Joseph Goebbels, Tagebucheinträge über die Novemberpogrome 1938 („Reichskristallnacht“)

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Joseph Goebbels, Tagebucheinträge über die Novemberpogrome 1938 („Reichskristallnacht“)Йозеф Геббельс, Дневниковые записи о ноябрьских погромах 1938 года
11. November 1938
ноябрь 11, 1938
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Die Tagebucheinträge des nationalsozialistischen Propagandaministers Joseph Goebbels vom 10. und 11. November 1938 sind die zentralen Belegstellen für die Verantwortung Hitlers an den Novemberpogromen, dem größten Gewaltakt gegen die jüdische Bevölkerung in Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg. Goebbels schildert in diesen Tagebuchaufzeichnungen Hitlers Anordnung, die sich lokal ausbreitende Gewalt gegen die deutschen Juden fortzusetzen und auszudehnen, sowie dessen Einverständnis mit der gesamten „Aktion“. Der Propagandaminister beschreibt darüber hinaus seine eigene Rolle, die nicht nur darin bestand, die NSDAP-Funktionäre zum Pogrom anzustacheln. Er erteilte auch konkrete Befehle an die ihm untergebenen Parteigenossen im Gau Berlin, die dortigen Synagogen zu zerstören. Aus den Tagebucheinträgen geht zudem hervor, dass die scharfen antisemitischen Verordnungen, die unmittelbar auf die Pogrome folgten, von Hitler angeregt wurden.


[Русская версия отсутствует]


von: Angela Hermann, 2010


Die Novemberpogrome 1938 markieren einen Wendepunkt in der Verfolgung der Juden durch das NS-Regime. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Verfolgungspolitik gegen die jüdische Bevölkerung im Deutschen Reich vor allem in Form von antisemitischen Gesetzen, Verordnungen und sonstigen diskriminierenden Maßnahmen geäußert. Physische Gewalt gegen Juden hatte es zwar auch gegeben, aber nicht zeitgleich und flächendeckend. Anlass für die nun einsetzenden Exzesse war das Revolverattentat des 17-jährigen jüdischen Emigranten Herschel Grynszpan aus Hannover auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath am 7. November 1938 in Paris, das für den Legationssekretär zwei Tage später tödlich endete. Der jugendliche Täter wollte damit gegen die Abschiebung seiner Familie und tausender anderer jüdischer Personen nach Polen eine Woche zuvor protestieren. Während der Novemberpogrome zerstörten insbesondere Funktionäre der NSDAP, der SA und der SS mindestens 1 400 Synagogen und jüdische Betstuben und vernichteten schätzungsweise 7 500 jüdische Geschäfte, was der „Judenaktion“, wie die Nationalsozialisten das Geschehen nannten, in der Bevölkerung die spöttische Bezeichnung „Reichskristallnacht“ einbrachte.

Von Bedeutung war jedoch weniger die große Anzahl an Fensterscheiben und Waren, die vom 7. bis 10. November 1938 zu Bruch gingen, sondern die erstmalige Verschleppung von über 30 000 männlichen Juden in Konzentrationslager und die Ermordung von 1 300 bis 1 500 Menschen jüdischer Religion in diesen Tagen und den folgenden Wochen. Die meisten der in Konzentrationslager verbrachten Personen konnten die Lager nur auf die verbindliche Erklärung hin verlassen, binnen weniger Monate aus dem Deutschen Reich auszuwandern. Unmittelbar nach den Pogromen folgte eine Reihe von schwerwiegenden Verordnungen, die de facto das Ende jüdischer Erwerbstätigkeit zum 1. Januar 1939 bedeuteten. Zudem wurde den geschädigten Juden auferlegt, ihre verwüsteten Geschäfte und Wohnungen selbst wieder instand zu setzen, etwaige Versicherungsansprüche fielen an das Reich. Ferner mussten die deutschen Juden eine „Sühneleistung“ in Höhe von einer Milliarde Reichsmark für das Attentat Grynszpans bezahlen. Das Ziel der Nationalsozialisten hinter dem Pogrom und den folgenden Verordnungen war die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung. Rache, Abschreckung vor etwaigen künftigen Attentaten und eine erhoffte Erleichterung bei der Legitimierung neuer antisemitischer Schritte waren weitere Motive, die Goebbels für die Gewaltakte anführt.

