Einführung:Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Grundlagenvertrag
Nachdem die Regierung Adenauer in den 1950er Jahren die Westbindung der Bundesrepublik zum zentralen Bestandteil der Außenpolitik gemacht hatte, wurde die von der sozialliberalen Koalition betriebene Überwindung der tiefen Gräben zu den Staaten des Warschauer Paktes zum zweiten außenpolitischen Grundpfeiler der alten Bundesrepublik. Die „neue Ostpolitik“ bedeutete einen Kurswechsel in der bundesdeutschen Außenpolitik und zielte insbesondere auf die Verbesserung des deutsch-deutschen Verhältnisses.[1] Die zentralen Verträge mit Moskau und Warschau, das Vier-Mächte-Abkommen über Berlin und schließlich der Grundlagenvertrag waren sowohl politisch als auch juristisch eng miteinander verflochten und zum Teil direkt voneinander abhängig. Das Kernstück der „neuen Ostpolitik“ stellt der Grundlagenvertrag mit der DDR von 1972 dar.
Den primären Interessen der Bundesregierung an „menschlichen Erleichterungen“ im Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten stand hierbei das Ziel der östlichen Seite gegenüber, die völkerrechtliche Anerkennung der bestehenden Grenzen und der DDR als eigenständigem Staat zu erlangen. Darin eingebettet waren die unterschiedlichen Positionen, die sich aus dem besonderen Status Berlins ergaben. Wollte die Bundesrepublik West-Berlin möglichst eng an sich binden, beharrten vor allem Moskau und die DDR darauf, (West-)Berlin als eine „eigenständige politische Einheit“, die von den vier Mächten kontrolliert wurde, zu behandeln.
Dass die Bundesregierung, wenn sie überhaupt zu Ergebnissen kommen wollte, den Interessen der anderen Seite zumindest in Teilen entgegenkommen musste, lag in der Natur der Verhandlungen. Aus diesem Grund betrachtete die Opposition aus CDU und CSU und deren Anhängerschaft die nach dem Wahlsieg der sozialliberalen Koalition im Jahr 1969 eingeleiteten Gespräche von Beginn an mit äußerstem Argwohn. Durch eine potenzielle diplomatische Anerkennung der DDR sah sie das Einheitsgebot des Grundgesetzes angegriffen und letztlich die deutsche Einheit bedroht.
Nachdem am 27. April 1972 das von der CDU/CSU-Fraktion unter der Führung Rainer Barzels maßgeblich aufgrund der „neuen Ostpolitik“ eingeleitete Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Brandt gescheitert war, rang sich die Fraktion im Mai 1972 zwar noch mehrheitlich, wenn auch nicht einstimmig,[2] zu einer Zustimmung zu den Verträgen mit Moskau und Warschau durch. Den Grundlagenvertrag mit der DDR jedoch lehnte sie geschlossen ab und stellte damit auch die Ostverträge in ihrer Gesamtheit in Frage. Doch nach der verlorenen vorgezogenen Bundestagswahl am 19. November 1972, die als „Plebiszit für den Grundvertrag gewertet wurde“[3] und wegen der unabsehbaren Konsequenzen sowohl für die außenpolitische Glaubwürdigkeit als auch für das innerdeutsche Verhältnis schreckte die CDU davor zurück, das Bundesverfassungsgericht in dieser Frage anzurufen. Die CSU hingegen verwarf derartige Bedenken: Am 28. Mai 1973 stellte die Bayerische Staatsregierung einen Normenkontrollantrag beim Bundesverfassungsgericht gegen den Grundlagenvertrag bzw. das Gesetz, mit dem der Bundestag am 11. Mai dem Vertrag zugestimmt hatte, mit dem Ziel, diesen für „mit dem Grundgesetz nicht vereinbar und deshalb nichtig“ zu erklären.
Die Vehemenz, mit der die Bayerische Staatsregierung den Vertrag bekämpfte, zeigte sich auch darin, dass sie es nicht allein bei der Klage beließ, sondern zusätzlich zwei Anträge auf einstweilige Anordnungen gegen das Inkrafttreten des Vertrages und zwei Befangenheitsanträge gegen einen Richter stellte. Ein Problem für die Gegner des Vertrages war, dass ein wichtiger Teil des gesamten Vertragswerkes mit dem für den 20. Juni vorgesehenen Austausch der Noten außenpolitische Bindung entfalten würde, ehe das Bundesverfassungsgericht am 31. Juli sein Urteil verkündet hätte. Demgegenüber argumentierte die Bundesregierung, dass der Grundlagenvertrag infolge etwaiger Verzögerungen zu scheitern drohe.[4] Eine Ablehnung des Vertrages hätte damit unabsehbare Schäden für das internationale Ansehen der Bundesrepublik nach sich gezogen. Daher setzte die Bundesregierung den Ratifizierungsprozess währenddessen fort. Am 16. Juni 1973 konnte sie das Verfassungsgericht davon überzeugen, dass der für den 20. Juni vorgesehene Austausch der Noten und damit das Inkrafttreten des Vertrages nicht bis zum 31. Juli, dem Tage der angekündigten Urteilsverkündung, herausgeschoben werden könnte. Beide Anträge auf einstweilige Anordnungen wurden somit letztlich als unbegründet abgewiesen.
