Vertrag stärker interessiert als die Reichsregierung, und dies obwohl sich ihre außenpolitische Lage seit dem Rapallo-Vertrag wesentlich verbessert hatte. 1924 nahmen England, Frankreich und Italien diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion auf. Dadurch verloren die deutsch-sowjetischen Beziehungen zwar ihre Exklusivität, sie blieben aber – wenigstens aus sowjetischer Sicht – Sonderbeziehungen. Das Deutsche Reich war außenpolitischer Wunschpartner der Sowjetregierung. Nach dem Londoner Reparationsabkommen von 1924 (Dawes-Plan) und den Locarno-Verträgen hegte die sowjetische Führung den Verdacht, dass sich die deutsche Regierung von der Sowjetunion abwenden und über kurz oder lang in eine antisowjetische Einheitsfront einschwenken würde. Ideologisch trugen die Bolschewiki den außenpolitischen Erfolgen Deutschlands Rechnung, indem sie dessen Wiederaufnahme in den Kreis der „imperialistischen“ Mächte konstatierten.

Das Auswärtige Amt versuchte die Sowjetregierung zu beruhigen und schloss noch 1925 einen Handelsvertrag ab, der den sowjetischen Interessen weit entgegenkam. Ein weiterer Schritt war der Berliner Vertrag, der vor allem Befürchtungen zerstreuen sollte, Deutschland würde nach seinem Beitritt zum Völkerbund gezwungen sein, bei kollektiven Aktionen gegen die Sowjetunion mitzuwirken. Die Furcht lag vor allem im Paragraphen 16 der Völkerbundsatzung begründet, der die Mitgliedsstaaten verpflichtete sich an Maßnahmen des Völkerbundes gegen Aggressoren zu beteiligen. Ein entsprechender Völkerbundsbeschluss – so die Angst der sowjetischen Führung – würde einen Automatismus in Gang setzen, der Deutschland verpflichtete, an kollektiven Aktionen gegen die Sowjetunion teilzunehmen. Von einer bedingungslosen Akzeptanz des Paragraphen 16 war die Reichsregierung jedoch weit entfernt. Nach langen und zähen Verhandlungen hatte sie erreicht, dass sich Deutschland bei einer eventuellen Aufnahme in den Völkerbund an Aktionen nach Paragraph 16 nur nach Maßgabe seiner militärischen Möglichkeiten und unter Berücksichtigung seiner besonderen geographischen Lage beteiligen musste.

Der Sowjetregierung reichte dies jedoch nicht aus. Sie wollte von der Reichsregierung eine ausdrückliche Bestätigung der bisherigen Beziehungen und eine Garantie gegen eine deutsche Beteiligung an kollektiven Aktionen gegen die Sowjetunion, ob ökonomischer, politischer oder militärischer Art. Gleichzeitig wollte das Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten (Narkomindel) damit der deutschen Ausgleichspolitik mit den Westmächten Schwierigkeiten bereiten. Zunächst schlug der Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, Georgij Čičerin, einen Vertrag vor, in dem die Neutralität an keine Bedingungen geknüpft war. Zu einer bedingungslosen Neutralität, die auch im Falle eines sowjetischen Angriffs auf einen dritten Staat in Kraft getreten wäre, war die Reichsregierung nicht bereit. Dies hätte auch dem Geist des Völkerbundes widersprochen, dem beizutreten sie sich anschickte.

Der Berliner Vertrag bekräftigte schließlich die freundschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Staaten und bestätigte den Rapallo-Vertrag als Grundlage der Beziehungen. Es wurde eine ständige wechselseitige Konsultation in allen politischen und wirtschaftlichen Fragen, die beide Länder betrafen, verabredet. Am schwierigsten war die Formulierung des Paragraphen 2, des eigentlichen Neutralitätsabkommens. Die sowjetische Seite war der Reichsregierung insoweit entgegengekommen, als sie nun Neutralität für den Fall vorschlug, dass eine der vertragschließenden Seiten von einer dritten Macht oder von mehreren dritten Mächten angegriffen würde. Aber auch mit dieser Formulierung war die Reichsregierung nicht einverstanden, da sie nur schwer mit Artikel 16 der Völkerbundsatzung in Einklang zu bringen war. Außerdem stand im Hintergrund immer die Komintern, deren von der Sowjetführung gelenkten revolutionären Umtriebe eine Blanko-Neutralitätserklärung erschwerte.