Joseph Goebbels, 1933 bis 1945 nationalsozialistischer Propagandaminister, gilt als Megaphon des NS-Regimes, das die NS-Propagandalügen in alle Welt hinausposaunte. Dieses Bild des promovierten Germanisten und NSDAP-Gauleiters von Berlin führte dazu, dass auch Goebbels’ Tagebücher in den Verdacht gerieten, eher ein propagandistisches Werk für die Nachwelt als ein persönliches Tagebuch zu sein. Tatsächlich sind die Goebbels-Tagebücher authentische, persönliche und subjektive Aufzeichnungen des Rheinländers Goebbels, wenngleich dem Leser die verquere Weltsicht des Verfassers in beinahe jedem Absatz entgegentritt. Goebbels begann am 17. Oktober 1923 mit dem Tagebuchschreiben; damals war ihm die NSDAP noch unbekannt und seine Lebensgefährtin „Halbjüdin“. Sein überliefertes Tagebuch endet am 9. April 1945, kurz vor seinem Selbstmord am 1. Mai 1945. Anfangs führte Goebbels eher unregelmäßig Tagebuch, ab 1928 täglich, zwischen 1934 und 1936 im Zwei-Tages-Rhythmus, von 1936 an wieder Tag für Tag. Stets beschrieb er darin zunächst und vor allem den Vortag bzw. die vergangenen Tage, sollte er beispielsweise wegen einer Reise, Termindrucks oder einer Erkrankung nicht zum Schreiben gekommen sein.

Bis Juli 1941 beschrieb Goebbels eigenhändig 23 Buchkladden und schuf auf diese Weise 6 783 Seiten handschriftliche Tagebucheinträge. Diese Aufzeichnungen sind von sehr unterschiedlicher Länge und zum Teil in einer Art Telegrammstil verfasst. Goebbels‘ Handschrift ist überwiegend lateinischen Typs, jedoch mit Anlehnungen an die Sütterlin- bzw. Kurrentschrift und durch ihren ganz eigenen Charakter und die zumeist verwendete breite Feder relativ schwer lesbar. Kurz nach Beginn des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion ging Goebbels dazu über, sein Tagebuch täglich einem Mitarbeiter des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda zu diktieren, der es stenographisch aufnahm und maschinenschriftlich mit extrem großer Schrifttype, breiten Seitenrändern und großen Zeilenabständen zu Papier brachte und auf diese Weise ca. 36 000 Blatt Diktate produzierte. Das gesamte Tagebuch, die handschriftlichen Aufzeichnungen wie die Diktate, wurde kurz vor Kriegsende durch ein neuartiges Mikroficheverfahren im Propagandaministerium kopiert und somit für die Nachwelt gesichert. Bis auf wenige Diktate aus der Kriegszeit sind alle Tagebucheinträge von Goebbels bekannt und in einer wissenschaftlichen Edition vom Institut für Zeitgeschichte veröffentlicht.

In seinem Tagebucheintrag vom 10. November 1938 beschreibt Goebbels wie üblich den Vortag in chronologischer Abfolge. Zunächst wohnte er dem traditionellen Umzug bei, der in der NS-Zeit alljährlich am Vormittag des 9. November in Erinnerung an den Propagandamarsch anlässlich des gescheiterten Hitlerputsches vom 8./9. November 1923 in München zelebriert wurde. Daran anschließend führt Goebbels Gespräche auf, die er mit anderen NS-Führern hatte, und erwähnt seine eigene Tätigkeit, die er im Hotel verrichtete und die auch an diesem Tag mit der Durchsicht der internationalen Presse begann. Am späten Vormittag oder gegen Mittag war der Zustand des Diplomaten Ernst vom Rath „sehr ernst“, am Nachmittag wurde Goebbels dessen Tod gemeldet. Gleichzeitig war ihm auch bekannt, dass es in Kassel und Dessau antijüdische Ausschreitungen gegeben hatte.

Goebbels begab sich dann in den Saal des Alten Rathauses in München, wo die NSDAP-Prominenz für 18.00 Uhr zum „Kameradschaftsabend“ geladen hatte, und informierte Hitler über das Ableben Raths und die antisemitischen Vorfälle. Hitler „bestimmt[e]“ Goebbels zufolge, die „Demonstrationen weiterlaufen“ zu lassen, also die antijüdische Gewalt nicht einzudämmen, sondern sie auszudehnen und die „Polizei zurückziehen“ zu lassen. Diese Notiz ist für die Forschung deswegen von enormer Bedeutung, da alle hochrangigen NSDAP-Führer nach dem Zweiten Weltkrieg erklärt hatten, mit den Novemberpogromen hätte Hitler nichts zu tun gehabt, diese habe Goebbels eigenmächtig in Gang gesetzt, und der „Führer“ sei davon überrascht worden und hätte sie missbilligt. Die von Goebbels festgehaltene Aussage Hitlers, die „Juden sollen einmal den Volkszorn zu verspüren bekommen“ verweist auf Hitlers Absicht, flächendeckend Gewalt gegen das Judentum in Gang zu setzen, die von der NS-Propaganda als spontane Empörung der Bevölkerung über den Tod des Diplomaten dargestellt werden sollte.

