Aleksej Radakov, "Die Analphabeten und die Lesekundigen". Plakat, Petrograd 1920

Einleitung

Die rechtliche Grundlage für die Umsetzung der Alphabetisierung der Bevölkerung bildete das "Dekret des Rates der Volkskommissare (SNK) über die Liquidierung des Analphabe-tentums unter der Bevölkerung der RSFSR" vom 26. Dezember 1919. Dabei stellte die Alphabetisierung kein singuläres Phänomen dar, sondern war in eine Vielzahl von Maß-nahmen der von Lenin geforderten "Kulturrevolution" eingebettet. Dazu gehörten: die Trennung des Staates von der Kirche; die Einführung der Zivilehe, die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie die Gleichstellung ehelicher und unehelicher Kinder, die Frei-gabe der Abtreibung und die neue Rolle der Familie, die durch das "Arbeitskollektiv" er-setzt werden sollte.

Der flächendeckende Einsatz von Plakaten zur Agitation und Propaganda begann gleich nach der Oktoberrevolution – sie wurden von über 450 Institutionen veröffentlicht. Die Bolschewiki setzten das Medium des politischen Plakates als Propagandamittel an so exponierter Stelle ein, weil durch dieses Medium eine Vielzahl von Adressaten kostengünstig erreicht werden konnte, wobei bei den Rezipienten nicht einmal eine Lesekompetenz vorausgesetzt werden mußte. An der Bild- und Textgestaltung der Plakate wirkten neben führenden Vertretern der russischen Avantgarde – wie etwa A. Apsit, V. Lebedev, und berühmten Dichtern wie V. Majakovskij, A. Blok und D. Bednyj – auch viele unbekannte Künstler und Literaten mit. Die Aufteilung der Themen in die Kategorien Politik, Krieg, Wirtschaft und Bildung/Kultur zwischen 1918 und 1921 zeigt, daß Bildung/Kultur rund 13%, Politik und Wirtschaft rund ca. 26-27% und das Thema Krieg rund 32% der Plakate ausmachte (Butnik-Siverskij). An einer Vielzahl von Plakaten, die im Rahmen der Aphabetisierungskampagne herausgegeben wurden, wird deutlich, daß die Bolschewiki ihr einen wichtigen Platz einräumten. Sofern es sich um Text-Bildplakate handelte, waren sie meist so konzipiert, daß die Plakatbotschaft alleine aus dem Bild zu erschließen war. Der Text diente lediglich zur Ergänzung des bereits Visualisierten. Hierbei hatte die Verständlichkeit des Plakats oberste Priorität, da die Adressaten zu einem Großteil Analphabeten waren. Deshalb stammte das Repertoire an Zeichen, die in den Plakaten Verwendung fanden, aus dem dem "visuellen Gedächtnisses" der Bevölkerung, das von Ikonenkunst, den Volksbilderbögern (der sogenannten "lubki") und der aufkommenden Reklame zu Beginn des 20. Jahrhunderts geprägt war. Diese Motive und Farben waren als bekannt vorauszusetzen. In der Regel wurden auf den Plakaten die Vorzüge der Lesekompetenz visualisiert oder in Verbindung mit einem Buch die direkten Folgen im Plakattext verbalisiert.

Die Forderung nach einer literaten Bevölkerung, aber auch, im Hintergrund stehend, nach dem "neuen Menschen" setzt auch das Plakat "Die Analphabeten und die Lesekundigen" ("Bezgramotnye – Gramotnye") von A. Radakov aus dem Jahre 1920 bildlich um, welches sich vorwiegend, aber nicht ausschließlich, an die bäuerliche Bevölkerung wandte. Das Plakat ist in zwei Bilder aufgeteilt, auf beiden ist je ein bäuerliches Ehepaar dargestellt, im oberen sind sie "bezgramotnye", im unteren "gramotnye". Das leseunkundige Ehepaar, in alter Tracht, dünn und ärmlich gekleidet, steht in der Mitte des oberen Bildes. Sie blicken fragend auf ihr verendetes Pferd und ihre kränklichen Tiere, bestehend aus zwei abgema-gerten Ziegen und einem zerrupften Hahn. Auf der rechten Seite befinden sich zwei flache kleine Scheunen, nur zum Teil mit Stroh gedeckt; vor der einen liegen in einem Gemüse-garten nur einige wenige Kohlköpfchen. Auf der linken Seite schlägt gerade der Blitz in ihr kleines mit Stroh gedeckten Haus ein, welches in Flammen aufgeht. Die kaum angelegten Felder sind spärlich mit Getreide bedeckt, und auch der Apfelbaum trägt nur eine kümmer-liche Frucht. Unter dem Bild findet sich folgender Text: "Der Analphabet. Der Analphabet ist wie ein Blinder. Er sieht, daß ihn Unglück und Mißerfolg begleiten, aber er weiß nicht, warum dies geschieht."

