Einführung: Besatzungsstatut

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von: Wolfgang Benz, 2011


Zu den Gründungsakten der Bundesrepublik Deutschland gehört das Treffen von elf Repräsentanten westdeutscher Politik, den Ministerpräsidenten der neun Länder und den Bürgermeistern der beiden Stadtstaaten Hamburg und Bremen, am 1. Juli 1948 im US-Hauptquartier in Frankfurt am Main. Die Länderchefs waren von den drei alliierten Militärgouverneuren einbestellt worden (von einer Konferenz gleichberechtigter Teilnehmer konnte keine Rede sein), um die offiziellen Mitteilungen über die alliierten Entscheidungen zur Gestalt künftiger (west)deutscher Staatlichkeit entgegenzunehmen. Die deutschen Länderchefs waren ohne Angabe des Raums und der Stunde einbestellt worden. Einzelheiten hatten sie erst nach dreitägigem Herumtelefonieren erfahren. Aber das Ereignis gehörte, wie man später erkannte, zu den entscheidenden Daten der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die Frankfurter Konferenz bildete den Wendepunkt vom alliierten Kriegsrecht, nach dem Deutschland seit Mai 1945 regiert wurde, zur deutschen Eigenverantwortung.

Die Dokumente, die den deutschen Politikern am 1. Juli 1948 überreicht wurden, enthielten in Form des Gründungsauftrags für einen deutschen Nachkriegsstaat die Chance der Selbständigkeit nach Jahren der Besatzungsherrschaft. Auf französisches Betreiben geschah die offizielle Übergabe der „Frankfurter Dokumente“, wie die Blaupause der westdeutschen Staatlichkeit seither heißt, in zeremonieller Form und frostiger Atmosphäre: Jeder der drei Militärgouverneure verlas in seiner Muttersprache eines der drei Dokumente, General Lucius D. Clay das erste, das die verfassungsrechtlichen Bestimmungen enthielt, General Sir Brian Robertson das zweite über die Länderneugliederung, und General Pierre Koenig trug in scharfem Ton das dritte Dokument vor, das die Grundzüge eines Besatzungsstatuts festlegte (am Ende der Veranstaltung erhielten die deutschen Politiker die Texte in Übersetzung).

Das erste der Frankfurter Dokumente ermächtigte die Ministerpräsidenten, bis zum 1. September 1948 ein Parlament zur Ausarbeitung einer demokratischen Verfassung einzuberufen, „die für die beteiligten Länder eine Regierungsform des föderalistischen Typs schafft, die am besten geeignet ist, die gegenwärtig zerrissene deutsche Einheit schließlich wiederherzustellen, und die Rechte der beteiligten Länder schützt, eine angemessene Zentralinstanz schafft und die Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten enthält“. Im zweiten Dokument war die Neugliederung der deutschen Länder empfohlen.

Im dritten Dokument waren die Grundzüge eines Besatzungsstatuts skizziert. Darin wurde deutlich, wie eng der deutsche Spielraum für die Verfassung und für die künftige staatliche Existenz bemessen war. Die Militärgouverneure stellten zwar die Gewährung einiger Befugnisse der Gesetzgebung, Verwaltung und der Rechtsprechung in Aussicht; ausdrücklich ausgenommen blieben aber beispielsweise die Außenbeziehungen des zu gründenden deutschen Weststaats und die Überwachung des deutschen Außenhandels.

Die Besatzungsherrschaft sollte also mit der Verabschiedung der Verfassung und der Staatsgründung auf dem Territorium der drei Westzonen noch nicht enden, sondern lediglich gelockert und juristisch neu definiert werden. Die Militärgouverneure würden, so hatten es die deutschen Ministerpräsidenten in Frankfurt vernommen, „die Ausübung ihrer vollen Machtbefugnisse wieder aufnehmen“, und zwar nicht nur bei drohendem Notstand für die Sicherheit, sondern auch, „um nötigenfalls die Beachtung der Verfassung und des Besatzungsstatuts zu sichern“.

