Einführung:Transitabkommen

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von: Peter Joachim Lapp, 2011


Das Transitabkommen von 1971, das Anfang Juni 1972 in Kraft trat, war der Wellenbrecher des Status quo im geteilten Deutschland und der entscheidende Türöffner für weitergehende deutsch-deutsche Verhandlungen, auch wenn die CDU/CSU-Opposition und eine starke Minderheit in der Bundesrepublik dies damals anders sahen. Es war eine beachtliche Leistung der sozial-liberalen Regierung Brandt/Scheel, die Westalliierten und die UdSSR überhaupt zu Fragen des Berlintransits an einen Tisch zu bringen, da für diese kein Handlungsbedarf bestand: Der Zugang zu (West-)Berlin auf dem Landweg war für die USA, für Großbritannien und Frankreich seit dem Jessup-Malik-Abkommen von 1949 praktisch geregelt, die UdSSR betrachtete Westberlin als eigenständiges politisches Gebilde und hielt am Status quo fest, wozu die Teilung Deutschlands einschließlich seiner Hauptstadt gehörte. Die vier Siegermächte des 2. Weltkrieges waren Ende der 1960er / Anfang der 1970er Jahre im Gegensatz zu den „Eingeborenen“ (Egon Bahr) kaum an einer Verbesserung der Lebensfähigkeit und Lebensqualität West-Berlins und seiner Bürger interessiert. Die damalige Situation konnte keinen Patrioten zufrieden stellen, in allen Parteien gab es „Gesamtdeutsche“, die den Stillstand der Bemühungen um eine deutsche Wiedervereinigung kritisierten, aktuell aber zunächst einmal Verbesserungen im Berlin-Verkehr forderten.

Seit dem 13. August 1961, dem Tag des Mauerbaus, entwickelten sich aber auch deutschlandpolitische Vorstellungen, die eher auf ein dauerhaftes Nebeneinander von zwei Staaten in Deutschland als auf eine künftige Einheit setzten. Diese Kräfte wollten die Teilung für die Bürger im Westen in angenehmer Form erlebbar machen und das Wiedervereinigungsgebot des Bonner Grundgesetzes de facto abschaffen. Dass das Selbstbestimmungsrecht auch den Deutschen in Ost und West zustand, blendete man aus. Rechtlich hatten zwar die vier Siegermächte das Sagen in gesamtdeutschen Fragen, doch versteckten sich nicht alle hinter dieser Formel: Westberliner bzw. westdeutsche Politiker kamen nach dem Berliner Mauerbau zu neuen und eigenständigen Ansichten in den deutschen Angelegenheiten, so unter anderem Egon Bahr mit seinen Ideen eines Wandels durch Annäherung. Letztlich führten diese und andere Überlegungen und Pläne im Ergebnis zur staatlichen Anerkennung der DDR durch Bonn, die Willy Brandt 1969 in seiner Regierungserklärung aussprach. Mit dem ausdrücklichen Vorbehalt, dass die beiden deutschen Staaten füreinander nicht Ausland sein konnten. Einem Neben- und Miteinander beider Staaten in Deutschland, wie es die sozial-liberale Koalition ab 1969 anstrebte, stand dabei das Berlin-Problem massiv im Wege.

Der offiziellen DDR war die Existenz West-Berlins inmitten ihres Staates zutiefst zuwider und ihre Führung hatte in der Vergangenheit nahezu alle Aktionen unterstützt, die die Lebensfähigkeit der Teilstadt beeinträchtigten. Die Hardliner um SED-Chef Walter Ulbricht betrachteten die Westsektoren der geteilten Stadt sogar zeitweise als die – so wörtlich – westlichen Vororte der Hauptstadt der DDR. Jede Anbindung West-Berlins an das Rechtssystem der Bundesrepublik lehnte Ost-Berlin strikt ab. Und weigerte sich 1969/70 zunächst, der Bundesregierung für die anstehenden Verhandlungen ein Mandat für West-Berlin zuzugestehen; stattdessen wollte man separate Gespräche über den Transit mit Vertretern des West-Berliner Senats führen. Es bedurfte des mehr oder weniger sanften Drucks des „Großen Bruders“ in Moskau, um diese Position aufzugeben. Zum Ärger Ulbrichts zeigte sich die sowjetische KP-Führung bereit, die Vertretungsvollmacht Bonns für West-Berlin zu akzeptieren und schließlich sogar im Berliner Vier-Mächte-Abkommen die Bindungen der Teilstadt an die Bundesrepublik ausdrücklich anzuerkennen.

