Thronrede Kaiser Wilhelms II. vor den Reichstagsabgeordneten

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Thronrede Kaiser Wilhelms II. vor den ReichstagsabgeordnetenРечь кайзера Вильгельма II перед депутатами рейхстага
4. August 1914
август 4, 1914
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Am 4. August 1914, unmittelbar nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges, beschloss der Reichstag einstimmig und damit auch mit der Zustimmung der jahrelang als Reichsfeinde diskreditierten Sozialdemokraten die zur Kriegsfinanzierung nötigen Kredite. Der eigentlichen Sitzung war eine Rede Kaiser Wilhelms II. vorausgegangen, in der er zum einen den deutschen Kriegseintritt begründete und zum anderen mit der Formel „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche“ den Burgfrieden bei Kriegsausbruch symbolisierte. Diese Wendung brachte den wirkungsmächtigen Mythos des „Augusterlebnisses“ auf eine prägnante Formel und macht die Rede zu einem Schlüsseldokument der deutschen Geschichte. Die Analyse der monarchischen Wortwahl ermöglicht es, den Mythos als solchen zu entlarven und den widersprüchlichen Deutungen der Ereignisse des 4. August auf den Grund zu gehen.


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von: Patrick Bormann, 2011


Am 4. August 1914, einem Dienstag, versammelten sich die Abgeordneten des Deutschen Reichstages mit Ausnahme der Sozialdemokraten um ein Uhr mittags im Weißen Saal des Königlichen Schlosses zu Berlin. Seit dem 1. August befand sich das Deutsche Reich im Kriegszustand mit dem russischen Zarenreich, am 3. August war auch Frankreich der Krieg erklärt worden. Die deutsche Reichsleitung hoffte noch auf die Neutralität Englands, doch am 5. August 1914 erklärte auch London dem Deutschen Reich den Krieg.

Der Reichstag war einberufen worden, um den notwendigen Kriegskrediten die Zustimmung zu erteilen. Entgegen den Wünschen der Sozialdemokratie hielt Kaiser Wilhelm II. die einleitende Rede jedoch nicht im Reichstagsgebäude, sondern im Königlichen Schloss. Daraufhin verweigerten die SPD-Abgeordneten ihre Anwesenheit, die sie für den Fall einer Verlegung in den Reichstag zugesagt hatten. Schon dieser erste Akt verweist auf die hohe Bedeutung politischer Symbolik an diesem Tag: Während die Sozialdemokraten nicht zum Kaiser gehen und damit dessen höheren Rang anerkennen wollten, sah dieser es nicht als seiner Würde entsprechend an, als Herrscher von Gottes Gnaden vom Reichstag empfangen zu werden, der seine Legitimation wiederum aus dem Volk bezog. Erst nach der Kaiserrede kehrte der Reichstag in das Reichstagsgebäude zurück, so dass auch die sozialdemokratischen Abgeordneten an den Verhandlungen teilnehmen konnten.

Die Kaiserrede vom 4. August 1914 gliedert sich in zwei Teile: Der weitaus längere Teil wurde von Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg formuliert und liefert die offizielle Begründung des Deutschen Reiches für den Kriegseintritt. Der zweite, sehr viel kürzere Teil, den Wilhelm spontan einfügte und der an seine drei Tage zuvor gehaltene Rede erinnert, wurde zum Signum des Burgfriedens und des „Augusterlebnisses“.

Die Kriegsbegründung im ersten Teil der Rede beruhte auf der Behauptung, dass eine österreichische Maßregelung Serbiens, das für die Ermordung des Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 in Sarajewo verantwortlich gemacht wurde, notwendig sei. Kaiser Franz Joseph I. sei „gezwungen“ gewesen, zu den Waffen zu greifen. Diesem berechtigten Anliegen habe sich Russland als Schutzpatron der slawischen Balkanmächte entgegengestellt und seine Armee gegen den Zweibund mobilisiert. Dieser Schritt des Zarenreiches, so die zeitgenössische deutsche Deutung, habe den Krieg ausgelöst und das Deutsche Reich gezwungen, zur Verteidigung des Bundesgenossen „treu“ an der Seite Österreich-Ungarns in den Konflikt einzutreten. Die These vom Verteidigungskrieg sollte sowohl die innere Geschlossenheit und vor allem die Unterstützung der SPD gewährleisten als auch die Sympathien der neutralen Staaten gewinnen.