Goebbels war mit allem einverstanden und gab den NSDAP-Funktionäre und der Polizei Anweisungen, was nun getan bzw. unterlassen werden musste, bevor er beim „Kameradschaftsabend“ eine radikale Hetzrede vor den „Alten Kämpfern“ hielt. Die nochmalige Charakterisierung des Geschehens als Handlung des Volkes („Nun wird das Volk handeln“) verrät wiederum die Propagandabotschaft, die der Bevölkerung zu den Vorfällen geliefert wurde. Es ist ein Charakteristikum des Goebbels-Tagebuchs, dass die Beschreibung des tatsächlichen Geschehens (Hitlers Anweisung) unvermittelt neben der von der Propaganda verbreiteten Version („Volkszorn“) steht. Ursache hierfür ist, dass Goebbels seine Tagebücher später überarbeiten und veröffentlichen wollte und er zum Zeitpunkt der Tagebuchniederschrift nicht wissen konnte, welche Version Jahre oder Jahrzehnte später verbreitet werden sollte. In früheren Jahren hatte Goebbels diese Propagandaversionen zumeist in Anführungszeichen gesetzt oder sie sprachlich als Propagandalügen („offizielle Begründung“) markiert. Später unterließ er diese Kennzeichnung, denn ihm war klar, was internes Wissen und was Propaganda war.

Anschließend hält Goebbels im Tagebuch fest, dass einige Personen Bedenken gegen das gewaltsame Vorgehen hatten, die er zu zerstreuen versuchte. Er erwähnt in diesem Eintrag viermal den „Stoßtrupp Hitler“, jenen Verband alter Kämpfer, der 1923 beim Putschversuch eine führende Rolle gespielt hatte, dessen Mitglieder mehrheitlich 1924 mit Hitler in Landsberg inhaftiert waren, und der seither als Traditionsverband weiter bestand. Diesem Stoßtrupp spricht Goebbels eine „fürchterliche Arbeit“ und die Inbrandsetzung einer Münchener Synagoge zu. Da es sich bei den Angehörigen des „Stoßtrupps“ um die treuesten Mitstreiter Hitlers handelte, ist davon auszugehen, dass sie beim „Kameradschaftsabend“ direkte Anweisungen von ihm für diese Nacht erhielten. Die Notiz Goebbels’, er habe versucht, die Synagoge Ohel Jakob „vor dem Brand zu retten“, entspricht vermutlich den Tatsachen, schließlich hatten die Nationalsozialisten die Sorge, es könnten auch Nachbargebäude der Synagogen in Flammen aufgehen. Die Feuerwehr hatte darauf zu achten, dass wirklich nur Synagogen brannten, alle Brände in umliegenden Gebäuden hatte sie zu löschen, wie auch Goebbels überliefert.

Um Mitternacht nahm Goebbels noch an der alljährlich am 9. November stattfindenden Vereidigung von SS-Verfügungstruppen und SS-Totenkopfverbänden an der Feldherrnhalle teil. Von dort aus ging er schließlich zur Gauleitung, um weitere Maßnahmen zu koordinieren und Informationen zu erlangen. Goebbels erwähnt die von Hitler angeordnete Verhaftung von 25 000-30 000 jüdischen Männern und die ihm noch in der Nacht bekannt gewordene Anzahl von 75 durch Brand zerstörten Synagogen. Er notierte, dass der Pogrom für die Nacht nicht mehr zu stoppen war und dass er ihn auch nicht stoppen wollte. Wieder berief er sich auf Hitlers Anweisung: „Laufen lassen“, das waren die Worte, die Hitler am frühen Abend zu ihm gesagt hatte. Für Goebbels zählte nur, dass möglichst kein „arisches“ Eigentum beschädigt wurde, daher quittierte er die Entwicklungen mit Beifall: „Bravo! Bravo! In allen großen Städten brennen die Synagogen. Deutsches Eigentum ist nicht gefährdet.“ Er selbst hatte den Propagandaleiter des NSDAP-Gaues Berlin, Werner Wächter, damit beauftragt, die Hauptsynagoge in der Reichshauptstadt, die Synagoge in der Fasanenstraße, „zerschlagen zu lassen“. Auch dies war bis zur Veröffentlichung dieses Tagebucheintrags nicht bekannt. Noch in der Nacht meldete Wächter, er habe den „Befehl ausgeführt“, wenig später erfuhr Goebbels von weiteren Synagogenbränden in Berlin, die er als Gauleiter angeordnet oder zumindest gebilligt und somit zu verantworten hat.

