Einführung:Egon Bahr, Wandel durch Annäherung (Tutzinger Rede)

Aus 1000 Schlüsseldokumente
Wechseln zu: Navigation, Suche


von: Bernd Stöver


Die Rede, die Egon Bahr am 15. Juli 1963 im Politischen Club der Evangelischen Akademie in Tutzing hielt, markiert eine der wichtigsten öffentlichen Ankündigungen eines Strategiewechsels in der westdeutschen Politik während des Kalten Krieges. Sie ist allerdings nicht ohne den vorangegangenen Perspektivenwechsel in den USA denkbar. John F. Kennedy hatte ihn im Wahlkampf 1960 und dann vor allem am 10. Juni 1963 in seiner berühmten öffentlichen Rede über die künftige „Strategie des Friedens“ ausdrücklich betont.[1]

Der Strategiewandel der US-Außenpolitik begann bereits nach dem Ungarischen Aufstand von 1956, der die Grenzen einer offensiven Rollback Policy erneut demonstrierte. Dies war auch der Grund für den auffälligen Attentismus der Amerikaner, als am 13. August 1961 die DDR-Führung mit Rückendeckung der UdSSR das letzte verbliebene „Schlupfloch“ für Flüchtlinge nach West-Berlin mit einer Mauer abriegelte. Schon im Februar hatte eine Studie im Auftrag des US-Senats zur „United States Foreign Policy in the U.S.S.R. and Eastern Europe“ festgestellt, dass alle Versuche des Westens, eine „Befreiung“ Ostmitteleuropas zu erreichen, ausnahmslos gescheitert seien. Im Gegenteil: Die Sowjets und die von ihnen eingesetzten Regierungen in Ostmitteleuropa seien sogar gestärkt worden. Die Überlegungen zur Fortführung der offensiven Politik bezogen sich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr oder kaum noch auf Europa, sondern auf die Dritte Welt.

Kennedys Brief an Willy Brandt kurz nach dem Mauerbau machte deutlich, dass zur Erhaltung des Status quo in Europa auch die Akzeptanz der Existenz zweier deutscher Staaten gehörte. „Es wurde Ulbricht erlaubt“, schrieb Willy Brandt rückblickend, „der Hauptmacht des Westens einen bösen Tritt vors Schienbein zu versetzen – und die Vereinigten Staaten verzogen nur verstimmt das Gesicht. […] Was man meine Ostpolitik genannt hat, wurde vor diesem Hintergrund geformt.“[2]

So kam es in den ersten Jahren nach dem Mauerbau zu der paradoxen Situation, dass West-Berlin schrittweise Verhandlungen zur Normalisierung mit Ost-Berlin aufnahm und damit in Gegensatz zu Bonn und der zwar bröckelnden, aber immer noch gültigen Hallstein-Doktrin geriet, nach der Beziehungen zu Ost-Berlin unerwünscht waren. Der Formel Konrad Adenauers, Entspannung müsse der Wiedervereinigung folgen, setzte der seit Februar 1963 amtierende sozialliberale West-Berliner Senat unter Brandt eine aktive Verständigungspolitik mit der DDR entgegen. Diese Westberliner Linie wurde wenige Monate später, am 15. Juli 1963, von Egon Bahr in seinem Vortrag in Tutzing vorgestellt.

Die kommunistische Herrschaft, so Bahr, solle nicht beseitigt, sondern verändert werden. Mit Bezug auf die Praxis der Rollback Policy des vergangenen Jahrzehnts betonte Bahr, dass eine Alles-oder-Nichts-Politik in Zukunft ausgeschlossen sei. „Das Vertrauen darauf, daß unsere Welt die bessere ist, [...] die sich durchsetzen wird, macht den Versuch denkbar, sich selbst und die andere Seite zu öffnen und die bisherigen Befreiungsvorstellungen zurückzustellen.“ Jede Politik zum direkten Sturz des Regimes in der DDR sei aussichtslos, und diese Einsicht bedeute eben auch, dass jede Änderung nur mit Zustimmung der dortigen Machthaber zu erreichen sei. Auch der Versuch, durch den Abbruch sämtlicher politischer und wirtschaftlicher Verbindungen oder durch die bewusste Verschärfung der Situation einen Zusammenbruch zu bewirken, habe sich in der Vergangenheit als der falsche Weg erwiesen, da Ulbricht aus Krisen immer gestärkt hervorgegangen sei. Daher sei der einzig erfolgversprechende Weg derjenige Kennedys, „daß so viel Handel mit den Ländern des Ostblocks entwickelt werden soll, wie es möglich ist, ohne unsere Sicherheit zu gefährden“. Dabei könne das Ziel natürlich nicht sein, „die Zone zu erpressen“. Befreiung aus der kommunistischen Herrschaft blieb dennoch weiterhin das übergeordnete Ziel. Bahr sprach nicht zufällig davon, „die bisherigen Befreiungsvorstellungen zurückzustellen“. Jedoch sollte das sowjetische Herrschaftssystem vor allem „von innen“ aufgelöst werden. Verstärkte Handelsbeziehungen mit dem Osten, so die Überlegung, würden den dortigen Lebensstandard erhöhen und auf Dauer auch die Konsumwünsche und sonstigen Ansprüche in der Bevölkerung wachsen lassen. Dies wiederum zwinge die Machthaber einerseits zu einem direkten wirtschaftlichen Wettbewerb mit dem Westen, andererseits wahrscheinlich auch zu immer größeren innenpolitischen Zugeständnissen. Es ist unschwer zu erkennen, dass sich hier Kennedys Vorstellungen von einer Ablösung der bisherigen Befreiungspolitik mit der modifizierten deutsch-amerikanischen Magnettheorie trafen.

