Gesellschaftlicher Auftrag an die XIX. Parteikonferenz der KPSS, 5. und 12. Juni 1988

Einführung

Im Mai-Juni 1988 setzten oppositionelle Organisationen, die sogenannten Glossar"informellen Bewegungen", eine neue Welle der Massenkundgebungen in der UdSSR in Gang. Sie dienten dazu, die Bevölkerung auf ihre Ideen aufmerksam zu machen und Druck auf die XIX. GlossarParteikonferenz auszuüben. Zum ersten Mal seit den 1920er Jahren fanden in Moskau, Leningrad und anderen Städten Meetings mit mehreren Tausend Teilnehmern statt, bei denen die Oppositionellen ein breites Spektrum von Ideen – von Glossaranarchistischen bis zu sozial-demokratischen und liberalen – öffentlich darlegten. Die Mitgliederzahlen in den Organisationen der "Informellen" nahmen schnell zu. Im Stadtzentrum von Moskau organisierten die "Informellen" einen "Guidepark", wo soziale und politische Probleme diskutiert wurden. Noch vor kurzem vom GlossarPolitbüro des CK der KPSS als potentielle Gefahr oder lediglich als ein Laborversuch wahrgenommen, wurden die oppositionellen Gruppen jetzt zu einem Faktor der "großen Politik".

Trotz ihres Autonomiestrebens waren die "Informellen" Teil eines großen Systems: "[Sie] handelten nach dem Prinzip 'Reformen von oben auf Druck von unten'. Gab es aber unter diesen Bedingungen eine andere Taktik, die mehr Erfolg gehabt hätte? 1990/1991 war diese Vorgehensweise durchaus gerechtfertigt, weil noch nicht abzusehen war, daß die Elite zur Liberalisierung übergehen würde", meint GlossarB. Kagarlickij.

Es hatte den Anschein, daß der Druck auf die Macht zu Erfolgen führen könnte, wenn die relativ geringen Kräfte der informellen Gruppen gebündelt werden. Deshalb setzte gleichzeitig mit der Meetingkampagne die Zusammenfassung der oppositionellen Bewegungen verschiedener Richtungen in eine breite volksdemokratische Bewegung ein.

Auf Initiative des Direktors des Glossarwissenschaftlichen Forschungsinstituts für KulturGlossarV. Čurbanov, der als Vertreter GlossarA. Jakovlevs, des Führers der "Liberalen" in der GlossarKPSS, agierte, wurde beschlossen, eine Konferenz der "Informellen" einzuberufen, auf der ihre Position geklärt werden sollte. Für die Reformisten in der KPSS war es die Chance, die Lenkung der "Informellen" zu organisieren, um ihr Potential für Reformzwecke zu nutzen. Die "Informellen" dagegen erhofften sich davon eine gemeinsame Struktur, die es schaffen sollte, eine landesweite demokratische Massenbewegung in der UdSSR zu organisieren. Nach dem Beispiel der westeuropäischen Länder der 1930er Jahre und des zeitgenössischen Estland wurde beschlossen, die links-demokratische Organisation "Volksfront" zu nennen. Die Parteiorganisationen unterstützten dieses Unternehmen sehr rege, indem sie erstklassige Säle und den Zugang zur offiziellen Presse zur Verfügung stellen, was eine Bestätigung dafür lieferte, daß die Konferenz von ganz oben sanktioniert wurde.

Zum Anlaß für das Treffen wurde die Ausformulierung des Auftrags für die XIX. Parteikonferenz. Er sollte von allen "konstruktiven" "informellen Gruppen" (mit Ausnahme der gegenüber den GlossarKommunisten unversöhnlichen GlossarDemokratischen Union und der antisemitischen Glossar"Gedächtnis") gemeinsam zusammengestellt und in dem Fall, daß sich die herrschende Partei weigerte, ihn anzunehmen (was abzusehen war), zum Programm der demokratischen Bewegung werden.