Ungewöhnlich an diesem Tagebucheintrag vom 10. November 1938 ist, dass Goebbels nicht nur den Vortag beschrieb, sondern auch die Entwicklungen am aktuellen Morgen (10. November). Dies geschah selten und nur bei besonders wichtigen und ereignisreichen Tagen. Nach der Lektüre der morgendlichen Presse notierte Goebbels: „Es hat furchtbar getobt“. Er unterlässt es, die tatsächlichen Täter zu nennen und suggeriert, das Volk „in Aufruhr“ habe die Taten begangen. Allerdings waren die NS-Organisationen nach Auffassung der Nationalsozialisten das Volk, denn diejenigen, die sich den Organisationen bewusst entzogen, gehörten eben nicht zur „Volksgemeinschaft“. Gemeinsam mit Hitler wollte Goebbels am Mittag des 10. November 1938 beraten, ob das NS-Regime die Pogrome nun fortsetzen oder beenden wollte. Hierzu begab er sich, nachdem er den Tagebucheintrag vom 10. November abgeschlossen hatte, in Hitlers Lieblingsrestaurant „Osteria Bavaria“. Das dort Besprochene hielt Goebbels in der folgenden Tagebuchaufzeichnung fest.

Der Tagebucheintrag vom 11. November 1938 befasst sich ausschließlich mit dem Geschehen am Vortag, dem 10. November. Goebbels erfuhr morgens, dass es in Berlin „ganz toll hergegangen“ sei, dass also die Parteigenossen dort besonders gewütet hatten. Ihm war auch bekannt, dass reichsweit „die Synagogen abgebrannt“ waren, eine Tatsache, die damals in keiner Zeitung stand, denn jedes Blatt durfte nur über die lokalen Ereignisse schreiben. Er berichtet weiter, dass er den Text einer Verordnung entwarf, die weitere Gewaltakte untersagte. Seine Befürchtung war, dass bei einer Fortsetzung „der Mob in die Erscheinung“ treten könnte, es also zu für das NS-Regime unkontrollierbaren Vorgängen und insbesondere zu weiteren Plünderungen kommen könnte. In der Osteria eingetroffen, erstattete der Propagandaminister „dem Führer Bericht“, was wiederum darauf hindeutet, dass Hitler Goebbels genau befohlen hatte, was dieser in der Nacht veranlassen sollte; nun ließ Hitler sich von seinem Minister den Vollzug seiner Anweisung melden. Offenbar waren beide der Meinung, die „Aktion“ sei „tadellos verlaufen“, da sie glaubten, es sei wirklich nur jüdisches Eigentum zerstört worden. Die bis dahin bekannt gewordenen 17 jüdischen Todesopfer störten beide nicht. Im Gegenteil: Hitler sei „mit allem einverstanden“ gewesen, seine Ansichten seien „ganz radikal und agressiv [!]“, so Goebbels. Daran anschließend schildert er Hitlers weitergehende Pläne, die schließlich zu den drei eingangs erwähnten Verordnungen führten. Dennoch hielt auch Hitler einen Abbruch der Pogrome für sinnvoll, offenbar wollte er zunächst sehen, wie das Ausland auf die Gewalt reagierte.