Der von Kennedy und Bahr vertretene „Wandel durch Annäherung“ hatte mehrere Konsequenzen:

1. Entspannung und Annäherung der beiden deutschen Staaten: Was Bahr ankündigte, war im Koordinatensystem des Kalten Krieges revolutionär, auch wenn er sich auf die Führungsmacht des Westens berief. Entsprechend heftig wurde dieser „Verrat“ gerade von konservativer Seite bekämpft. Während in Berlin die Erleichterungen – etwa durch das Passierscheinabkommen von 1963 – rasch spürbar wurden, setzte sich die Einsicht, dass es sich bei der Entspannungspolitik ebenso um eine bundespolitische Notwendigkeit handelte, nur langsam durch – obwohl sich die Unbrauchbarkeit der Hallstein-Doktrin auch in Bonn erwiesen hatte. Bereits die Große Koalition geriet ab 1966 auf deutschlandpolitischem Gebiet in Turbulenzen, weil Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger einerseits einen offiziellen Briefwechsel mit dem Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Willi Stoph, führte, andererseits aber – ebenso offiziell – darauf bestand, die DDR nicht als Staat anzuerkennen. Kritik an dieser Inkonsequenz kam insbesondere auch aus der FDP, die ab 1969 mit der SPD die sozialliberale Koalition unter Brandt bildete. „Aufgabe der praktischen Politik in den jetzt vor uns liegenden Jahren ist es“, hieß es in der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969, „die Einheit der Nation dadurch zu wahren, daß das Verhältnis zwischen den Teilen Deutschlands aus der gegenwärtigen Verkrampfung gelöst wird.“[3]

2. Stilllegung des Kalten Krieges in Europa und Verlagerung in die Entwicklungsländer: Folge und Preis der Stilllegung des Kalten Krieges in Europa war die Ausdehnung des Konflikts auf die Dritte Welt, die nun zum Schauplatz von Stellvertreterkriegen wurde. Für Europa bot sich die Chance, einen Weg aus dem Kalten Krieg zu suchen. Die von Kennedy erhoffte Verminderung der finanziellen Aufwendungen für den globalen Konflikt ergab sich allerdings nicht zwangsläufig. Zwar führte die Entspannungspolitik mittelfristig zu Abrüstungsverhandlungen und -verträgen, die den ungebremsten Ausbau bestimmter Waffensysteme zumindest zeitweilig verringerten. Doch zum einen verlagerten sich die Rüstungsaktivitäten regelmäßig auf Systeme, die von den Vereinbarungen noch nicht erfasst waren. Zum anderen wuchsen die Ausgaben für die sogenannte passive Rüstung überproportional: Gerade der Bau von Bunkern wurde in diesen Jahren auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs verstärkt vorangetrieben. Im Ostblock wurde zudem verstärkt in den Ausbau des Sicherheitsapparates investiert, um den unerwünschten Folgen der Annäherung der Blöcke entgegenwirken zu können.

