Ėlem Klimov, "Abschied von Matëra", Mosfil'm 1979/83

Einleitung

1. Die kleine Insel Matëra am ostsibirischen Fluß Angara soll bei der Errichtung eines Wasserkraftwerks überflutet werden. Seit geraumer Zeit sind auf der Insel Vertreter der staatlichen Behörden am Werk, die sie für die Überflutung vorbereiten sollen – Pavel Pinigin, Voroncov, die Mitarbeiter der Sanierungsbehörde. Hier treffen sie auf eine "andere", nichtsowjetische "Zivilisation", die durch das gleichnahmige Dorf Matëra und seine Einwohner Dar'ja Pinigina, Katerina, Sima, Bogodul u.a. verkörpert wird. Sie widersetzen sich der Überflutung und weigern sich, die Insel zu verlassen. Einer Art Kampf zwischen dem Dorf und den Protagonisten des staatlichen Auftrags beginnt, der zugleich ein Wettkampf gegen die Zeit wird. In diesem Kampf, so legt der Text nahe, werden Dar'ja und ihre Gefährt/Innen den Verlust davon tragen. Matëra geht unter, geopfert für den technischen Fortschritt der "Sowjetzivilisation". Und mit ihr geht ein Universum der traditionell-archaischen Kultur Rußlands unter.

1976 veröffentlichte der Schriftsteller Valentin Rasputin seine Großerzählung "Abschied von Matëra" ("Proščanie s Matëroj"). Nur wenige Jahre später wird sie von der Regisseurin Larisa Šepit'ko aufgegriffen und zu einem Drehbuch umgearbeitet. Šepit'ko war es jedoch nicht gelungen, den Film zu drehen. 1979 kam die Regisseurin bei einem Autounfall ums Leben. Erst 1983 wurde "Abschied von Matëra" – im russischen Verleih hieß der Film "Der Abschied" ("Proščanie") – von ihrem Ehemann und Berufskollegen, dem Regisseur Ėlem Klimov fertiggestellt. Ein Gemeinplatz in der Distributions- und Rezeptionsgeschichte zahlreicher Meisterwerke der sowjetischen Kinematographie vor 1985 – Verbot für den sowjetischen Filmverleih, Preise bei den internationalen Filmwettbewerben und Freigabe durch die sowjetische Zensur nach 1985 – findet sich auch in der "Vita" dieses Filmes: Erst 1986, d.h. drei Jahre nach seiner Fertigstellung, kam "Abschied von Matëra" in die sowjetischen Kinos.

2. Raputin wie Klimov gehen der Frage nach kulturellen und ethischen Grundlagen der menschlichen Zivilisation, nach Perspektiven ihrer historischen Entwicklung auf den Grund. Und auch eine andere Frage beschäftigt sie – nämlich die nach dem Sinn des Lebens. Die Erzählung wie der Film bauen zwei gegensätzliche Welten auf: für die eine steht Matëra; für die andere – die neue Sovchossiedlung, in die die Einwohner von Matëra umzusiedeln sind, sowie die "große Welt" jenseits davon – Irkutsk, die Sowjetunion, die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen. "Matëra" ist eine Metapher für die "authentische", "organische", traditionell-archaische Welt des Alten Rußlands. Geprägt von christlichen und heidnischen Elementen überlebte sie die politischen Wirren des XX. Jahrhundert an der östlichen Peripherie der Sowjetunion. Dagegen präsentiert die Sovchossiedlung die "Sowjetzivilisation" in ihrer gegenwärtigen Gestalt. Der Unterschied zwischen den beiden Welten wird an ihrem Umgang mit der traditionellen Kultur Rußlands veranschaulicht. Sie ist in der Erzählung wie im Film in ihrer Metaphern und Symbolen präsent: Im "Boden", in der "Natur", im "Haus" und in der "Frau" bzw. der "Mutter".