In einem späteren Telefonat bestätigte Reinhard Heydrich, der Chef der Sicherheitspolizei, dem Zusammenschluss von politischer Polizei und Kriminalpolizei, Goebbels seine Informationen. Daraufhin resümierte der Propagandaminister, dass „somit alles in Ordnung“ sei. Goebbels war bekannt, dass es in Bremen fünf jüdische Todesopfer gegeben hatte, was er als „unliebsame Exzesse“ bezeichnete, die aber zu vernachlässigen seien. Mit Heydrich besprach Goebbels auch den Abbruch der Pogrome, den er im Verlauf des Tages verkünden ließ. Am Abend nahm Goebbels beim Presseempfang Hitlers im „Führerbau“ in München teil, auf dem Hitler den anwesenden Journalisten seine Taktik während der kurz zuvor beendeten „Tschechenkrise“ erläuterte. Im Nachtzug nach Berlin beschäftigte sich Goebbels mit der Berichterstattung über die Pogrome im ausländischen Rundfunk und stellte mit Erleichterung fest, dass diese „sachlich“ erfolge. In Berlin kümmerte er sich nun persönlich um die antijüdische Politik und erlegte den Berliner Juden zusätzlich zur reichsweit verordneten finanziellen „Sühneleistung“ ein weiteres Bußgeld in Millionenhöhe auf. Zudem setzte er mit dem Berliner Polizeipräsidenten Graf Helldorf einen „Judenbann“ im Regierungsviertel durch, nachdem dieser bereits die Berliner Juden hatte entwaffnen lassen. Fortan durften Juden bestimmte Straßen nicht mehr betreten.

Die beiden vorgestellten Einträge aus dem Tagebuch von Joseph Goebbels haben seit ihrer Auffindung in der Forschung großes Aufsehen erregt. Wissenschaftlich ausgewertet wurden sie ab 1998 erstmals von Saul Friedländer, Peter Longerich und Ian Kershaw, die sogleich ihre Bedeutung erkannten. Doch erst 2008 gelang es, die Passagen über den „Stoßtrupp Hitler“ zu entschlüsseln, weil bislang unbekannt war, dass der Verband von 1923 nach seinem Verbot infolge des Hitlerputsches weiter bestand. Mittlerweile werden diese Textpassagen bei allen Forschungen zu den Novemberpogromen herangezogen, sogar in einigen Schulbüchern sind sie bereits zu finden. In jedem Fall sind die Tagebücher von Joseph Goebbels geeignet, der Forschung insgesamt neue wichtige Details hinzuzufügen und das Gesamtbild vom „Dritten Reich“ schärfer zeichnen zu können.


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Joseph Goebbels, Tagebucheinträge vom 10. und 11. November 1938[ ]

10. November 1938. (Do.)[ ]

Gestern: der traditionelle Marsch vom Bürgerbräu zur Feldherrnhalle und dann zum Königlichen Platz. Es ist ein grauer Novembertag. Unübersehbare Menschenmassen umsäumen die Straßen. Am Königlichen Platz die große Totenfeier. Sehr würdig und stimmungsvoll.

Mit Ley parlavert. Er ist ein guter Kerl. Auch er hat es manchmal satt und sehnt sich nach Ruhe. Er beklagt sehr, daß er so selten mit dem Führer zusammenkommt.

Lutze schimpft mächtig über die S.S. Nicht ganz mit Unrecht, zum Teil aber auch aus Konkurenzneid. Himmler hat doch allerhand auf die Beine gestellt.

Im Hotel Arbeit: der Ausbau des Rund- und Drahtfunks soll nun tatkräftig in die Hand genommen werden. Ich verlange jetzt genaue Termine.

Die Theater im Sudetengau erfordern große Zuschüsse. Ich bewillige sie gleich, damit sie überhaupt mal wieder anfangen können zu spielen.

Es bekümmern sich jetzt im Gegensatz zu früher zuviele um die Presse. Das tut auch nicht gut. Ich lasse das ein wenig abstellen.

Das Befinden des von dem Juden angeschossenen Diplomaten Raths in Paris ist weiterhin sehr ernst. Die deutsche Presse geht mächtig ins Zeug.

Die Rede des Führers im Bürgerbräu findet im In- und Auslande ein sehr starkes Echo.

Helldorff [Richtig: Helldorf] läßt in Berlin die Juden gänzlich entwaffnen. Die werden sich ja auch noch auf einiges andere gefaßt machen können.

Moskau proklamiert aufs Neue die Weltrevolution. Unter dem großen und weisen Weltmarschall Stalin. Aber das klingt alles so hohl. Moskau hat in der Tschechenkrise sein ganzes Prestige eingebüßt. Das kann mit Phrasen nicht mehr aufgeholt werden.

Den Nachmittag an meinem neuen Buch gearbeitet. Das macht mir jetzt richtigen Spaß.

Dietrich hat gegen Berndts Artikel, der auf meine Veranlassung geschrieben wurde, gemeckert. Aber mehr gegen Berndt. Gut, daß Berndt in eine neue Abteilung kommt.

