SS-Befehl – A – Nr. 65 [Verlobungs- und Heiratsbefehl der SS], 31. Dezember 1931

Einleitung

In den 1990er Jahren war es zunächst die sog. neue Täterforschung, die den Blick über den Kreis der prominenten Naziführer hinaus auf die vielen hunderttausend Deutschen lenkte, die unmittelbar Mitschuld an den NS-Verbrechen, allen voran an der planmäßigen Ermordung der europäischen Juden, trugen. Darüber hinaus wandte sich die sozialgeschichtliche Forschung verstärkt der Frage zu, warum offensichtlich Millionen dem Charisma des "Führers" erlagen, dadurch seine "Machtergreifung" ermöglichten und ihm willig bis in den Untergang des Dritten Reiches folgten, während nur eine kleine Minderheit den Mut hatte, Widerstand zu leisten. Eine weitere Forschungsströmung untersucht die NSDAP, ihre Gliederungen und Verbände neuerdings nicht mehr allein als Herrschaftsinstrumente, sondern analysiert sie auch in ihrer Funktion als Bindeglieder zwischen der Parteispitze und der deutschen "Volksgemeinschaft". Diese historische Doppelfunktion fällt bei der Schutzstaffel in besonderem Maße ins Auge: Sie war sowohl Dachorganisation des Sicherheitsdienstes, der KZ-Wächter, der Gestapo und der Einsatzgruppen, als auch Brücke zur Massenbasis von über 200.000 deutschen Männern, die freiwillig Dienst in der SS taten.

Bis ca. 1930 gab es nahezu keinen Unterschied zwischen der SS und der ungleich größeren SA, deren Führung die SS seit 1926 unterstand. Erst als sich die SS in den beiden sog. Stennes-Revolten von 1930 und 1931, in denen ein Teil der SA gegen den "Legalitätskurs" Hitlers und die Dominanz der politischen Organisation der NSDAP revoltierte, bedingungslos gegen die Abtrünnigen und hinter die Parteiführung stellte, begann sie eine Sonderidentität auszuprägen. Dieser verlieh der Reichsführer der SS, Heinrich Himmler, mit seinem Heiratsbefehl vom 31. Dezember 1931 explizit Ausdruck. Der Text, dessen eigentlicher Inhalt sich in zwei bis drei Sätzen zusammenfassen ließe, war viel mehr als ein sachlicher Befehl. Zum einen wies er bereits rein äußerlich darüber hinaus. In der Form von zehn Geboten gehalten, weckte er Assoziationen zum biblischen Dekalog und erhob damit Anspruch auf unhintergehbare, kollektive und zeitübergreifende Gültigkeit. Zum anderen wählte Himmler als Erlassdatum den 31. Dezember, also den Übergang vom alten zum neuen Jahr, der später von der SS als Julfest in ritualisierter Form begangen wurde. In allen späteren SS-eigenen Sammlungen von "Grundgesetzen" der Schutzstaffel stand der Heiratsbefehl an erster Stelle.

Sein einleitender Satz bot eine doppelte Definition der SS: Erstens sollte sie ein "ausgewählter Verband" sein und gegenüber der wachsenden Zahl der NS-Organisationen eine Elitestellung einnehmen. Zweitens hatten die "Auserwählten" nur aus "deutschen nordisch-bestimmten Männern" zu bestehen. Mit diesem Bekenntnis zur "nordischen Lehre", die Hans F. K. Günther und andere deutsche Rassetheoretiker als Sonderform des Arierkults propagierten, definierte sich die SS als rassistische Organisation. Der "Blutsgedanke" wurde damit zum Kern ihres Selbstverständnisses. Im zweiten und dritten Satz konkretisierte sich das in Richtung eines Zuchtprojekts: Die "nordischen" Männer der SS sollten sich nur mit ebenso ausgewählten Frauen fortpflanzen. Der auf diese Weise entstehende "Sippenverband", so die Hoffnung, würde künftig Garant zur "Aufnordung" des angeblich von rassischer Degeneration bedrohten deutschen Volks werden.