Das Auswärtige Amt schlug deshalb eine Neutralitätsverpflichtung im Falle eines „unprovozierten Angriffs“ vor. Diese Formulierung missfiel wiederum dem Narkomindel, der dahinter die Unterstellung vermutete, die Sowjetregierung könne durch ihr Verhalten überhaupt einen Angriff provozieren. Schließlich fand die Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes eine Kompromissformel. Statt „unprovoziert“ wurde „trotz friedlichen Verhaltens“ in den Vertrag eingesetzt. Damit konnte auch das Narkomindel leben, das an einem schnellen Vertragsabschluss interessiert war. Der Vertrag verpflichtete somit keine der beiden Seiten zu Neutralität, wenn der Vertragspartner den Krieg begonnen oder provoziert hatte. Im dritten Artikel wurde die Neutralitätsverpflichtung auch auf ökonomisches Gebiet übertragen. Dies kam vor allem der Sowjetregierung entgegen, die damit eine Beteiligung Deutschlands an einem internationalen Wirtschafts- oder Finanzboykott gegen die Sowjetunion zu verhindern suchte. Der Vertrag wurde für fünf Jahre geschlossen. Die Vertragsparteien beschlossen, rechtzeitig vor Ablauf über die Verlängerungsmodalitäten zu verhandeln. 1931 wurde der Vertrag nach längerem diplomatischem Tauziehen um drei Jahre verlängert.

Wie schon der Rapallo-Vertrag erfuhr auch der Berliner Vertrag im Reichstag und in der deutschen Öffentlichkeit erheblich größere Zustimmung als die Westverträge. Im Ausland wurde der Vertrag ohne große Aufregung zur Kenntnis genommen. Die Art des Zustandekommens und die Informationspolitik der Reichsregierung hatte zu dieser ruhigen Aufnahme in der internationalen Öffentlichkeit beigetragen. Anders als der Rapallo-Vertrag war der Berliner Vertrag für die Westmächte keine Überraschung. Im Sinne einer transparenten und auf Kooperation angelegten Politik, hielt das Auswärtige Amt die englische und französische Regierung über die Verhandlungen auf dem Laufenden und informierte sie schon vor der Veröffentlichung über die Vertragsbestimmungen. Zwar war der französische Ministerpräsident Aristide Briand nicht glücklich über den Abschluss, doch gefährdete der Vertrag zu keiner Zeit die deutschen Ausgleichsbemühungen mit Frankreich.

In der Forschung ist der Berliner Vertrag anders als der Rapallo-Vertrag nicht zum Gegenstand hitziger Auseinandersetzungen geworden. Es wird allenfalls darüber gestritten, inwieweit sein Abschluss den Versuch ausdrückte, eine „Ost-West-Balance“ aufrechtzuerhalten,[1] oder ob er nur als Ergänzung zu den Locarno-Verträgen zu verstehen ist, welche die konsequente Westorientierung der deutschen Außenpolitik unter Stresemann und Schubert nicht in Frage stellte.[2] In der sowjetischen Historiographie wurden die Locarno-Verträge als Versuch interpretiert, eine kapitalistische Einheitsfront gegen die Sowjetunion herzustellen und Deutschland in diese Einheitsfront einzubinden. Der Berliner Vertrag war damit ein großer Erfolg der sowjetischen Diplomatie, die – wie schon beim Rapallo-Vertrag – eine vollständige Einbindung Deutschlands in das antisowjetische „imperialistische Lager“ verhindert habe.

  1. Martin Walsdorff, Westorientierung und Ostpolitik: Stresemanns Rußlandpolitik in der Locarno-Ära. Schünemann, Bremen 1971.
  2. Peter Krüger, Die Außenpolitik der Republik von Weimar. 2. Aufl., Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1993.
Nach oben