In Kassel und Dessau große Demonstrationen gegen die Juden, Synagogen in Brand gesteckt und Geschäfte demoliert. Nachmittags wird der Tod des deutschen Diplomaten vom Rath gemeldet. Nun aber ist es g[ar].

Ich gehe zum Parteiempfang im alten Rathaus. Riesenbetrieb. Ich trage dem Führer die Angelegenheit vor. Er bestimmt: Demonstrationen weiterlaufen lassen. Polizei zurückziehen. Die Juden sollen einmal den Volkszorn zu verspüren bekommen. Das ist richtig. Ich gebe gleich entsprechende Anweisungen an Polizei und Partei. Dann rede ich kurz dementsprechend vor der Parteiführerschaft. Stürmischer Beifall. Alles saust gleich an die Telephone. Nun wird das Volk handeln.

Einige Laumänner machen schlapp. Aber ich reiße immer wieder alles hoch. Diesen feigen Mord dürfen wir nicht unbeantwortet lassen. Mal den Dingen ihren Lauf lassen. Der Stoßtrupp Hitler geht gleich los, um in München aufzuräumen. Das geschieht denn auch gleich. Eine Synagoge wird in Klump geschlagen. Ich versuche sie vor dem Brand zu retten. Aber das mißlingt.

Unterdeß unterhalte ich mich mit Schwarz über Finanzfragen. Mit Streicher über die Judenfrage. Mit Ribbentrop über Außenpolitik. Auch er ist der Meinung, daß man die Tschechei nun auf kaltem Wege einsacken kann. Man muß es nur geschickt anfangen. Chvalkovski [Richtig: Chvalkovský] will. Ob auch die andern, das weiß man nicht.

Mit Wagner zum Gau. Ich gebe noch ein präzises Rundschreiben heraus, in dem dargelegt wird, was getan werden darf und was nicht. Wagner bekommt kalte Füße und zittert für seine jüdischen Geschäfte. Aber ich lasse mich nicht beirren. Unterdeß verrichtet der Stoßtrupp sein Werk. Und zwar macht er ganze Arbeit. Ich weise Wächter in Berlin an, die Synagoge in der Fasanenstraße zerschlagen zu lassen. Er sagt nur dauernd: „Ehrenvoller Auftrag“.

S.S. Vereidigung vor der Feldherrnhalle. Um Mitternacht. Sehr feierlich und stimmungsvoll. Der Führer spricht zu den Männern. Zu Herzen gehend.

Ich will ins Hotel, da sehe ich den Himmel blutrot. Die Synagoge brennt. Gleich zum Gau. Dort weiß noch niemand etwas. Wir lassen nur soweit löschen, als das für die umliegenden Gebäude notwendig ist. Sonst abbrennen lassen. Der Stoßtrupp verrichtet fürchterliche Arbeit. Aus dem ganzen Reich laufen nun die Meldungen ein: 50, dann 7[5] Synagogen brennen. Der Führer hat angeordnet, daß 2[5]-30 000 Juden sofort zu verhaften sind. Das wird ziehen. Sie sollen sehen, daß nun das Maß unserer Geduld erschöpft ist.

Wagner ist noch immer etwas lau. Aber ich lasse nicht locker. Wächter meldet mir, Befehl ausgeführt. Wir gehen mit Schaub in den Künstlerklub, um weitere Meldungen abzuwarten. In Berlin brennen 5, dann 15 Synagogen ab. Jetzt rast der Volkszorn. Man kann für die Nacht nichts mehr dagegen machen. Und ich will auch nichts machen. Laufen lassen.

Schaub ist ganz in Fahrt. Seine alte Stroßtruppvergangenheit erwacht.

Als ich ins Hotel fahre, klirren die Fensterscheiben. Bravo! Bravo! In allen großen Städten brennen die Synagogen. Deutsches Eigentum ist nicht gefährdet.

Im Augenblick ist nichts Besonderes mehr zu machen. Ich versuche, ein paar Stunden zu schlafen.

Morgens früh kommen die ersten Berichte. Es hat furchtbar getobt. So wie das zu erwarten war. Das ganze Volk ist in Aufruhr. Dieser Tote kommt dem Judentum teuer zu stehen. Die lieben Juden werden es sich in Zukunft überlegen, deutsche Diplomaten so einfach niederzuknallen.

Und das war der Sinn der Übung.

Ich habe noch allerhand zu arbeiten. Jannings will mit Gewalt seinen Film retten. Aber ich kann ihm auch nicht helfen.

Der Rundfunk auf über 10 Millionen Hörer gestiegen. Ein phantastisches Ergebnis, das sehr erfreulich ist.