Erfolg hatte jedoch der zweite Befangenheitsantrag gegen den Richter Joachim Rottmann, der sich wiederholt zur Rechtslage Deutschlands geäußert und dabei zu erkennen gegeben hatte, dass er dem Grundlagenvertrag positiv gegenüberstand. Mit den Befangenheitsanträgen versuchte die Bayerische Staatsregierung, die vermeintliche Patt-Situation im zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts zu ihren Gunsten zu kippen und damit die Hauptentscheidung zu beeinflussen. Auf diese Weise musste das Gericht in einer politisch hoch aufgeladenen Situation entscheiden, die im Falle einer Ablehnung zu gravierenden außenpolitischen Verwerfungen geführt und infolge des erfolgreichen Befangenheitsantrages auch zu einer schweren Legitimationskrise des Gerichts geführt hätte. So stand das Gericht unter erheblichem Druck, den Eindruck von Beeinflussbarkeit durch die Politik so weit wie möglich zu vermeiden. In dieser Situation rangen sich die Richter zu einem Urteil durch, das zwar nicht nur politisch, sondern auch juristisch heftig umstritten war, letztlich aber einstimmig zugunsten der Bundesregierung ausfiel. Wenn es in dem Urteil hieß, dass der Vertrag allein „in der sich aus den Gründen ergebenen Auslegung“,[5] also in der spezifischen Interpretation des Verfassungsgerichts, mit dem Grundgesetz vereinbar sei, verweist dies sowohl bereits auf den Kompromisscharakter des Urteils als auch auf die nicht unproblematischen Konsequenzen, die sich daraus ergaben. Eine Reihe von Formulierungen des Urteils, so Benno Zündorf in seiner grundlegenden Darstellung süffisant, müssten „ihren Kampf gegen Logik und staatsrechtliche Dogmatik noch bestehen“.[6] Klaus Joachim Grigoleit hingegen sieht die „staatsmännische Weitsicht“ des Urteils des Bundesverfassungsgerichts darin, in dieser Situation eine Verfassungskrise abgewendet zu haben.[7]
Wie lautete also der Tenor des Urteils und wo lagen die Probleme? Das Urteil zielte im Kern darauf, zum einen die Eigenstaatlichkeit der DDR so weit wie irgend möglich zu negieren und zum anderen Berlin so weit wie möglich als Teil der Bundesrepublik zu definieren. Was den Status Berlins anging, konnte sich das Bundesverfassungsgericht auf den Artikel 23 des Grundgesetzes beziehen, der Groß-Berlin zum Teil seines Geltungsraums machte. Eingeschränkt wurde diese Geltung allein durch die Vorbehalte der Besatzungsmächte. Doch mit dem Beharren auf der vollen Zugehörigkeit Berlins zur Bundesrepublik kam es zu der paradoxen Situation, dass das Bundesverfassungsgericht im Grunde das Vier-Mächte-Abkommen, auf dem der Grundlagenvertrag in Teilen basierte, für nicht konform mit dem Grundgesetz erklärte. Das Urteil räumte zwar ein, dass es sich bei der DDR völkerrechtlich um einen Staat handelte, dieser jedoch für die Bundesrepublik kein Ausland sei. Mit ganz konkreten Folgen etwa für den Handel oder das vorgesehene Post- und Fernmeldeabkommen. Die deutsch-deutsche Grenze definierte das Bundesverfassungsgericht als Grenze „ähnlich denen, die zwischen den Ländern der Bundesrepublik Deutschland verlaufen“. Die Regelungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR definierte das Urteil daher auch als „inter-se-Beziehung“. Das Deutsche Reich sei demzufolge nicht untergegangen, sondern „teilidentisch“ mit der Bundesrepublik.
Auf dieser Basis entwickelte das Bundesverfassungsgericht konkrete Leitlinien für die zukünftige Politik. So verpflichtete es die Bundesregierung darauf, bei jeder Vereinbarung mit der DDR, darauf zu bestehen, dass diese auch für Berlin zu gelten hätte. Schließlich versuchte das Bundesverfassungsgericht auch, die DDR auf seine vorgenommene Interpretation des Grundlagenvertrages zu verpflichten, indem es feststellte, dass die DDR vor Inkraftsetzung des Vertrages Kenntnis davon gehabt habe, dass das Gericht zur Auslegung des Vertrages kompetent und die Bundesregierung daran gebunden sei.