3. Die Reaktion im Ostblock: Die Regierungen im Ostblock und insbesondere die DDR-Führung sahen das Konzept des „Wandels durch Annäherung“ wie die Neue Ostpolitik insgesamt mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Der Nutzen für die DDR lag in der Anerkennung als Staat, die Gefahr in einer schleichenden Vereinnahmung. Die SED jedenfalls sah in der Entspannungspolitik, wie DDR-Außenminister Otto Winzer nach Bahrs Rede vermerkte, eine „Aggression auf Filzlatschen“, die im schlechtesten Fall die seit dem Mauerbau mühsam erreichte innere Konsolidierung der DDR zerstören könne.[4] Die Jahre bis zum Beginn der Verhandlungen um den sogenannten Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR waren deshalb von einer deutlichen Verschärfung der innerdeutschen Beziehungen gekennzeichnet. Ab 1967 behinderte die SED insbesondere kirchliche Kontakte, und im nächsten Jahr wurden sogar die Transitwege für bundesdeutsche Minister und leitende Beamte gesperrt, Pass- und Visumzwang verhängt und der Zwangsumtausch verdoppelt. Ulbricht wollte zwar die internationale Anerkennung der DDR, aber gleichzeitig sollte der Kontakt mit dem „Klassenfeind“ im Westen möglichst gering bleiben. Das Misstrauen gegenüber der Neuen Ostpolitik blieb auch bei den anderen ostmitteleuropäischen Regierungen spürbar, wenn auch aus anderen Gründen. Hier befürchtete man ebenfalls eine allmähliche Aufweichung des Ostblocks, zudem aber auch eine deutsch-deutsche Annäherung. Zu nah war noch die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg.

4. Widerstand gegen den „Wandel durch Annäherung“ im Westen: Unterstützung für die Kritiker der Entspannungspolitik kam 1969. Obwohl der neue, konservative US-Präsident Richard Nixon und sein Außenminister Henry Kissinger langfristig die Entspannungsbemühungen fortsetzten, stärkte der Wechsel in Washington zunächst die dortigen Vertreter der harten Linie im Kalten Krieg. Die Möglichkeiten, die sich dadurch boten, nahmen auch die westdeutschen Vertriebenenorganisationen intensiv wahr. Tatsächlich konnten sie nicht nur in Deutschland, sondern auch bei rechtskonservativen amerikanischen Kongressabgeordneten erfolgreich Stimmung gegen die Brandtsche Entspannungspolitik machen. Einer der aktivsten Lobbyisten war der Vertriebenenfunktionär Walter Becher. Seine Erfolge konnten sich sehen lassen: Insgesamt fünf Senatoren und elf Abgeordnete des US-Repräsentantenhauses sprachen sich schließlich offiziell gegen Brandts Ostpolitik aus.

Die Bemühungen, die Ostverträge Brandts mit Hilfe amerikanischer Organisationen zum Scheitern zu bringen, trugen nicht nur in der Bundesrepublik und den USA, sondern auch allgemein im Westen zur Desavouierung der Entspannungspolitik bei, blieben aber letztlich erfolglos. Die konservative US-Administration unter Nixon und Kissinger bewegte sich bereits 1970 deutlich in Richtung der Brandtschen Ostpolitik. Störend für Washington war allerdings, dass die sozialliberale Koalition in Bonn nahezu ohne Rücksprache mit Washington Verhandlungen mit dem Ostblock aufnahm. Dies wurde angesichts der Konstellationen des Konflikts als ein Ausscheren aus der gemeinsamen Front im Kalten Krieg wahrgenommen.

5. Erfolg des „Wandels durch Annäherung“: Gegen heftigen konservativen Widerstand wurden bis 1973 vier Verträge zwischen der Bundesrepublik einerseits und der Sowjetunion sowie drei ihrer Verbündeten andererseits geschlossen: der Gewaltverzichtsvertrag mit der UdSSR (12. August 1970), die Grundlagenverträge mit Polen (7. Dezember 1970) und der DDR (21. Dezember 1972) sowie der Vertrag über die Beziehungen zur Tschechoslowakei (11. Dezember 1973). Geht man davon aus, dass während des Kalten Krieges einerseits alles dafür getan wurde, um als Sieger aus dem Konflikt hervorzugehen, andererseits aber auch, um einen Nuklearkrieg unter allen Umständen zu verhindern, so zeigt sich zunächst generell der Erfolg der Entspannungspolitik.