Ich gebe Anweisung, daß Verbote im Bereich des ganzen Ministeriums nur von mir ausgesprochen werden dürfen. Sonst geschieht zuviel Blödsinn.

Man will zum 80. Geburtstag des Kaisers Gedenkfeiern machen und Lobesartikel schreiben. Ich wäre damit einverstanden, wenn auch die Seite gegen den Kaiser ebenso zu Wort kommen könnte. Aber da zucken die Reaktionäre zurück.

Bei den Wahlen in Amerika Freunde Roosevelts vielfach geschlagen. Starker Gewinn der Republikaner. Aber das sagt noch nichts gegen Roosevelt selbst.

London läßt Teilung Palästinas fallen. Damit kommen die Engländer doch nicht durch.

Führerrede im Bürgerbräu findet ein sehr agressives Echo in London und Paris. Das war ja auch zu erwarten. Wenn man den Kriegshetzern auf die Finger klopft, dann schreien sie auf.

Den ganzen Morgen regnet es neue Meldungen.

Ich überlege mit dem Führer unsere nunmehrigen Maßnahmen.

Weiterschlagen lassen oder abstoppen?

Das ist nun die Frage.

11. November 1938. (Fr.)[ ]

Gestern: Müller erstattet Bericht über die Vorgänge in Berlin. Dort ist es ganz toll hergegangen. Brand über Brand. Aber das ist gut so.

Ich setze eine Verordnung auf Abschluß der Aktionen auf. Es ist nun gerade genug. Lassen wir das weitergehen, dann besteht die Gefahr, daß der Mob in die Erscheinung tritt. Im ganzen Lande sind die Synagogen abgebrannt. Diesen Toten muß das Judentum teuer bezahlen.

In der Osteria erstatte ich dem Führer Bericht. Er ist mit allem einverstanden. Seine Ansichten sind ganz radikal und agressiv. Die Aktion selbst ist tadellos verlaufen. 17 Tote. Aber kein deutsches Eigentum beschädigt.

Mit kleinen Änderungen billigt der Führer meinen Erlaß betr. Abbruch der Aktionen. Ich gebe ihn gleich durch Presse und Rundfunk heraus. Der Führer will zu sehr scharfen Maßnahmen gegen die Juden schreiten. Sie müssen ihre Geschäfte selbst wieder in Ordnung bringen. Die Versicherungen zahlen ihnen nichts. Dann will der Führer die jüdischen Geschäfte allmählich enteignen und den Inhabern dafür Papiere geben, die wir jederzeit entwerten können. Im Übrigen hilft sich das Land da schon durch eigene Aktionen. Ich gebe entsprechende Geheimerlasse heraus. Wir warten nun die Auswirkungen im Ausland ab. Vorläufig schweigt man dort noch. Aber der Lärm wird ja kommen.

iKemal Atatürk ist gestorben. Ein großer Mann dahingegangen. Hauptsächlich wohl durch eigene Zuchtlosigkeit. Aber ich glaube, daß das für uns kein Schaden ist. Aber die Türkei ist dadurch praktisch führerlos.

Im Hotel weitere Arbeit. Ich gebe noch ein paar Rundrufe heraus. Damit glaube ich ist die Judenaktion vorläufig erledigt. Wenn nicht noch ein paar Nachspiele kommen.

Die Juden sind am Ende doch sehr dumm. Und sie müssen ihre eigenen Fehler teuer bezahlen.

Ich telephoniere mit Heyderich [Richtig: Heydrich]. Auch der Polizeibericht aus dem ganzen Reich entspricht meinen Informationen. Es ist somit alles in Ordnung. Nur in Bremen ist es zu einigen unliebsamen Exzessen gekommen. Aber die tauchen gänzlich unter in der Großaktion. Ich mache mit Heyderich [Richtig: Heydrich] die Zusammenarbeit zwischen Partei und Polizei in dieser Frage aus.

Bis zum Abend noch weitergearbeitet. Es kommen Meldungen aus Berlin über ganz schwere antisemitische Ausschreitungen. Jetzt geht das Volk vor. Aber nun muß Schluß gemacht werden. Ich lasse an Polizei und Partei dementsprechende Anweisungen ergehen. Dann wird auch alles ruhig.

Empfang des Führers für die Presse im Führerbau. Der Führer ist sehr nett. Etwa 400 Pressevertreter. Der Führer hält eine großartige Rede. Über Sinn und Wert der Propaganda, deren Erfolge er sehr lobt und über die Aufgabe der Presse.

