Einführung:Reichstagsrede von Joseph Wirth anlässlich der Ermordung Walther Rathenaus

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von: Christian Schölzel, 2010


Der dem linken Spektrum der katholischen Zentrumspartei zugehörige Joseph Wirth (1879-1956) wurde im Mai 1921 Reichskanzler. Deutschland hatte den Ersten Weltkrieg verloren und sah sich nach dem Friedensvertrag von Versailles (1919) mit Reparationsforderungen der alliierten Siegermächte (vor allem Frankreich und Großbritannien) konfrontiert. Viele Fragen über die Höhe der vom Deutschen Reich zu entrichtenden Schuld blieben ungeklärt. Auf der Finanzkonferenz von Spa im Juli 1920 wurden erstmals deutsche Politiker und Finanzexperten von den Alliierten zu dieser Frage gehört.

Der damalige Reichsfinanzminister Joseph Wirth hatte Walther Rathenau im Frühjahr des Jahres kennengelernt und forderte ihn nun zur Teilnahme an der deutschen Delegation für Spa als Sachverständiger auf. Beide Biografien konnten in den vergangenen Jahren besser als zuvor erforscht werden, da durch die Öffnung russischer Archive ab den frühen 1990er Jahren umfangreiches neues Quellenmaterial zugänglich wurde.

Rathenau war der Sohn des AEG-Gründers Emil Rathenau. Wie sein Vater wurde er Industrieller. Vor dem Ersten Weltkrieg hatte er durch seine Mitgliedschaft in den Führungsgremien zahlreicher Unternehmen und deren Beteiligungen maßgeblichen Einfluss auf zeitgleich etwa 300 Firmen. Als einer der wichtigsten Vertreter der verarbeitenden Industrie strebte er eine politische Position an. Mit der ehrenamtlichen Übernahme des Aufbaus und der Leitung der Kriegsrohstoffabteilung im Preußischen Kriegsministerium von August 1914 bis März 1915 leistete er einen wichtigen Beitrag zur staatlich kontrollierten Bewirtschaftung der Rohstoffe in der deutschen Volkswirtschaft für den Kriegsbedarf. Gegen Ende des Krieges war Rathenau von staatlichen Stellen erneut sehr gefragt. Seine Mitwirkung als Experte für Fragen der weltwirtschaftlichen Finanzen in Spa war Ausdruck dieser Situation.

Während der Konferenz spaltete sich die deutsche Delegation in zwei Flügel. Eine national gesinnte Gruppe um den Ruhrindustriellen Hugo Stinnes (1870-1924) wollte dem französischen Druck zur Zahlung der als überhöht empfundenen Reparationsforderungen nicht nachgeben. Andere, kooperativer gesinnte Teilnehmer um Rathenau und Wirth entwickelten dagegen das kurz darauf pejorativ als „Erfüllungspolitik“ geschmähte außenpolitische Konzept, den Forderungen der Westmächte bis an die Grenzen des „Erfüllbaren“ nachzugeben. Es galt, Kooperationsbereitschaft zu zeigen, internationale wirtschaftliche Außenkontakte in der Nachkriegszeit wiederherzustellen und mit dem kalkulierten Scheitern der eigenen Zahlungsfähigkeit zugleich den Siegermächten die Unsinnigkeit ihrer überzogenen Forderungen vor Augen zu führen. Wirth und Rathenau arbeiteten fortan an in der Reparationsaußenpolitik kontinuierlich eng zusammen.

Als Wirth im Mai 1921 mit der Bildung einer Reichsregierung beauftragt wurde, machte er Rathenau zum Minister für Wiederaufbau. In dieser Funktion schloss Rathenau mit seinem französischen Amtskollegen Louis Loucheur das Reparationsabkommen von Wiesbaden. Nach der innenpolitisch motivierten Auflösung des ersten Kabinetts Wirth Ende Oktober 1921 konnte der alte und neue Regierungschef Rathenau erst Ende 1922 zum Reichsaußenminister ernennen. Während Wirth etwa seit Herbst 1921 einen rigideren Kurs gegenüber den Westalliierten einzuschlagen bereit war, hielt der neue Leiter des Reichsaußenministeriums weitgehend an seiner kooperativen Haltung fest. Das während der internationalen Finanzkonferenz von Genua am 16. April 1922 geschlossene deutsch-sowjetische Abkommen von Rapallo über die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen und eine verbesserte Zusammenarbeit nach dem Kriege zeigte dies. Während Rathenau die Westmächte in das Abkommen einbinden wollte, konnte sich der Teil der deutschen Diplomatie, darunter Wirth, durchsetzen, der ein bilaterales Separatabkommen vorzog.