Am 5. Juni 1988 wurde das Forum der demokratischen Öffentlichkeit im GlossarPalast der Jugend eröffnet. Nachdem sie von den Erfolgen ihrer Bewegungen berichtet hatte, stritten die "Informellen" darüber, was die Volkfront zu sein habe – eine allgemeindemokratische oder eine sozialistische Organisation. Davon hing auch der Inhalt ihres Programms ab. Die strittigen Positionen spiegelten die komplexen Gegensätze zwischen den oppositionellen Gruppen wieder. Auf der einen Seite standen Gruppen, die die Meetingkampagne in Moskau begonnen hatten – die liberale Gruppierung Glossar"Bürgerwürde" und die sozialistische Glossar"Gemeinde". Sie setzten sich für eine allgemeindemokratische Volksfront ein, an der Menschen mit unterschiedlichen demokratischen Anschauungen mitwirken konnten. Dabei sollte eine unionsweit agierende GlossarFöderation der sozialistischen Gesellschaftsklubs (FSOK) die Interessen der Sozialisten vertreten, die seit 1987 bestand. Sie hatte den Kampf um den Einfluß in der GlossarVolksfront aufzunehmen. In der FSOK wiederum konkurrierte die "Gemeinde", die eine nichtmarxistische sozialistische GlossarVolkstümlerideologie vertrat, mit der sozialistischen Gruppe Glossar"Sozialistische Initiative" unter der Führung von B. Kagarlickij. In dieser Zeit kam es auch zu einem massenhaften Zustrom von neuen Aktivisten in die informelle Bewegung, wobei die Neuen erst vor kurzen mit dem unabhängigen gesellschaftlichen Denken in Berührung gekommen waren und weiterhin nicht nur einfach marxistische, sondern marxistisch-leninstische Anschauungen vertraten. In der FSOK hatten die "Gemeinde"-Anhänger einen größeren Einfluß, in den neuen Gruppen waren dagegen die GlossarMarxisten-Leninisten stärker, zu deren Führer die "Sozialistische Initiative" wurde. Um die endgültige Überlegenheit zu erreichen, beschlossen die Marxisten, die Liberalen loszuwerden, weshalb sie die Volksfront zu einer rein sozialistischen Organisation mit strenger Disziplin erklärten. Bevor man den Beschlüssen der führenden Organe der demokratischen Bewegung Folge leistete, war es wichtig zu bestimmen, wie sie zustande kommen sollten. Die Auseinandersetzungen um die Organisation überlappten sich somit mit den ideologischen Auseinandersetzungen. Am 5. Juni wurden Pläne für ein Bündnis der "Informellen" mit den "liberalen Kommunisten" entworfen.

Die Forumsteilnehmer gingen auseinander. Sie sollten am 12. Juni wieder zusammentreffen, um den "Gesellschaftlichen Auftrag" zu diskutieren, der auf der Grundlage von Abgeordnetenreden zusammengestellt wurde. Für seine Ausformulierung wurde eine redaktionelle Kommission gebildet, die gleichzeitig auch zur Initiativgruppe und später zum GlossarOrganisationskomitee für die Gründung der Moskauer Volksfront (OK MNF) wurde. Zu ihren Mitgliedern gehörten Vertreter von "Gemeinde", "Socialistischer Initiative", "Bürgerwürde", Glossar"Memorial", Glossar"Perestrojka-88", Glossar"Demokratische Perestrojka" und GlossarKlub der sozialen Initiativen. Alle diese Gruppen waren innerhalb der gesellschaftlichen Bewegung bereits gut bekannt. Dann wurde das Organisationskomitee durch Vertreter aller Gruppen der GlossarMoskauer Organisation der FSOK und durch neue Gruppen, die sich während der Massenkundgebungen gebildet hatten, erweitert. Jede Organisation erhielt eine Stimme. Der reale Einfluß und die Mitgliederzahl der Gruppen waren jedoch unterschiedlich. Auch Gruppen aus 2-3 Personen wurden gegründet, die aber nur auf dem Papier bestanden; auf diese Weise wurde es für die eine oder andere Fraktion möglich, eine weitere Stimme im Organisationskomitee zu bekommen.

Am 12. Juni traf man im GlossarKulturhaus der Mitarbeiter der Energiewirtschaft zur Schlußsitzung des Forums zusammen, die den "Gesellschaftlichen Auftrag" zusammenzustellen hatte. Trotz der zahlreichen ideologischen Meinungsverschiedenheiten, die zwischen den Anwesenden im Saal bestanden, gab es am 12. Juni keine erbitterten Auseinandersetzungen. Obwohl die Redner der redaktionellen Kommission in einem recht emotionsgeladenen Ton das Fehlen des einen oder anderen Punktes monierten, der früher angesprochen worden war, trug die Diskussion einen konstruktiven Charakter: Die Redaktionskommission nahm fast alle Vorschläge in den Text auf. Ein Teil davon empfahl Maßnahmen zur Transformation der KPSS in eine Parlamentspartei, ein anderer Teil stellte eine Sammlung von demokratischen und menschenrechtlichen Forderungen dar, die mit der einen oder anderen Modifikation in den Programmen der vordemokratischen Bewegungen und Parteien vor 1991 wiederholt wurden. Hier fanden sich die Forderungen nach der Aufhebung des GlossarVerfassungsartikels zur Führungsrolle der KPSS, nach der Aufteilung des GlossarKGB in mehrere Behörden, nach politischer Amnestie oder nach einem vollständigen Katalog der Bürgerrechte. Gleichzeitig setzte sich das Dokument für ein sozialistisches Wirtschaftsprogramm ein, das die "Gemeinde" vorschlug – für das Kollektiveigentum an Produktionsmitteln, die Selbstverwaltung und die Wirtschaftregulierung, die auf der "Delegationsgrundlage" (d.h. der Zusammensetzung der übergeordneten Organe aus den Abgeordneten der untergeordneten) organisiert war.