Die deutsche Reichsleitung wusste nur zu genau, dass der Weltkrieg nicht ursächlich durch die russische Unterstützung Serbiens ausgelöst worden war. Vielmehr hatte sich bei den leitenden Staatsmännern die Überzeugung durchgesetzt, dass man das Attentat von Sarajewo zu einer entscheidenden Machtprobe des Zweibundes – also des Deutschen Reiches und Österreich-Ungarns – gegen die Entente – bestehend aus Russland, England und Frankreich – nutzen und dabei auch einen Weltkrieg riskieren müsse. Seit der Bildung der Triple-Entente in den Jahren 1904 bis 1907, unter anderem angestoßen durch die unruhige deutsche Weltpolitik, war das Reich in Europa weitgehend isoliert und auf den Zweibundpartner angewiesen. Wilhelm führte den Kriegsausbruch entsprechend auf „das Ergebnis eines seit langen Jahren tätigen Übelwollens gegen Macht und Gedeihen des Deutschen Reiches“ zurück. Die zunehmend als ausweglos wahrgenommene internationale Konstellation förderte die Bereitschaft zu einem „Präventivkrieg“, der bereits seit längerem in militärischen Kreisen und namentlich auch vom Generalstabschef Helmuth von Moltke diskutiert worden war. Freilich ist unübersehbar, dass der Erste Weltkrieg eben kein Präventivkrieg im klassischen Sinne war, da auf Seiten der Entente keinerlei Angriffsabsichten bestanden.

Ihre Bedeutung als Schlüsseldokument der deutschen Geschichte erhält die Rede des Kaisers durch seinen kurzen spontanen Nachtrag am Ende, der an seine Worte vom Balkon des Berliner Schlosses am 1. August 1914 erinnerte. Diese frühere Ansprache stammte aus der Feder Bethmann Hollwegs und enthielt in ihrem Kern folgende Passage: „In dem jetzt bevorstehenden Kampfe kenne ich in meinem Volke keine Parteien mehr. Es gibt unter uns nur noch Deutsche, und welche von den Parteien auch im Laufe des Meinungskampfes sich gegen mich gewendet haben sollte, ich verzeihe ihnen allen.“ Am 4. August fasste Wilhelm seine Aussage nun in die Worte, die in den folgenden Jahren vielfach zitiert wurden und unzählige Plakate und Postkarten zierten: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche.“ Das Sitzungsprotokoll vermerkt „langanhaltendes brausendes Bravo“ der Parlamentarier.

Der gesamte Ablauf des 4. August, von der morgendlichen Predigt im Berliner Dom über die Thronrede bis zur eigentlichen Reichstagssitzung, stand unter dem Zeichen der „Einheit des deutschen Volkes“, die auch in den Reden beschworen wurde. Der sozialdemokratische Fraktionsvorsitzende Hugo Haase betonte, seine Partei lasse „in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich“, der Reichskanzler Bethmann Hollweg feierte die Einigkeit mit den Worten: „Was uns auch beschieden sein mag, der 4. August 1914 wird bis in alle Ewigkeit herein einer der größten Tage Deutschlands sein“, und der Parlamentspräsident Johannes Kaempf beteuerte in seinem Schlusswort, „daß das deutsche Volk einig ist bis auf den letzten Mann, zu siegen oder zu sterben auf dem Schlachtfelde für die deutsche Ehre und die deutsche Einheit“. Gemeinsam mit den Sozialdemokraten verabschiedete der Reichstag einstimmig die Kriegskredite und beendete die Sitzung mit Hurrarufen auf „Kaiser, Volk und Vaterland“, in die erstmals auch einige sozialdemokratische Abgeordnete einstimmten. Die Reichstagssitzung wurde so in Wort und Tat zur Geburtsstunde des sogenannten Burgfriedens, der zum Augusterlebnis verklärt wurde.

