Mitteilung der Pressestelle des Ministeriums für Post- und Fernmeldewesen der DDR [Sputnik-Verbot], 19. November 1988
Einleitung
Versteckt auf Seite 2, sorgte das SED-Zentralorgan Neues Deutschland in seiner Wochenendausgabe vom 19./20. November 1988 für einen Eklat mit weitreichenden Folgen. Unter der Überschrift "Mitteilung der Pressestelle des Ministeriums für Post- und Fernmeldewesen" hieß es: "Berlin (ADN). Wie die Pressestelle des Ministeriums für Post- und Fernmeldewesen mitteilt, ist die Zeitschrift 'Sputnik' von der Postzeitungsliste gestrichen worden. Sie bringt keinen Beitrag, der der Festigung der deutsch-sowjetischen Freundschaft dient, statt dessen verzerrende Beiträge zur Geschichte." In einer internen Information der MfS-Hauptabteilung XIX (Verkehr, Post, Nachrichtenwesen) vom 3. Oktober 1988 zur "Sicherstellung" des Sputniks wurde behauptet, dass das Presseamt des Ministerrates am 30. September entschieden habe, die Zeitschrift nicht auszuliefern. Tatsächlich ordnete dies jedoch der SED-Generalsekretär Erich Honecker an, der auch persönlich den Text der ADN-Meldung verfasste. Dies bestätigte der für die Anleitung der Medien zuständige ZK-Sekretär, das Politbüromitglied Joachim Herrmann. Er wurde am 17. Januar 1990 bei seiner Vernehmung vor dem Untersuchungsausschuss der Volkskammer gefragt, wer für die Lüge verantwortlich sei, der Postminister habe den Sputnik von der Postzeitungsliste gestrichen. Herrmanns lakonische Antwort lautete: "Das sind dann zwei, der, der sie diktiert hat [gemeint ist Honecker], und der – Letzterer bin ich –, der sie an ADN weitergeleitet hat." (Neues Deutschland, 27./28. Januar 1990). Nach der "Wende" ließ der Postminister Rudolph Schulze (CDU) durch seinen Sprecher erklären, dass er erst aus dem Neuen Deutschland von dem Verbot erfahren habe.
Der Sputnik, seit 1967 herausgegeben von der sowjetischen Auslandspresseagentur Nowosti, erschien als Monatszeitschrift in sieben Sprachen in einer Gesamtauflage von etwa einer Million Exemplaren. Die Deutsche Post der DDR vertrieb davon ca. 130.000 im Abonnement und ca. 60.000 im Einzelverkauf. Der Leserkreis in der DDR war natürlich weit größer. Denn die dem Reader’s Digest nachempfundene Zeitschrift mit ausgewählten Beiträgen aus sowjetischen Zeitungen und Zeitschriften erfreute sich wegen ihrer bunten Mischung aus Reiseberichten, Kochrezepten, Kreuzworträtseln, kulturellen und populärwissenschaftlichen Beiträgen eines großen Zuspruchs. Seit Mitte der 1980er Jahre konnte man sich im Sputnik außerdem aus erster Hand über die zwei Pfeiler der Reformpolitik Gorbatschows informieren – die Perestroika (Umgestaltung und Modernisierung der Gesellschaft) und Glasnost (Gewährung der Presse- und Meinungsfreiheit). Glasnost ermöglichte den Medien die schonungslose Aufarbeitung der stalinistischen Vergangenheit der Sowjetunion.