Später noch lange mit den Journalisten zusammengesessen. Der Führer erläutert ausführlich die Tschechenkrise, wettert gegen die Feigheit der Intellektuellen, läßt sich sehr offen über Ungarn aus, kennzeichnet sehr klar das englische Pokerspiel und gibt dabei einen großen Überblick über die ganze internationale Lage.

Um Mitternacht muß ich nach Berlin zurück.

Die ausländischen Sender berichten sachlich über die antisemitischen Aktionen in Deutschland.

Ich übernehme jetzt für Berlin selbst die ganze Gewalt. In solchen Krisenzeiten muß einer der Herr sein.

Nur wenig Schlaf.

Berlin!

Hier nach: Joseph Goebbels, Tagebucheinträge vom 10. und vom 11. November 1938, in: Fröhlich, Elke (Hg.): Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte und mit Unterstützung des Staatlichen Archivdienstes Rußlands, Teil I, Aufzeichnungen 1923-1941, Band 6, August 1938 - Juni 1939, Bearbeitet von Jana Richter, München, K. G. Saur Verlag, 1998, S. 179-183.


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Joseph Goebbels, Tagebuch für Joseph Goebbels. Vom 26. Oktober 1938 bis 8. Oktober 1939. Scan des ZAS-Mikrofiche-Duplikats im Institut für Zeitgeschichte, München [Das 479-seitige handschriftliche Originaltagebuch sowie die von Goebbels in Auftrag gegebenen Mikrofichekopien befinden sich heute im Russischen Staatlichen Militärarchiv, Moskau]. Gemeinfrei (Schutzfrist abgelaufen).

Joseph Goebbels, Tagebuch für Joseph Goebbels. Vom 26. Oktober 1938 bis 8. Oktober 1939. Scan des ZAS-Mikrofiche-Duplikats im Institut für Zeitgeschichte, München [Дневник Йозефа Геббельса. С 26 октября 1938 г. по 8 октября 1939 г. Скан дубликата микрофиши ZAS в Институте современной истории, Мюнхен]. 479-страничный рукописный оригинал дневника и микрофишевые копии, сделанные по заказу Геббельса, хранятся в Российском государственном военном архиве в Москве. Общественное достояние (срок охраны пра истек).

Ben Barkow/Raphael Gross u. a. (Hrsg.), Novemberpogrom 1938: Die Augenzeugenberichte der Wiener Library, London. Jüdischer Verlag, Frankfurt a. M. 2008.

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Elke Fröhlich (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Teil I: Aufzeichnungen 1923–1941, 14 Bde.; Teil II, Diktate 1941–1945, 15 Bde.; Teil III, Einleitung von Elke Fröhlich zur Gesamtedition und Register 1923-1945, 3 Bde. Saur, München 1993-2008.

Angela Hermann, Hitler und sein Stoßtrupp in der „Reichskristallnacht“. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 56:4 (2008), S. 603–619, Online.

Angela Hermann, Der Weg in den Krieg 1938/39: Quellenkritische Studien zu den Tagebüchern von Joseph Goebbels (=Studien zur Zeitgeschichte 83). Oldenbourg, München 2011, Online.

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Friedländer, S. Das Dritte Reich und die Juden [Третий рейх и евреи]. München: C.H.Beck, 2007.

Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil I: Aufzeichnungen 1923–1941, 14 Bde.; Teil II, Diktate 1941–1945, 15 Bde.; Teil III, Einleitung von Elke Fröhlich zur Gesamtedition und Register 1923-1945, 3 Bde [Дневники Йозефа Геббельса. Часть I: Записки 1923-1941, 14 томов; Часть II: Диктовки 1941-1945, 15 томов; Часть III: Введение Эльке Фрёлих к полному изданию и указатель 1923-1945, 3 тома.] / под ред. E. Fröhlich. München: Saur, 1993.

Hermann, A. Hitler und sein Stoßtrupp in der „Reichskristallnacht“ [Гитлер и его ударные отряды во время «Хрустальной ночи»] // Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 2008, Т. 56, № 4, c. 603–619, онлайн.

Hermann, A. Der Weg in den Krieg 1938/39: Quellenkritische Studien zu den Tagebüchern von Joseph Goebbels [Дорога к войне в 1938/39 году: источниковедческий анализ дневников Йозефа Геббельса]. München: Oldenbourg, 2011 (=Studien zur Zeitgeschichte 83), онлайн.

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