Matëra ist der Sitz des "Stammes", den alle Einwohner des Dorfes bilden, der "Boden", der die Grundlage seiner Existenz bildet. Schon der Name der Insel selbst deutet darauf hin – "Matëra" ist ethymologisch mit dem russischen "Mat'", die Mutter, und gleichzeitig mit "Festland", "materik", verwandt. Der Stamm der Einwohner von Matëra – das sind die wenigen alten Weibern und der heruntergekommene Bogodul, ein Mann ohne Vita. Rasputins und Klimovs Figuren sind "Individuen" und "Archetypen" zugleich. Dar'ja Pinigina verkörpert das "Mutter"-Archetyp der russischen Kultur. Als "Frau" und "Mutter" ist sie einer Art "Stammälteste" auf Matëra und nach dem traditionellen Weltbild einer Art Repräsentantin der höchsten Macht in ihrem "Stamm". Der Mensch in Matëra ist ein "Mensch mit Seele", der nicht nur nach rationalen Kriterien lebt, bzw. ein anderes Verständnis von Rationalität aufweist. Mit Religion, "Boden" und "Natur" sind es gerade "irrationale Momente", die sein Leben bewegen. Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist in dieser traditionell-archaischen Welt noch beantwortet: Er besteht in der Fortpflege des Erbes, das die Vorfahren überlassen haben, in der Sicherung des Stammes als physischer und kultureller Körper sowie als ethisch-moralisches Gebilde in der tagtäglichen physischen und geistigen Arbeit. Dabei läßt die Darstellung der Einwohner von Matëra jede Idealisierung vermissen: Jeder Einwohner von Matëra – ob es die alte Dar'ja ist oder ihre Freundin Sima oder der alte Bogodul ist – mußte Schicksalsschläge erleiden, niemanden ist es gelungen, sein Leben wirklich zu meistern.

Während die Rolle der Religion als prägender Kraft in der Welt Matëras abgeschwächt ist, wird sie vor allem in ihrer "Boden"- und "Natur"-Verbundenheit inszeniert. Sie zeichnet sich durch einen Synkretismus von Mensch und "Boden", Mensch und "Natur" aus. (Einer der Symbole dieser "Natur" ist die Lerche, der man in einer der Schlüsselszenen der Erzählung des Films begegnet – dem Fällen der Lerche.) Die "Boden"- und "Naturmythologie" und "-mystik", wie sie in ihrer Mischung von heidnischen und christlichen Elementen in der russischen Kultur über Jahrhunderte hinweg bestand, wird von Rasputin und Klimov zum Leben wiedererweckt. Der "Boden" und mit ihm die "Natur" bilden eine Übermacht, gegen die der Mensch machtlos ist. (In dieser Hinsicht ist die Szene signifikant, in der die Lerche gefällt wird.) Sie werden dabei antropomorphisiert, treten dem Menschen gegenüber als autonome Subjekte auf, greifen gestaltend in sein Leben ein. Aus der Natur kommen der "Beschützer" der Insulaner und die "Natur" bring auch den zahlreichen Insulanern den Tod. Der Lebenszyklus eines Menschen zwischen "Geburt", "Leben" und "Tod" ist ein Teil des Naturzyklus, sein Lebensrhythmus durch den Naturrhythmus vorgegeben. Der Mensch lebt in der "Natur" und auf dem "Boden", beide geben ihm Lebensunterhalt und Nahrung, im "Boden" versinkt er nach seinem Tod. Ein anderes Element und zugleich Symbol der traditionellen Kultur ist das "Haus", "Dom". Er ist der Sitz der Familie, des Stammes im engeren Sinne, eine materialisierte Verbindung zwischen seiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In diesem Sinne stellt das "Haus" die historische Kontinuität her und stiftet die Gemeinschaft der Insulaner. Wie die "Natur" und der "Boden" wird das Haus anthropomorphisiert. Es ist lebendig und der Abschied von ihm ist dem Abschied von einem Toten gleich.

In all diesen, realen und mythischen Dimensionen stellt die Welt von Matëra ein Teil der Identität ihrer Einwohner dar. Nicht zufällig läßt Rasputin, noch mehr als Klimov, indem er auf diese Welt aus der "(Erzähl)Perspektive" von Dar'ja blickt, sie als Teil von Dar'jas Welt im Text auferstehen. Im Film wie in der Erzählung – in der letzten vielleicht noch mehr – spielen die "Rituale" rund um den "Boden", die "Natur" und das "Haus" als Konstituanten der Identität der Matëra-Einwohner eine entscheidende Rolle. Umgekehrt spiegeln sich im Zustand des "Bodens", der "Natur" und des "Hauses" die inneren Zustände und Erlebnisse der Insulaner. Erst wenn man all jene Funktionen in Betracht zieht, die Matëra im Leben seiner Einwohner spielt, wird es verständlich; was der "Abschied" von der Insel für ihre Einwohner in der Tat bedeutet. Der Verlust des "Bodens" und der "Natur" von Matëra und der Verlust des "Hauses" werden gleichbedeutend mit dem Verlust des eigenen Ichs. (Beide, der Schriftsteller wie der Regisseur, zeigen, daß historische Umbruchsprozesse stets mit einem Identitätswandel und Neuordnung des menschlichen Subjekts einhergeht.)