Der Auftrag schloß mit Parolen, mit denen sich die meisten Initiatoren der Volksfront identifizieren konnten und die für alle verständlich waren (obwohl sie jeder auf seine Art auslegte):

Es lebe der Glossardemokratische Sozialismus!

Es lebe die Einheit aller progressiven Kräfte der kommunistischen Partei und der breiten demokratischen Bewegung!

Es lebe die sozialistische GlossarPerestrojka!

Der Text des Auftrags war von seiner eiligen Ausformulierung und den zahlreichen Abstimmungen geprägt. Denn die Arbeit war auf der Stelle und in diesem Saal abzuschließen, später waren keine Veränderungen mehr vorzunehmen. Das Programm, über das man abgestimmt hatte, konnte nur von einer neuen Konferenz revidiert werden. Als Folge wurde der Text im GlossarSamizdat mit zahlreichen Druckfehlern und stilistischen Ungenauigkeiten veröffentlicht. Nichtsdestoweniger nahmen die Forderungen der "Informellen" zu einem äußerst breiten Problemspektrum Stellung und waren durchaus verständlich. Außerdem verabschiedete die Konferenz die "Organisationsprinzipien und Hauptziele der Volksfront", die in einem abstrakt demokratischen Stil ausformuliert waren.

Auf den Meetings wurde die Agitation für die Volksfront als Perspektive einer demokratischen Massenbewegung entfaltet. De facto war im Land eine Einheitsfront der informellen politischen Organisation entstanden (mit Ausnahme der Demokratischen Union und des "Gedächtnisses"). Doch sie wurde von Anfang an von Meinungsverschiedenheiten zerrissen.

Nach der Konferenz eskalierten die Gegensätze im Organisationskomitee der GlossarMNF entlang zweier Linien. Einerseits standen sich die Anhänger des engen sozialistischen Charakters des MNF und diejenigen, die für ihren allgemeindemokratischen Charakter plädierten, gegenüber (bei den zweiten gab es sowohl Anhänger einer liberalen wie einer sozialistischen Orientierung). Andererseits bekämpften sich die Vertreter einer breiten Klubautonomie und die Fürsprecher einer Allgemeingültigkeit der Komiteebeschlüsse für alle Gruppen, die zur MNF gehörten. Hinter der marxistischen "Mehrheit" und der liberal-sozialistischen "Minderheit" stand ungefähr die gleiche Anzahl von Aktivisten. Die Marxisten besaßen jedoch mehr Stimmen, da sie die neuen Gruppen unter ihrer Kontrolle hatten.

Die alten Gruppen ("Gemeinde", "Bürgerwürde"; "Memorial" u.a.), die auf Erfahrungen bei der Organisation der Straßenaktionen zurückblicken konnten, waren mehrheitlich der Ansicht, daß die "Neuankömmlinge" kein Recht darauf hätten, ihre Überzeugungen allen anderen aufzuzwingen. Die Marxisten hofften, daß der Zustrom neuer Leute die Überlegenheit der marxistischen Ideen in der demokratischen Bewegung sichern werde. Doch ihre Rechnung ging nicht auf: Unter dem Einfluß der liberalen Presse veränderten sich die Massenstimmungen, und Menschen, die in ideologischer Hinsicht unerfahren waren, vertrauten bekannten Kommunisten mit sozial-demokratischen Überzeugungen. Bereits 1989/1990 wechselten sie auf liberale Positionen und zogen jene populistischen Massen mit sich die, die keine Organisationsstruktur besaßen. Als Folge verloren die Sozialisten die Zeit, die sie für die Schaffung einer einflußreichen wirklich sozialistischen Partei hätten nutzen sollen, und lösten sich in der demokratischen Bewegung auf.