Zu diesem Zweck kündigte der Heiratsbefehl bereits ein systematisches, im neu zu schaffenden "Rasseamt" institutionalisiertes und strafbewehrtes Umsetzungsverfahren an. Damit ging die SS nicht nur über die in der Weimarer Republik durchaus üblichen theoretischen Planspiele der rassistischen Splittergrüppchen hinaus. Sie definierte sich sogar als explizit aktivistische Organisation, die als erste schon vor der "Machtergreifung" den Schritt vom "Rassegedanken […] zur Rassetat" wagte, wie das Richard Walther Darré, der führende "Blut-und-Boden-Experte" des Nationalsozialismus und erste Chef dieses "Rasseamtes", 1932 in einem privaten Schreiben ausgedrückt hat.

Die eigentliche Verwirklichung des Plans begann circa 1934/35, nachdem das "Rasseamt" "Rassereferenten" in allen Oberabschnitten der SS eingesetzt hatte und die Behörde selbst zum "Rasse- und Siedlungshauptamt" aufgewertet worden war. Sowohl neue SS-Rekruten als auch angehende Verlobte von SS-Angehörigen mussten bis 1939 in Zehntausenden von Fällen ein aufwendiges Prüfungsverfahren über sich ergehen lassen. Sie wurden von den Ärzten und Rasseprüfern der SS untersucht, mussten mögliche erbbiologische "Mängel" ihrer Verwandtschaft denunzieren, und schließlich urkundlich belegen, dass keiner ihrer Vorfahren bis zurück zum Jahr 1800 Jude war. Obwohl diese neue Praxis von zahlreichen Kompromissen relativiert wurde – u.a. der Tatsache, dass man die über 200.000 Männer, die bereits zur SS gehörten, nicht nach den gleichen strengen Kriterien nachmusterte –, stellte der hier betriebene Aufwand doch den Willen der SS unter Beweis, ihren verstiegenen Rassismus in die Praxis umzusetzen.

Der Heiratsbefehl stellte zudem einen wichtigen Schritt der SS in Richtung einer im wahrsten Sinn des Wortes totalitären Organisation dar, die ihre Mitglieder nicht nur politisch mobilisierte, sondern ganzheitlich erfasste. So eröffnete die Anweisung den SS-Führern die Möglichkeit, sich in die Ehe, das Sexualleben bzw. das Fortpflanzungsverhalten der ihnen untergebenen Männer einzumischen. Die Notwendigkeit, die SS-Angehörigen von der Sinnhaftigkeit des Heiratsgenehmigungsverfahrens zu überzeugen, bildete den Ausgangspunkt der umfassenden "dienstlichen Schulung" der SS, die ebenfalls zunächst im Rasse- und Siedlungshauptamt organisiert wurde und eine SS-spezifische Lebenshaltung zu vermitteln suchte. Schließlich wurden die SS-Männer und ihre Familien in eine feste Abfolge von Ritualen eingebunden. Sie strukturierten nicht nur den Jahresablauf der SS-Angehörigen über die allgemeinen NS-Feste hinaus. Als zentrale Zäsuren prägten sie auch den persönlichen Lebenslauf der Männer (Überführung von der HJ in die SS, Vereidigung auf Hitler, Eheweihen). Hierzu wurden jeweils nachgerade liturgische Vorgaben vor allem im Rasse- und Siedlungshauptamt entwickelt, bei deren Durchsicht die Deutung des Nationalsozialismus als politische Religion an Plausibilität gewinnt.

Nach der Ernennung Himmlers zum Chef der deutschen Polizei 1936 und dann vor allem im Zweiten Weltkrieg wurde diese totalitäre Organisation in zunehmendem Maße in den Dienst der "Ausmerze" gestellt. Jetzt füllten zur SS gehörende Gestapo- und Polizeibeamte die Konzentrationslager nicht mehr nur mit politischen Gegnern, sondern mit allen, die nicht in die Gesellschaftsutopie des Nationalsozialismus passten, also mit "Asozialen", "Zigeunern", Homosexuellen und immer mehr auch mit Juden. In den besetzten Gebieten Mittel- und Osteuropas selektierten die im Heiratsverfahren geschulten "Rasseprüfer" der SS das "wertvolle Blut", das sie "eindeutschen" wollten, von all jenen, die sie als minderwertig empfanden und zur Versklavung bzw. Vernichtung freigaben. Spätestens mit dieser Vorgehensweise vollzog die SS den Zivilisationsbruch und reservierte sich so den unrühmlichen Platz in der Geschichte, den ihr Himmler schon im trotzigen letzten Satz des Heiratsbefehls vom 31. Dezember 1931 zugewiesen hatte.

Bastian Hein