Die soziale Welt von Matëra stellt eine anachronistische Variante des russischen "Mir", der "Gemeinde" dar, die einen "kollektiven Körper" bildet. Die Ethik, die Matëra vertritt, ist eine Ethik, die sich am "Kollektiv", der "Gemeinde" und jedem einzelnen von ihren Mitgliedern als Richtmaß orientiert. Das "Gewissen", "Sovest'", erscheint dabei als die zentrale ethnische Kategorie der traditionell-archaischen Gesellschaft, Grundlage und Orientierungspunkt des menschlichen Handels. Sie setzt Verantwortung des Menschen vor sich selbst, jedoch auch vor der Gemeinde voraus. Da alle Insulaner einen "Körper" bilden, ist es unmöglich, Entscheidungen zu treffen, die zumindest eins von ihren Mitgliedern ausschließen. Die Meinung eines jeden zählt, denn jeder durch sein Handeln realisiert ein Kollektiv, eine Gemeinde. Umkehrt kann man sagen, das die Gemeinde ist, indem ihr einzelner Mitglied ist. So entsteht die einfache Kosmogonie der Insulaner: Mit "Matëra", ihrem "Boden" und ihrer "Natur" als Grundlage, auf dem die "Dorfgemeinde" und das "Haus" steht. Der "Mensch" ist die nächste Ebene dieses Weltbildes und das "Haus" seiner Seele. All diese Elemente sind wiederum in das von Gott erschaffene Universum, die Welt als "Haus Gottes" eingebunden. Und gerade wenn man diese einzelnen Elemente als Teil eines Ganzen begreift, wird es klar, daß die Zerstörung jedes einzelnen von ihnen das Ganze zum Einsturz bringt.

3. Die "Sowjetzivilisation" ist das Gegenstück zur traditionell-archaischen Welt von Matëra. Sie ist einerseits sowjetisch, doch andererseits ist sie lediglich eine moderne Zivilisation nach der Aufklärung. Durch diese Zivilisation hervorgebracht und von ihr mitgetragen wird auch der sowjetische Staat. Die "Sowjetzivilisation" wird gleichzeitig aus mehreren Perspektiven dargestellt. Der Standpunkt von Dar'ja Pinigina dominiert dabei. Aus der Perspektive dieser Bäuerin zeigt Rasputin: Die "Sowjetzivilisation" und der sowjetische Staat als ihr Teil, die sich seit der sowjetpatriotischen Wende um die Mitte der 1930er Jahre als "russisch", "bodenverbunden" und "verwurzelt" inszenierten, jenseits dieser Selbst-Inszenierung ein fortschrittsorientiertes, rationalistisch-technokratisches Gebilde darstellte, das die Verantwortung für die geographische, kulturelle und ethische "Entwurzelung" des Einzelnen, verstanden als Verlust seines Standortes, mittrug. Dar'ja gibt dem entwurzelten "neuen Menschen" einen Namen – "čelovek-obselok". Sein Bezug zum "Boden" und somit sein Bezug zu Rußland ging verloren. Anders als Rasputin in der Erzählung, stellt Klimov die Protagonisten dieser Welt als einer Art "böse Märchengeister", als "Außerirdische", ja auch als "Westler" dar. In der Welt der "Sowjetzivilisation" ist das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft bereits ein anderes. Das egozentrische Individuum erobert für sich den gesellschaftlichen Mittelpunkt. Individualisierung und somit die Relativierung der Ethik und Moral greifen um sich. Dagegen verlieren die Gemeinschaft und ihre Werte als Bezugspunkt und Grundlage des Handels seine Bedeutung, brechen allgemeingültige Ethik und Moral zusammen. Das "Gewissen" ist als moralisches Korrektiv des individuellen Handels, als Regulativ des Handelns "entfunktionalisiert". Die politische Räson und der unmittelbare Nutzen ist das, was letzten Endes die politische Entscheidungsgebung beeinflußt. Rasputin und mit ihm auch Klimov fassen den neuen Staat in das metaphorische "naive" Bild der "schlechten Mutter" bzw. der "Stiefmutter" (hier greifen wir die Worte von Dar'ja Pinigina auf): Eine schlechte Mutter liebt den einen Sohn und rügt den anderen, eine schlechte Politik opfert den einen Menschen für den anderen. In dieser Welt ist ein Teil der Insel-Gemeinde – Petrucha, Pavel und Andrej Pinigin – bereits angekommen.