Den Themenschwerpunkt der "sichergestellten" Sputnik-Ausgabe bildete "Stalin und der Krieg" – versinnbildlicht auf der Titelseite durch einen Ausschnitt aus dem Gemälde "Löwenzahn" von Pjotr Below, auf dem die von Stalin bevorzugten Stiefel im Fokus stehen. Die Autoren rechneten mit Stalins Fehlern, Versäumnissen und Verbrechen vor und während des Zweiten Weltkrieges ab. Dazu gehörten die Liquidierung von erfahrenen Generälen im Zuge des "Großen Terrors", der Abschluss des Freundschaftsvertrages mit Deutschland im September 1939, Stalins Ignorierung der zutreffenden geheimdienstlichen Hinweise über den deutschen Angriffstermin am 22. Juni 1941 oder seine unzureichende Unterstützung der Partisanenbewegung. Fazit: Anders als es damals noch in den Lehrbüchern stand, sei der "Große Vaterländische Krieg" nicht dank Stalin, sondern trotz Stalin gewonnen worden.
Ausschlaggebend für den Zornesausbruch der Altkommunisten in der SED-Führung dürfte jedoch in erster Linie die für sie provokante Frage gewesen sein: "Hätte es ohne Stalin Hitler gegeben?" Beantwortet wurde dies mit einer plausiblen Hypothese: Hätten sich in Deutschland vor 1933 die Kommunisten mit den Sozialdemokraten im Kampf gegen die Nazis verbündet, hätte Hitler die Reichtagswahlen nicht gewonnen und die Geschichte wäre höchstwahrscheinlich anders verlaufen. Weil aber Stalin die Sozialdemokraten als "Sozialfaschisten" diffamierte, konnte die den Moskauer Weisungen unterliegende KPD mit ihnen kein Bündnis eingehen.
Die ADN-Meldung über das Vertriebsverbot des Sputniks dürfte im Postministerium mit Erleichterung aufgenommen worden sein, denn jetzt war jedermann klar, wo die Verantwortlichen dafür zu suchen waren. In den folgenden Monaten erreichten das SED-Zentralkomitee, die FDJ, die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, das Presseamt, die Zeitungsredaktionen sowie andere staatliche und gesellschaftliche Institutionen Tausende von Eingaben und Beschwerden aus Betrieben, Universitäten, Schulen und von Einzelpersonen. Darunter befanden sich sogar Stasi-Offiziere. Die Einzel- und Kollektiveingaben enthielten – signifikant für die Endzeit des SED-Regimes – kaum noch die üblichen "parteilichen" Rückversicherungsklauseln, obwohl sie zu einem erheblichen Teil aus der Feder von SED-Mitgliedern stammten. Soweit man allzu drastisch formulierte Eingaben nicht an das MfS zur weiteren "Bearbeitung" abgab, erhielten die Einsender standardisierte Antworten – in der Regel mit Verweis auf einen ND-Leitartikel vom 25. November 1988, der unter der Überschrift "Gegen die Entstellung der historischen Wahrheit" eine scharfe Polemik gegen die unzumutbare "verzerrte Darstellungen der geschichtlichen Leistung des Sowjetvolkes" in der DDR verbreitete. Der Verfasser dieses Artikels, der stellvertretende ND-Chefredakteur Hajo Herbell, meldete sich elf Monate später, am 24. Oktober 1989, zum gleichen Thema reumütig im SED-Zentralorgan zu Wort: "Interessantes über die sowjetischen Erfahrungen kann man übrigens auch in Zeitschriften aus der UdSSR finden. Es wird deshalb auch allgemein begrüßt, daß der 'Sputnik' wieder in Umlauf kommt. Sein zeitweiliges Verschwinden von der Postzeitungsliste war eine Episode, die die mündigen Bürger der DDR, die sich als Freunde des Sowjetlandes verstehen, nicht begreifen konnten – ein Punkt, aus dem auch der Autor dieser Zeilen Lehren zieht."