Die Berlin-Regelung, 1970/71 ausgehandelt von Egon Bahr (SPD) und Michael Kohl (SED), beendete den rechtsfreien Raum für den zivilen Verkehr von und nach Berlin (West) für Deutsche aus der Bundesrepublik und aus Westberlin. Das Abkommen beendete damit auch die zahlreichen Behinderungen des Personen- und Warenverkehrs auf den Transitstrecken, die es bis dahin – je nach politischer Wetterlage – immer wieder gegeben hatte. Mit Inkrafttreten der Vereinbarung wurde es berechenbar, die Transitwege durch die DDR zu benutzen. Unausgesprochen war mit dem Vertrag das Eingeständnis der amtlichen DDR verbunden, über den Berlin-Zugang nicht mehr die volle Souveränität zu haben, eine Missbrauchsklausel des Vertrags räumte den DDR-Behörden lediglich das Recht ein, im Ausnahmefall Verdachtskontrollen an den Grenzübergängen vorzunehmen, um versteckte Flüchtlinge in Kraftfahrzeugen aufzuspüren. Ferner war es möglich, Bundesbürgern und West-Berlinern die Transitnutzung zu verweigern. Auch Festnahmen auf den Transitstrecken waren nicht völlig ausgeschlossen und kamen vor, allerdings verfuhr die DDR dabei unter dem Strich sehr zurückhaltend. In einer deutsch-deutschen Transitkommission wurden die entsprechenden Vorkommnisse erörtert und mehrheitlich geklärt. Einzelne Westbürger verstarben in den DDR-Grenzübergangsstellen an der innerdeutschen Grenze und im Berliner Raum, wobei ein Fremdverschulden auf Grund schikanöser Behandlung und Verhöre durch MfS-Passkontrolleinheiten nicht ausgeschlossen werden konnte. Insgesamt aber galt: Wer die Transitwege durch die DDR ab 1972 benutzte, konnte sicher sein, dass er in Westdeutschland bzw. Westberlin auch ankam.

Mit der stark ansteigenden Anzahl an Reisenden auf den Transitstrecken –1972 waren es bereits 11 Millionen – ergaben sich für die DDR-Behörden Probleme bei der Überwachung der Wege von und nach Berlin, da gerade in den ersten Jahren Hunderte von DDR-Bürgern den grundsätzlich kontrollfreien Transitverkehr zur Flucht in den Westen nutzten. Das MfS, vertraglich verpflichtet, in der Regel nur Identitätskontrollen vorzunehmen, konnte dem kaum entgegentreten, ohne gegen die vertraglich garantierte, schnelle und unkomplizierte Abfertigungspraxis im „spezifischen“ (Berlin-)Transitverkehr zu verstoßen. Zeitweise häuften sich DDR-Beschwerden über angebliche und tatsächliche Unterstützung der Fluchthilfe durch westliche Dienststellen. Aus westlicher Sicht war diese nicht unmoralisch oder gar strafbar, konnte also vom Westen nicht unterbunden werden, obwohl die politisch Verantwortlichen in der sozial-liberalen Koalition die Vorgänge missbilligten. Aber schließlich konnte es nicht Aufgabe westlicher Behörden sein, den „Arbeiter-und-Bauern-Staat“ bei der Bekämpfung und Kriminalisierung der Fluchthilfe und ihrer Nutzer zu unterstützen; die DDR musste mit ihren „Transitflüchtlingen“ schon allein fertig werden. Das versuchte sie mit einer aufwändigen Überwachung der Transitstrecken durch haupt- und nebenamtliche Mitarbeiter des MfS, der Volkspolizei und des Zolls, die an das Regime im DDR-Grenzgebiet erinnerte, sowie mit drakonischen Haftstrafen gegen Flüchtlinge, vor allem aber gegen Mitglieder der ideellen und kommerziellen westlichen Helferorganisationen (DDR: „Menschenhändler“). Nach einigen Jahren erlaubte der SED-Staat dann den Freikauf der Verurteilten durch Bonn.