Für das Ende des Kalten Krieges und den Zerfall der Sowjetunion gibt es im Wesentlichen drei Erklärungsansätze. Dem ersten zufolge waren vor allem interne Gründe, die bereits in der Gründungsphase der UdSSR angelegt waren, für den Zerfall verantwortlich. Die Sowjetunion sah sich nach dieser Theorie aufgrund fehlender intellektueller und wirtschaftlicher Ressourcen nicht in der Lage, die ihr von Lenin zugedachte Rolle als ideologischer Wegbereiter der „Weltrevolution“ zu spielen. Unter Stalin sei der Weg ideologischer Überzeugung zugunsten der Ausübung militärisch-politischen Drucks endgültig verlassen worden. Daraus seien die Widerstände gegen Moskau und den Kommunismus innerhalb des sowjetischen Machtbereichs entstanden – so unterschiedlich sie im Einzelnen auch begründet waren. Die zweite Erklärung schreibt die Hauptverantwortung für den Niedergang externen Ursachen zu. Nach dieser Deutung hatte der Westen durch seine Offensive gegen den Kommunismus seit dem Beginn des Kalten Krieges und schließlich vor allem auch durch die Ankündigung des SDI-Programms die Sowjetunion besiegt. Man kann noch eine dritte Erklärung anbieten, die die Bedeutung der Entspannungspolitik als eine zahmere Version der Befreiungsidee stärker heraushebt. Sowohl John F. Kennedys „Strategy of Peace“ als auch Egon Bahrs „Wandel durch Annäherung“ basierten auf der Magnettheorie als Teil der Befreiungspolitik, lehnten aber offensivere Formen der Befreiung vom Kommunismus strikt ab. Man kann nicht bestreiten, dass sich dies zumindest für Europa als erfolgreich erwies.

Die Verknüpfung aller drei Thesen kommt der historischen Wahrheit wohl am nächsten: Die Sowjetunion stand in den 1980er Jahren vor enormen innen- wie außenpolitischen Herausforderungen. Zu den Verstärkern der Krise gehörten neben dem vom Westen angekündigten SDI-Programm, das im Fall einer erfolgreichen Einführung die über Jahre angehäuften und modernisierten Nuklearwaffen auf einen Schlag nutzlos gemacht hätte, vor allem die intensiver geäußerten Konsumansprüche der Bevölkerung im gesamten sowjetischen Machtbereich. Sie waren durch die elektronischen Medien des Westens erheblich forciert worden. Mit ihnen verband sich schließlich die Forderung nach mehr persönlicher Freiheit und politischer Selbstbestimmung, der der Ostblock nach der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte von Helsinki nur wenig entgegenzusetzen hatte.

Fest steht aber auch, dass der risikobehaftete Weg der Reformen von der Sowjetunion nicht zwangsläufig hätte beschritten werden müssen. So war es tatsächlich der „Ausnahmepolitiker“ Gorbačëv, der die ausschlaggebende Rolle spielte. Er verwirklichte seine persönlichen Reformvorstellungen, um die Sowjetunion im Systemkonflikt zukunftsfähig zu machen – und er setzte seine Politik auch dann fort, als sich unerwünschte Folgen zeigten. Damit ging auch eine Neubestimmung der sowjetischen Außenpolitik einher. Die Perestroika interpretierte zum ersten Mal in der sowjetischen Geschichte den Rückzug aus bereits erreichten außenpolitischen Positionen nicht als Niederlage, sondern als Erfolg und als Notwendigkeit des sozialistischen Modells. Das „Neue Denken“ betonte dabei vor allem den überfälligen Wandel von der Klientel- zur Kooperationsbeziehung mit den Satellitenstaaten.

In seiner Endphase zeigte der Konflikt noch einmal deutlich, was der Kalte Krieg vor allem gewesen war: ein Krieg der absolut gesetzten politischen Ideen, dessen Fronten durch klassische Machtansprüche, vor allem aber durch die gegenseitige Wahrnehmung gebildet wurden. Die Fronten lösten sich in dem Maße auf, wie sich die Wahrnehmungen veränderten. Aus diesem Blickwinkel trug die Entspannungspolitik tatsächlich erheblich mehr zur Beendigung des Konflikts bei, als ihr manche zugestehen möchten. Ironischerweise hat ausgerechnet Gorbačëv, der weitgehend konsequent auf die Entspannungspolitik gesetzt hatte, das Ende der Auseinandersetzung politisch nicht überlebt.

  1. Abgedruckt in: Dokumente zur Deutschlandpolitik, IV. Reihe, Bd. 9, Berlin 1978, S. 382-388.
  2. Brandt, Willy, Begegnungen und Einsichten. Die Jahre 1960-1975, Hamburg 1976, S. 17.
  3. Abgedruckt in: Archiv der Gegenwart, Sankt Augustin 2000, S. 4880-4890; hier: S. 4881.
  4. Zitiert nach Bahr, Egon, Zu meiner Zeit, München 1996, S. 157.

[Русская версия отсутствует]