In der naiven mythischen Kosmogonie der Einwohner von Matëra, denen das Zeitalter der modernen Kommunikationssysteme noch kein neues "geographisches Bewußtsein verschaffen hat, ist die "Sowjetzivilisation" bereits eine "Welt des Jenseits". Denn das Diesseits – das ist Matëra selbst. Wie in der antiken Kosmogonie markierte ein Fluß – die Angara – die Grenze zwischen dem "eigenen" und dem "fremden" Land, zwischen dem "Diesseits" und dem "Jenseits". Um so schwerer fällt auch der Absprung in die andere "Welt", die vielleicht auch gar keine "Fremde", sondern einfach und schlichtweg ein "Abgrund" ist. In der neuen Welt verlieren Menschen und Gegenstände, die die Welt von Matëra besiedelten und füllten, ihre Zweckbestimmung und ihren Sinn. Indem die neue Zivilisation diese Menschen und Gegenstände entfunktionalisiert, indem sie sie im wörtlichen Sinne "nutzlos" macht, entzieht sie ihnen die Existenzberechtingung und bereitet den Weg für den Untergang der traditionell-archaischen "Zivilisation", deren Träger und Äußerungsformen sie waren. Auch das Leben der Einwohner von Matëra, seinem gewohnten rationalen Rahmen entrissen, verliert seinen Sinn. Deshalb ist "Abschied von Matëra" auch ein Film über den Sinnverlust in Leben eines Menschen. Matëra wird für eine neue Welt geopfert, was Rasputin in den Worten Dar'jas ausdruckt: " Matëra pojdet na ėlektričestvo." Es ist bezeichnend, daß die "Sowjetzivilisation" hier keine heilbringende "Zivilisation" nach der Apokalypse mehr ist, als welche sie in dem sozialistisch-realistischen Diskurs inszeniert wurde, sondern sie ist die Apokalypse selbst, in deren "Feuer" Matëra untergeht. Wir erinnern nur daran, daß die Insel "gereinigt" und alle "Häuser" verbrannt werden.

4. Ist Matëra ein idealer Gegenentwurf zur "Sowjetzivilisation" in der Epoche der Stagnation, die Rasputin und Klimov neben ihr auferstehen lassen? Rasputin verzichtet in der Novelle und Klimov im Film auf einen linearen Handlungsablauf und sein Geschichtsbild ist keineswegs teleologisch. Die "Sowjetzivilisation" ist der archaischen Zilivisation von Matëra zwar nachgeordnet. Doch weder der Schriftsteller noch der Regisseur verlegen das Finale von "Abschied von Matëra" in den Raum der neuen Sovchossiedlung, in die Dar'ja und andere Einwohner des Inseldorfes zwangsumgesiedelt werden. Im Gegenteil: Im Finale begegnet man ihnen immer noch in einem einsamen Haus in Matëra. Voroncov, Pavel und Petrucha, die die letzen Menschen von Matëra abholen müssen, kommen dort wirklich an noch kehren sie in die Sovchossiedlung zurück. Der Text nimmt das Motiv der "Suche" auf: Pavel und seine Weggenossen "suchen" nach der Matëra, die kurz dabei ist von Antlitz der Erde zu verschwinden. Dem Schriftsteller und dem Regisseur gelingt es, etwas von der eigentlichen "Welt" einzufangen, die auf "Abschied von Matëra" folgt: Einer Welt, in der die die ehemaligen Einwohner der Insel in ihrer Einsamkeit und Isolation vom Rest der Welt vergessen werden, während dieser Rest, nachdem er Matëra verloren hatte, an keinem Ziel der Zivilisation ankommt, sondern – Pavel, Voroncov und Petrucha gleich – von unsicheren Gewässern des Lebens getrieben, auf der ewigen Suche nach der verlorenen Matëra, nach einem festen "Boden", nach einem kulturellen und ethischen Standpunkt – auf der Suche nach sich selbst verweilt. Im Grunde genommen folgt im Film auf Matëra nichts anderes als einer Art "kulturelle tabula rassa", die mit beliebigen Kulturen als "Texten" beschreibbar ist. Der Text nimmt im Finale das Motiv der "heiligen Stadt" Kitež auf: Einer altrussischen Stadt, die sich dem Zugriff der Tataren entzieht, indem sie auf dem Boden eines See verschwindet, und nach der die späteren Generationen wie nach einem versunkenen Paradies suchen. Der technische Fortschritt entfaltet somit ein durchaus tragisches Geschichtsszenarium. "Abschied von Matëra" wird zu einer nationalen Tragödie.