Im Herbst 1988 empfahl man Beschwerdeführern die gründliche Lektüre von Herbells ND-Artikel. Ein Beispiel dafür findet sich in einer Antwort des Presseamtes vom 29. Dezember 1988 auf eine Eingabe des Direktors, des Parteisekretärs und des Fachlehrers für Staatsbürgerkunde der Erweiterten Spezialoberschule "Georg Thiele" in Kleinmachnow. Sie beklagten sich darüber, dass die "politisch-erzieherische Arbeit unter den Schülern" in bestimmten Punkten unglaubwürdig werde, wenn man ohne öffentliche Erklärung und Begründung Presseerzeugnisse zurückhalte und dadurch das Entstehen von Gerüchten fördere. In der Antwort des Presseamtes hieß es dazu: "Wir könnten uns vorstellen, daß Sie inzwischen bei nochmaliger Beschäftigung vor allem mit dem Kommentar im ‚Neuen Deutschland‘ vom 25. 11. 1988 doch noch zu einer anderen Entscheidung gelangt sind." Mit einigen Beschwerdeführern vereinbarte man auch persönliche Beschwichtigungsgespräche. Von anfänglich veranstalteten Partei- und Betriebsversammlungen wurde schnell Abstand genommen, weil die Parteisekretäre nicht in der Lage waren, die aufgeheizte Stimmung mit Argumenten zu entschärfen. Wenig hilfreich war hierzu Honeckers Bemerkung auf der SED-ZK-Tagung am 1. Dezember, man dürfe sich nicht von dem "Gequake wildgewordener Spießer" ablenken lassen, die die Geschichte der Sowjetunion im bürgerlichen Sinne umschreiben wollten.
Ein realistisches Bild über das Ausmaß der allgemeinen Unzufriedenheit vermittelt ein Bericht der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) im Ministerium für Staatsicherheit (MfS) vom 30. November 1988 unter der Überschrift: "HINWEISE zu einigen bedeutsamen Aspekten der Reaktion der Bevölkerung im Zusammenhang mit der Mitteilung über die Streichung der Zeitschrift 'SPUTNIK' von der Postzeitungsvertriebsliste". Eingangs betonten die Verfasser, es habe kaum Meinungs- und Argumentationsunterschiede zwischen SED-Mitgliedern und Parteilosen gegeben. Sie stellten fest, die Mehrzahl der Meinungsäußerungen widerspiegele Unverständnis bis hin zu prinzipieller Ablehnung des Verbots. In diesem Sinne hätten sich besonders heftig und teilweise außerordentlich aggressiv Angehörige der technischen, medizinischen, künstlerischen und pädagogischen Intelligenz sowie Studenten an allen Hochschulen geäußert. Das Verbot werde selbst von "progressiv und gesellschaftlich" engagierten Bürgern zum Anlass einer erneuten generellen Kritik an der Informationspolitik genommen. Als hauptsächliches Gegenargument werde die Entmündigung der Bevölkerung ins Feld geführt. Auch "progressive Kräfte", gemeint sind damit zuverlässige Genossen, aus der Wissenschaft hielten die Entscheidung nicht mehr für zeitgemäß, denn es gäbe in der DDR eine Vielzahl befähigter Historiker, "die eine überzeugende Auseinandersetzung mit falschen Auffassungen hätten führen können."
Der ZAIG-Bericht enthielt einen Katalog der registrierten Protestaktionen, der von Austritten aus der SED und der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft bis zur Verbreitung von Flugblättern und dem Anbringen von Losungen wie "Sputnik Pressefreiheit jetzt" oder "Honey rück den Sputnik raus" reichte.
Schon vor dem Sputnik-Verbot wurden stillschweigend sowjetische Filme aus dem Verleih genommen. Auch Ausgaben der sowjetischen Zeitschrift Neue Zeit, der Budapester Rundschau und der Prager Volkszeitung waren auf den Index gekommen, doch "erst die kraftmeierische Pose des öffentlich verkündeten Verbots einer Publikation aus der UdSSR, verbunden mit der duckmäuserischen Verlogenheit der äußeren Form seiner Bekanntmachung, löste den Proteststurm aus." (Wolle) Ein Jahr darauf musste das SED-Regime den Protagonisten der friedlichen Revolution weichen. Sie gelang auch deshalb friedlich, weil die Verbitterung in den eigenen Reihen seit der Verkündung des Sputnik-Verbots nicht mehr einzudämmen war.
Gunter Holzweißig