Die Ministerpräsidenten als Auftragnehmer der Frankfurter Dokumente und Politiker der großen Parteien berieten in den folgenden Tagen über das Angebot der Alliierten zur Staatsgründung auf westdeutschem Boden. Führende Verfassungsexperten beider Parteien – SPD und CDU – waren sich einig, dass der provisorische Charakter der beabsichtigten Staatsgründung betont und das angekündigte Besatzungsstatut als Ausdruck der alliierten Verantwortung für die deutschen Angelegenheiten in den Vordergrund gestellt werden müsse. Die Antwort an die Alliierten war deshalb nach dreitägigem Ringen ein Ja und ein Nein zugleich. Die Vollmachten wollten die Deutschen zwar annehmen, aber nicht in der Form, wie es sich die Alliierten vorgestellt hatten. Der Primat der drei Westmächte bei der Staatsgründung sollte deutlich zum Ausdruck kommen, um den Vorwurf zu vermeiden, die westdeutschen Politiker hätten die nationale Einheit preisgegeben. Aus diesem Grund wünschten die Westdeutschen, dass das Besatzungsstatut vor Aufnahme der Verfassungsberatungen als eigentlicher Konstitutionsakt der Bundesrepublik erlassen werden solle. Die Ministerpräsidenten lehnten auch eine „Nationalversammlung“ zur Beratung und Verabschiedung einer Verfassung ab, die dann durch Volksabstimmung in Kraft gesetzt werden sollte. Stattdessen sollten die Landtage ein Gremium wählen, das ein provisorisches „Grundgesetz“ ausarbeiten würde. Das sollte die Entwicklung offen halten: Man wollte zu größerer Selbständigkeit kommen, ohne die Ostzone ausdrücklich preiszugeben. Die Alliierten kamen den deutschen Wünschen nur wenig entgegen, immerhin bei der Bezeichnung der Verfassung, die bis heute „Grundgesetz“ heißt; auch die Bezeichnung „Parlamentarischer Rat“ statt „Nationalversammlung“ war ein Zugeständnis. Aber das Besatzungsstatut vor den Verfassungsberatungen zu erlassen war für die Alliierten undenkbar. Es sollte den Schlussstein der Staatsgründung bilden.

Der Text des Besatzungsstatuts wurde auf der Außenministerkonferenz der Westmächte (6.–8. April 1949) verabschiedet, am 10. April dem Parlamentarischen Rat bekannt gegeben, am 12. Mai 1949 verkündet. Mit dem abschließenden Gründungsakt der Bundesrepublik, als Kanzler Konrad Adenauer am 21. September 1949 sein Kabinett offiziell den drei Hohen Kommissaren als Nachfolger der Militärgouverneure vorstellte, wurde es durch die Erklärung der Alliierten Hohen Kommission in Kraft gesetzt.

Das Dokument bildete bis zum 5. Mai 1955 die Rechtsgrundlage der Beziehungen zwischen den drei Besatzungsmächten und der Bundesrepublik. Das Petersberger Abkommen vom 22. November 1949 modifizierte es erstmals; am 6. März 1951 erfolgte eine zweite gründliche Revision des Besatzungsstatuts, die der Bundesregierung de facto die politische Verantwortung übertrug. Der 1951/52 ausgehandelte Deutschlandvertrag sollte im Zusammenhang mit der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) das Besatzungsstatut endgültig ablösen. Nach dem Scheitern des EVG-Projekts trat der geänderte Deutschlandvertrag im Rahmen der Pariser Verträge, durch die die Bundesrepublik souveräner Staat und NATO-Mitglied wurde, am 5. Mai 1955 in Kraft. Zu diesem Zeitpunkt erlosch das Besatzungsstatut.

Bis dahin hatte das Dokument den Rahmen bezeichnet, innerhalb dessen die Regierung der Bundesrepublik Deutschland Hoheitsbefugnisse ausüben konnte: Das Besatzungsstatut definierte von September 1949 bis Mai 1955 den Grad der Souveränität des deutschen Weststaats.


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