Das Transitabkommen war zeitlich nicht befristet, sollte also so lange gelten, wie die unnatürliche deutsche Teilung bestand. Die offizielle DDR kassierte Hunderte von Millionen an Transitgebühren, die immer weiter angehoben wurden. Ihrem seit Anfang der 1980er Jahre völlig desolaten Staatshaushalt haben diese Summen sicher genützt, führten aber im Ergebnis zu einer gewissen Abhängigkeit von diesen Westzahlungen und zu einer Art Wohlverhalten auf den Transitstrecken. Denn souverän war die DDR auf ihren Transitwegen von und nach Berlin (West) seit dem Abkommen von 1971, wie gesagt, nicht mehr, was vor allem ihren MfS-Sicherheitsleuten schlaflose Nächte bereitete, die diese Strecken intern als „Rollbahnen des Klassenfeindes“ bezeichneten. Neben den Fluchtmöglichkeiten machten ihnen „Kontaktaufnahmen“ zwischen Westbürgern und DDR-Einwohnern, die auf und an Raststätten und Parkplätzen der Transitwege stattfanden, zunehmend Sorgen. Hier kam es in zahlreichen Fällen zu Waren- und Geldübergaben, die laut Transitabkommen illegal waren.

Ärger in den Führungsetagen von SED und MfS löste auch die Tatsache aus, dass die schlecht bezahlten Angehörigen der „Transitgruppen“ der Volkspolizei, die die Strecken und ihre Benutzer überwachen sollten, häufiger Geschenke von Westberlinern und Bundesbürgern annahmen. Bedienstete des MfS, der Volkspolizei und des Zolls sowie inoffizielle Mitarbeiter (IM) des MfS an und auf den Transitwegen hatten alle „illegalen“ Vorgänge zu melden; diese Kräfte konzentrierten sich verdeckt in Autobahnraststätten, Tankstellen und Straßenmeistereien sowie auf Parkplätzen. Als besonders kosten- und arbeitsaufwändig – abgesehen von den gesundheitlichen Gefahren vor allem für das Bedienungspersonal – erwiesen sich für die DDR die ab Anfang der 1980er Jahre an allen größeren Grenzübergangsstellen installierten Cäsium-137-Anlagen, die bei der Grenzkontrolle im Ausreisebereich alle Fahrzeuge mit „Gammastrahlen“ durchleuchteten, um Flüchtlinge aufzuspüren.

Insgesamt bedeutete das Transitabkommen von 1971 für Westberliner und viele Westdeutsche einen Gewinn an Lebensqualität, weil es einige Folgen der deutschen Teilung milderte. Darüber hinaus entwickelte sich bei einer Mehrheit der Deutschen in Ost und West die Überzeugung, dass der korridorähnliche Zustand (Egon Bahr) der Strecken zwischen Westberlin und der Bundesrepublik nicht die letzte Antwort der Geschichte sein könne und dass die deutsche Frage nach wie vor einer Lösung bedürfe, um diese positive, aber doch erkennbar provisorische Berlin-Regelung zwischen den beiden deutschen Teilstaaten unterschiedlicher Legitimität unter Aufsicht der alten Siegermächte über Deutschland eines Tages durch eine friedliche, selbstbestimmte Einheit des Landes zu beenden.

Dass das Transitabkommen von 1971 und die deutsch-deutschen Folgeverträge letztlich zur deutschen Einheit führten, wie heute nicht selten behauptet, darf getrost als politische Lyrik eingestuft werden; hier wird Zeitgeschichte aus aktuellen parteipolitischen Erwägungen umgedeutet. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass diejenigen, die für die deutsch-deutschen Verträge maßgeblich Verantwortung trugen, sich in den 1980er Jahren von allen Forderungen nach einer deutschen Wiedervereinigung verabschiedeten, was seit 1989/90 von diesen Politikern weitgehend ausgeblendet wird. Unstrittig scheint zu sein, dass die Verträge zwischen der Bundesrepublik und der DDR von 1971/72 mehr oder weniger ungewollt das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen stärkten und damit den Weg zur deutschen Einheit erleichterten. Eine wissenschaftliche Darstellung der Praktiken und Geschehnisse auf den Transitwegen von und nach Berlin (West) zwischen 1972 und 1990, die die „Besonderen Vorkommnisse“ (z. B. Missbrauch; Einreisesperren) und auch die Verhandlungen in der deutsch-deutschen Transitkommission thematisieren und analysieren müsste, fehlt bislang.


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