5. Rasputins Novelle und Klimovs Film sind Dokumente der Brežnevs-Zeit. Der Diskurs, den diese Texte führen, bietet Antworten auf jene Fragen, die aus der Situation einer Krise erwuchsen, die in den 1970er Jahren die sozialistische Gesellschaftsordnung erfaßte. Während die Sowjetunion nach außen hin noch den Eindruck einer monoliten Großmacht bot, wuchs im inneren des Landes unterschwellig die Kritik an den Zuständen in ihrer Politik und Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur, wurde die Frage nach geeigneten Korrekturen und Alternativen ihrer bisherigen Entwicklung laut. Die Hinterfragung der bis dato unverrückbaren Grundlagen der sowjetischen Gesellschafts-und Wirtschaftordnung ging einher mit einer kritischen Auseinandersetzung mit der offiziellen Ideologie einher, deren Deutungs- und Sinnangebot vor allem für viele Intellektuelle bereits als erschöpft galt. So stand die Brežnevs-Zeit – und hier ist wiederum die Einschränkung zu treffen: für Intellektuelle – zunehmend unter dem Vorzeichen einer kollektiven und individuellen Sinnsuche. Neben vielen anderen entstand eine Umweltbewegung, die die destruktiven Folgen der sowjetischen Wirtschaftsentwicklung ins kritische Visier nimmt. Daneben etablierte sich eine kritische Haltung hinsichtlich der Ethik und Moral der sowjetischen Gesellschaft. Während die "Ökologen" die Kritik an der sowjetischen Wirtschaftsordnung in Worten eines "ökologischen Diskurses" kleideten, stand die kritische Auseinandersetzung mit der Ethik und Moral der sowjetischen Gesellschaft für eine Kritik an ihr als Ganzes. Mit anderen Worten: Die unterschwellige Systemkritik kleidete sich bald als Kritik an der Umweltpolitik des Staates bald als Kritik an Ethik und Moral der sowjetischen Bürger. Diesen Staat als "Zerstörer der Natur" zu zeigen, bedeutete sein destruktives Wesen metaphorisch zu umschreiben. Und dort, wo die Literatur und die Kunst zeigten, daß das Projekt "Sowjetmensch" gescheiter war, zeigten sie gleichzeitig auch, wo die Grenze der Ordnungs- und Erziehungsmacht des sowjetischen Staates und der sowjetischen Gesellschaft lagen. In beiden Fällen wurden die politischen, kulturellen und moralischen Defizite des sowjetischen Systems an die Oberfläche des Zeitdiskurses gebracht. Aus der damaligen wie der heutigen Perspektive betrachtet, war für nicht wenige Sowjetbürger das Sowjetsystem in seiner Spätzeit politisch auch deshalb nicht haltbar, weil es die Mitverantwortung für jene Naturkatastrophen und jene moralische Dekadenz mittrug, an deren Faktizität vor allem die Literatur und die Kunst keinen Zweifel aufkommen ließen.

Rasputin und Klimov gehören zweifellos zu denjenigen, die jene kritische Sicht auf die "Sowjetzivilisation" teilten. Rasputins zeigte ein großes Engagement in der sowjetischen, und später in der russischen Umweltbewegung. Doch für beide – für den Schriftsteller und den Regisseur – schien die Frage nach den Alternativen für die Sowjetzivilisation keineswegs eindeutig zu beantworten zu sein. Die archaische Welt des russischen Bauerntums bildete für sie jene Folie, jenen Bezugs- und Vergleichsobjekt, der ihm eine kritische Bestandsaufnahme über die "Sowjetzivilisation" erlaubt. Doch war sie – und hier kommen wir noch einmal auf das Finale der literarischen und filmischen Erzählung zurück - in der Tat eine Alternative zur "Sowjetzivilisation"? Ihr Ende bleibt "offen", somit das Ziel der Geschichtsentwicklung unklar. An Stelle eines Telos ist kein anderes getreten. Auch in dem Sinne ist Raputins und Klimovs Werk ein Dokument ihrer Zeit: Ein Dokument der umfassenden Zivilisations- und Kulturkritik, die noch nicht imstande ist, geschichtliche Alternativen zu entwerfen.

Lilia Antipow