Am 24. Juni 1922 wurde Rathenau auf dem Weg von seinem Wohnhaus in das Außenministerium in Berlin ermordet. Wirths Verweis darauf, Rathenau habe den ihm angebotenen Personenschutz abgelehnt, ist weitestgehend zutreffend. Seit 1918 hatte es immer wieder Hinweise auf eine geplante Ermordung Rathenaus durch Antisemiten gegeben, die sich in den Amtszeiten Rathenaus als Minister verdichtet hatten. Zumeist lehnte Rathenau die ihm angebotenen Schutzmaßnahmen ab. Auch Wirth fürchtete im Juni 1922, als „Republikaner“ ermordet zu werden.[1] Die Mörder Rathenaus, Mitglieder des deutsch-völkischen Verschwörerbundes „Organisation Consul“, wollten mit diesem und einer Reihe weiterer Attentate die junge Republik von Weimar „sturmreif“ schießen und bomben. Das nächste Opfer der „Organisation Consul“ sollte schon im Juli desselben Jahres der Journalist Maximilian Harden (1861-1927) werden, der einen Anschlag schwer verletzt überlebte. Die Attentäter zielten darauf ab, einen Bürgerkrieg zu provozieren. Mit dem jüdischen Rathenau als Mordopfer sahen sie zugleich ihre antisemitischen Ziele befriedigt.

Das Attentat rief weltweites Entsetzen hervor. Zugleich fühlten sich die republikanisch Gesinnten, zu denen auch Wirth gehörte, herausgefordert, die Demokratie gegen ihre Feinde zu verteidigen. Die Rede des deutschen Regierungschefs vor dem Deutschen Reichstag folgte dieser Absicht. Als der Reichskanzler etwa vier Stunden nach der Bluttat im Reichstag des Ermordeten gedachte, verzeichnete das Protokoll große Unruhe im Plenum. Wirths Appell an die Einheit der Republikaner, die Einheit Deutschlands, stand die sichtbare Spaltung im Parlament gegenüber. Zurufe der Linken gegen den deutsch-nationalen DNVP-Abgeordneten Karl Helfferich (1872-1924), dem als langjährigem Gegner Rathenaus und der „Erfüllungspolitik“ politische Verantwortung für den Mord vorgeworfen wurde, zeugten davon. Es kam im Reichstag zu Schlägereien zwischen Abgeordneten des republikanischen und des antirepublikanischen Lagers. Allein an einer Trauerkundgebung am 25. Juni 1922 im Berliner Lustgarten nahmen eine halbe Million Menschen teil. Es kam reichsweit zu Streiks und Tumulten, und viele Politiker und Industrielle, darunter Wirth, befürchteten einen Bürgerkrieg.

Wirth zeichnete Rathenau in seiner Rede als friedensbereiten Demokraten. Er gab damit zugleich das über die Zeit der Weimarer Republik hinaus wirkende dominante Erinnerungsmuster an die Person Rathenaus vor, das mit den zwei Bezeichnungen „Schutzheiliger der Demokratie“ oder „erstes Opfer der Nazis“ pointiert umrissen werden kann. Wirths Rede zeigt, dass die Republik im Hinblick auf den Rathenau-Mord in Milieus, in „Lager“, in „Gedächtniskollektive“ (Dan Diner) zerfallen war. Dieses im europäischen Vergleich in Deutschland besonders hervorstechende Merkmal innergesellschaftlicher Partikularisierung trug wesentlich mit zum Untergang der Weimarer Republik bei, bekannten sich doch breite Kreise der Gesellschaft nicht zur pluralistischen Demokratie, nicht zu einem „westlichen Wertekanon“, zu dem Deutschland erst ab 1945 finden sollte.

Vielleicht war die Zeit direkt nach dem Rathenau-Mord eine der letzten, in der sich die Einheit des republikanischen Lagers zeigte. Noch am Tag der Rede Wirths verfügte der Reichspräsident mittels des Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung die Einrichtung einer „Verordnung zum Schutze der Republik“, die auch die Schaffung eines „Staatsgerichtshofs zum Schutze der Republik“ vorsah, der Angriffe auf die Republik ahnden sollte.

Joseph Wirth kam auf das Thema Rathenau immer wieder zurück, nicht nur in seinen Redebeiträgen im Reichstag während der nächsten Tage,[2] sondern auch bei Gedenkveranstaltungen oder in Gedenkschriften republikanischer Kreise zum Todestag Walther Rathenaus[3] ebenso wie im vor den Nationalsozialisten gesuchten Exil[4] oder in westdeutschen Debatten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, in denen der nun politisch stärker nach links orientierte Wirth Rathenaus Unterschrift in Rapallo 1922 als traditionsbildend für eine „friedliche Koexistenz“ von UdSSR und Bundesrepublik in den Zeiten des Kalten Krieges ansah.

  1. Vgl. BArch Koblenz Nl 1342, russ. Teil, Fond 600, Opis 1, Delo 181, Bll. 46-48, 52-54.
  2. Vgl. die Beiträge Wirths in den weiteren Sitzungen des Reichstags am 24., 25. und 27. Juni 1922.
  3. Vgl. z.B. Joseph Wirth, Ein Brief. In: Stefan Grossmann, Das Tagebuch. Walther Rathenau-Heft. Berlin 16. Juni 1923, Berlin 1923, S. 850-856; BArch Koblenz Nl 1342 (dt. Teil) A. 119, o.P. – Joseph Wirth, Rede im Rathenau-Haus, 1930.
  4. Vgl. BArch Koblenz Nl 1342 (dt. Teil), A. 38, o.P., Joseph Wirth, Äußerungen, 1938.

[Русская версия отсутствует]