Die Beziehungen zwischen den Fraktionen verschärften sich, nachdem die Behörden am 18. Juni begonnen hatten, die Meetings auseinanderzujagen. Unter diesen Bedingungen rief die "Mehrheit" des OK MNF dazu auf, in den Meetings größere Loyalität gegenüber der KPSS zu zeigen, während die "Minderheit" dazu anhielt, sie in gleicher oppositioneller Ausrichtung fortzusetzen, nur an einem anderen Ort. Beide Wege verminderten sowohl den Einfluß der "Informellen" als auch ihren Druck auf die Macht. Jede Fraktion warf der anderen Seite ihre Niederlage vor. Die "Mehrheit" forderte für sich das Recht, im Namen der Volksfront und ihres Organisationskomitees aufzutreten, die "Minderheit" versuchte nachzuweisen, daß die Gründung der Volksfront als Massenbewegung eine Sache der Zukunft sei und die "Mehrheit" kein legitimes Recht besitze, um im Namen der demokratischen Massenbewegung aufzutreten. Diese Auseinandersetzungen endeten damit, daß am 3. Juli "Bürgerwürde", "Gemeinde", "Perestrojka-88", "Memorial" (am Vortag) sowie eine Reihe weiterer Gruppen aus dem Organisationskomitee austraten. Als Folge kam die Vereinigung der demokratischen Kräfte nicht zustande, die Behörden unterdrückten die Meetings der Sozialisten und später die der Demokratischen Union.

Bei den Ereignissen des Frühjahrs und Sommers 1988 handelte es sich um erste Erfahrungen in öffentlicher Politik, die der Parlamentskultur und der Tradition einer Selbstorganisation der staatsbürgerlichen Gesellschaft zugrunde gelegt wurden. 1989 wiederholte sich die Situation in einem größeren Maßstab und mit einem vergleichbaren Teilnehmerkreis.

Die Spaltung der Volksfront war ein Zeichen für die Veränderungen in der oppositionellen Bewegung. Wie die "Informellen" als dominierende Kraft der Befreiungsbewegung 1986/1987 die GlossarDissidenten abgelöst hatten (sie sogen die Dissidentenbewegung zum Teil in sich auf, zum Teil lebten deren Reste nebenher fort), so löste die populistische "demokratische" Bewegung 1989/1990 die "Informellen" ab. Das OK MNF verwandelte sich einfach in eine der oppositionellen Organisationen. Die Spaltung der "Informellen" 1988 gab keiner der Fraktionen die politische Führerschaft. Die Konzeption der "Mehrheit" war jedoch anfällig für den Populismus (obwohl führende Leader der "informellen" Glossar"Bolschewiki" nach dem Sieg des Populismus von der Spitze der demokratischen Bewegung verdrängt wurden), während die Konzeption der "Minderheit" darauf bestand, die Traditionen der informellen Bewegung weiter zu pflegen.

Für die populistischen Demokraten war die Option einer Zusammenarbeit und sogar einer Unterordnung unter jenen Teil der regierenden Elite charakteristisch, die die ideologischen Grundsätze der Demokratie teilte; sie bestanden oft in der Negation, waren zunächst antibürokratisch, später antikommunistisch und antichauvinistisch. Der Übergang der Bewegung in ihre populistische Phase ging allmählich vor sich und fand seinen endgültigen Abschluß erst 1990, als die demokratische Deputiertenfraktion im Unionsparlament und im russischen Parlament sich an die Spitze der Massenbewegung stellte. In der Folgezeit ließ die Abhängigkeit der Führungsspitze vom aktiven Teil der Demokraten nach, die Führungsspitze selbst verzichtete auf die Ideologie des demokratischen Sozialismus und nahm Kurs auf den Übergang zu kapitalistischen Beziehungen in der UdSSR. Danach verlegten die "Informellen" den Schwerpunkt ihrer Arbeit vom Kampf um die Macht auf den Aufbau staatsbürgerlicher Organisationen (u.a. in Bereichen des Gemeinwesens, der Information, der Ökologie).

Die Szene der informellen Organisationen von 1986-1989, in der die Teilnehmer "große Politik spielten", ihre Energie im Kampf um Stellen in den "Koordinationsorganen" vergeudeten, wobei sie sich für jeden Punkt der politischen Programme mit einer solchen Leidenschaft einsetzen, als ob sie an einem Gesetz von grundsätzlicher Bedeutung arbeiteten, bildete einer Art Modell für die demokratische Gesellschaft. Und dies machte politisch Sinn, denn die "Informellen" waren bald in der Lage, Menschenmassen auf die Straße zu bringen, ihre Presse- und Publikationsorgane verwandelten GlossarGlasnost' in Redefreiheit. Doch auch die "innenpolitischen" Leidenschaften der Politik, die die "Informellen" "spielten", hatten eine Bedeutung. Es war ein beispielloses "Training", daß sich Hunderte von künftigen politischen Führern, Journalisten und gesellschaftlichen Aktivisten innerhalb von wenigen Jahren die politische Kultur von Gesellschaften mit großen politischen Traditionen aneigneten. In diesem Sinne ist der "Gesellschaftliche Auftrag" von 1988 als geistiger Vater zahlreicher Plattformen der demokratischen Bewegung der 1990er Jahre zu sehen.

Aleksandr Šubin

(Übersetzung aus dem Russ. von L. Antipow)