Ein ganz gegensätzliches Bild zeigt der untere Teil des Plakates, obwohl die Anordnung dieselbe ist. Das Ehepaar ist gut genährt und in üppiger Bauerntracht gekleidet. Der Bauer hält als Zeichen seiner Lesekompetenz ein Buch in der Hand, in dem er gerade liest. Ihr aus Stein gebautes Haus wird zwar auch vom Blitz getroffen, allerdings verhindert der Blitzableiter ein Feuerfangen des Hauses. Die Scheune ist ein hohes Gebäude und kein Vergleich zu den ärmlichen Gebäuden im obigen Bild. Die ordentlich angelegten Felder stehen in vollem Korn, der Gemüsegarten ist angefüllt mit Kohlköpfen und auch der Ap-felbaum trägt Früchte. Der Hahn, der Bock und das Pferd sind wohlgenährt und kräftig. Unter diesem Bild befindet sich ebenfalls ein Text: "Der Lesekundige. Aber der Lesekun-dige lebt leicht!"

So verspricht das untere Bild Wohlstand und gibt ein konkretes Versprechen für die Zu-kunft: "Und dem Lesekundigen ist ein leichtes Leben!" ("A gramotnomy legko žit'!"). Die beiden Bauernfamilien stehen somit für Vergangenheit und Zukunft des neuen Staates. Die Bolschewiki waren neben den Arbeitern auf die bäuerliche Bevölkerung angewiesen. In-nerhalb derer lag ihr hauptsächliches Interesse vor allem auf den alphabetisierten und da-mit erfolgreichen – also Neuen – Menschen. Mit Hilfe des lesefähigen Menschen sollte der Weg in die Zukunft möglich werden, so die Botschaft des Plakates. Obwohl es sich auf den ersten Blick lediglich an die bäuerliche Bevölkerung richtet, hat es einen größeren Adres-satenkreis. Der an diesem Plakat vorbeigehende Passant, und damit sind alle Bevölke-rungsgruppen – angefangen bei den Arbeitern, Bauern, Frauen, Intellektuellen und Bol-schewiki – gemeint, sieht ein Plakat mit zwei unterschiedlichen Situationen: im obigen Hunger, Unglück, Rückständigkeit, im unteren Wohlstand und Reichtum somit ein glück-liches Leben für den, der fleißig und gebildet – da lesefähig – ist. Der Unterschied wird durch das Buch im Zentrum des unteren Bildes augenfällig. Damit wird dem Passanten veranschaulicht, daß die Lesekompetenz weitreichende Folgen hat, nicht nur für das Ehe-paar auf dem Plakat, sondern auch im übertragenen Sinne für ihn selbst, also für den Rezipienten auf der Straße.

Das Plakat ein Schlüsseldokument sowohl für die Alphabetisierungsbemühungen und die bolschewistische Kulturrevolution: Die Abkehr vom alten und rückständigen Leben und damit die Schaffung eines neuen, zukunftsträchtigen Systems sowie eines Neuen Men-schen, hier vertreten durch das lesekundige, gebildete und erfolgreiche "neue" Bauernehe-paars. Die "Liquidierung des Analphabetentums" bis zum 10. Jahrestag der "Großen Sozia-listischen Oktoberrevolution" sollte, wie A. Lunačarskij im April 1927 dem XIII. Allrußi-schen Sowjetkongreß berichtete, nicht gelingen. Lag die Analphabetenrate bei der Volks-zählung 1926 im Durchschnitt bei 44,4%, so fiel sie zwischen 1939 von unter 12,6% bis 1959 auf unter 1,5% der sowjetischen Bevölkerung (Hildermeier).

Ernst Wawra