Abgesehen von juristischer Detailkritik an verschiedenen staatsrechtlichen Inkonsistenzen des Urteils, etwa in der Frage des Fortbestehens des Deutschen Reichs und der Identität bzw. „Teilidentität“ der Bundesrepublik mit dem Deutschen Reich, galten vor allem zwei Punkte an dem Urteil als besonders problematisch. Zum einen ignorierte das Gericht die völkerrechtlichen Implikationen des Vertrages nahezu vollständig. Offenkundig war dies insbesondere in Bezug auf Berlin, für dessen Status sich allein die Westmächte zuständig fühlten und dabei kaum Rücksicht auf das Bundesverfassungsgericht nahmen. Als die Bundesregierung einen Monat nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil beschloss, das Bundesumweltamt in Berlin zu errichten, führte dies nicht nur zu scharfem Protest aus Moskau und Ost-Berlin. Auch die Westmächte äußerten ihren Unmut über die Entscheidung und machten unmissverständlich deutlich, dass die Bundesrepublik bei einem ähnlichen Vorgehen künftig nicht mehr mit ihrer Hilfe rechnen könnte.[8] Zum anderen wurde das ungewöhnliche Maß an judicial activism kritisiert, das im Gegensatz zu dem vom Gericht für sich selbst in Anspruch genommenen judicial self-restraint dem künftigen Handlungsspielraum der Bundesregierung in bestimmten auswärtigen Fragen enge juristische Grenzen setzte.
Damit wurde zwar auf der einen Seite, wie auch die Literatur darlegt, die Verhandlungsposition der Bundesrepublik gegenüber der DDR gestärkt. Die Bundesregierung konnte hier nun stets auf verfassungsrechtliche Zwänge verweisen. Auf der anderen Seite lief die Bundesregierung Gefahr, „in einen deutschlandpolitischen Immobilismus und einen Konflikt zwischen völkerrechtlicher und verfassungsrechtlicher Verpflichtung zu geraten.“[9]
Dass das Urteil in vielerlei Hinsicht Probleme in sich barg, war den Richtern des Bundesverfassungsgerichts vermutlich klar. Um überhaupt einen, schließlich von allen Richtern getragenen Kompromiss zustande zu bringen, waren beide Seiten zu Zugeständnissen gezwungen, die zwar nicht zu einer eleganten, aber zu einer tragfähigen Lösung führten. Paradoxerweise zeige sich hier, dass die „politische“ Besetzung des Bundesverfassungsgerichtes seine Politisierung verhindert.[10] Spätestens als die Regierung Kohl seit 1982 eine pragmatische, tendenziell auf Verständigung ausgerichtete Politik mit der DDR fortführte, wurde deutlich, dass die innerhalb des Gerichts gefundene positive Haltung zu dem Grundlagenvertrag sich nun auch in der ehemaligen Opposition durchgesetzt hatte.
- ↑ Werner Link, Außen- und Deutschlandpolitik in der Ära Brandt 1969–1974. In: Karl Dietrich Bracher, Wolfgang Jäger u. a. (Hrsg.), Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5: Republik im Wandel 1969–1974. Die Ära Brandt. DVA, Stuttgart 1986, S. 163–276, hier S. 214.
- ↑ 10 Abgeordnete der Union stimmten gegen den Vertrag mit Moskau, 17 gegen den Vertrag mit Warschau.
- ↑ Klaus Joachim Grigoleit, Bundesverfassungsgericht und sozialliberale Koalition unter Willy Brandt. Der Streit um den Grundvertrag. In: Robert C. van Ooyen, Martin H. W. Möllers (Hrsg.), Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System. 2. Aufl., Springer VS, Wiesbaden 2015, S. 245–259, hier S. 248.
- ↑ Richard Häußler, Der Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und politischer Führung: Ein Beitrag zu Geschichte und Rechtsstellung des Bundesverfassungsgerichts. Duncker & Humblot, Berlin 1994, S. 58-59.
- ↑ BVerfGE 36, 1-36, Zit. S. 3.
- ↑ Benno Zündorf, Die Ostverträge: Die Verträge von Moskau, Warschau, Prag, das Berlin-Abkommen und die Verträge mit der DDR. C.H.Beck, München 1979.
- ↑ Grigoleit, op. cit., S. 258-259.
- ↑ Vgl. dazu Reinhard Fenner, Recht oder Politik? Die deutsche Frage vor dem Bundesverfassungsgericht. Diss., Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn 1980.
- ↑ Werner Billing, Bundesverfassungsgericht und Außenpolitik. In: Hans-Peter Schwarz (Hrsg.), Handbuch der deutschen Außenpolitik. 2. Aufl., Piper, München 1976, S. 157–174, hier S. 173.
- ↑ Vgl. Grigoleit, op. cit., S. 259.
[Русская версия отсутствует]