Mit dem 4. August begann aber auch die Debatte darüber, was der Burgfrieden eigentlich zu bedeuten habe. Zahlreiche Intellektuelle philosophierten über die „Ideen von 1914“ und versuchten mit der Feder das auszugleichen, was sie, meist aufgrund des Alters, an der Front nicht leisten durften. Entscheidender noch war die politische Auseinandersetzung über die Deutung des „Augusterlebnisses“, denn der Konsens zu Kriegsbeginn überdauerte kaum die ersten Gefechte. Die Sozialdemokraten begründeten ihre Zustimmung zu den Kriegskrediten mit der notwendigen Verteidigung gegen Russland, also im Sinne der offiziellen Lesart der Thronrede. Sie traten von Kriegsbeginn an für einen Verständigungsfrieden ein und lehnten die bald ausufernden Expansionsziele der nationalistischen Rechten ebenso ab wie weite Teile des gemäßigten Bürgertums. Dabei konnten sie sich auf die Kaiserrede berufen, die verkündete, das Deutsche Reich treibe nicht „Eroberungslust“, und die Sozialdemokratie hatte schon während der Reichstagssitzung entsprechend betont, dass sie sich gegen die Regierung wenden werde, wenn diese unter dem Vorwand eines Verteidigungskrieges eine Expansionspolitik betreiben wolle. Schon nach den ersten Siegen der deutschen Truppen im Westen brach eine intensive Debatte über der Frage des Friedensschlusses aus. Zwar versuchten alle Seiten, die Einigkeit des Burgfriedens nach außen hin zu bewahren, da keine politische Gruppierung riskieren konnte, für dessen Zerfall verantwortlich gemacht zu werden. Doch die unterschiedlichen Friedensstrategien – die später durch die Schlagworte des Hindenburgfriedens (Siegfriedens – benannt nach dem Chef der Obersten Heeresleitung (OHL) Paul von Hindenburg) und Scheidemannfriedens (Verständigungsfriedens – nach dem SPD-Parteivorsitzendem Philipp Scheidemann) geprägt wurden – trieben die politischen Flügel auseinander.

Verstärkt wurde diese Bewegung durch die anhaltende Reformunfähigkeit des Deutschen Reiches. Die SPD hatte den Burgfrieden und das „Augusterlebnis“ als Versprechen für politische Reformen verstanden und wurde hierin auch von linksliberalen Politikern wie Max Weber oder Friedrich Naumann unterstützt. Die prominenteste Forderung war die nach einer Reform des preußischen Wahlrechts, das durch sein Dreiklassensystem das konservative Junkertum gegenüber der sozialdemokratischen Arbeiterschaft deutlich bevorzugte. Die Konservativen hingegen waren ganz anderer Ansicht, was den Wesensgehalt des „Augusterlebnisses“ betraf. Für sie stärkten die Ereignisse vom 4. August 1914 die antidemokratische Tradition Preußens, indem durch die scheinbare Kriegsbegeisterung der Arbeiterklasse – empirische Untersuchungen zeichnen heute ein anderes Bild – zu einer Hinwendung zum monarchischen System und einer Abkehr von der Demokratie geführt habe.

Betrachtet man die Wortwahl des Kaisers in seiner Thronrede, so wird deutlich, dass Wilhelm II. den Ersten Weltkrieg keinesfalls zum Anlass für politische Zugeständnisse an die Sozialdemokratie nehmen wollte. Vielmehr dominiert in der Rede ein ausgeprägtes monarchisches Verständnis, das anhand einiger stichpunktartig aufgeführter Beispiele veranschaulicht werden soll: Die Wendung „die Ermordung Meines Freundes, des Erzherzogs Franz Ferdinand“ verweist auf persönlich-dynastische Beziehungen, nicht aber auf die Rolle des Thronfolgers im Herrschaftsgefüge des Staates Österreich-Ungarn. Daraufhin habe der „Kaiser und König Franz Joseph“ zu den Waffen greifen müssen – erneut eine Personalisierung des Staates. Eben dieser sei „Mein hoher Verbündeter“, und Wilhelm sprach weiter von der „verbündeten Monarchie“. Der Zweibund war für ihn weniger ein Bündnis zwischen dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn als ein Bündnis zweier Kaiser. Selbst dem russischen Zaren gestand er weiterhin Friedfertigkeit zu – das Volk habe mit seinem „unersättlichen Nationalismus“ die russische Regierung dazu gedrängt, die immer wieder beschworene, aber tatsächlich schon lange abgeklungene traditionelle deutsch-russische Freundschaft aufzugeben.

Nicht der Kaiser ging mit seiner Rede auf das deutsche Volk und insbesondere die sozialdemokratischen Arbeiter zu, sondern von ihm erging der „Ruf“ „an die Völker und Stämme des Deutschen Reiches“. Die eingangs erwähnte Episode um die Anwesenheit der Sozialdemokratie bei der Thronrede hatte dies bereits zum Ausdruck gebracht: Der Reichstag sollte zum Kaiser kommen und nicht umgekehrt. Wilhelm erneuerte seinen Führungsanspruch gegenüber dem deutschen Volk, ohne im Gegenzug politische Reformen zu versprechen. Vergegenwärtigt man sich nochmals die Rede vom 1. August, fällt ins Auge, dass er den entsprechenden Abschnitt mit der Wendung „ich verzeihe ihnen allen“ beendet. Sein Versprechen der Thronrede, „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche“ erscheint somit nur als ein Akt der Gnade, nicht der Anerkennung politischer Forderungen. Die konservative Deutung des Augusterlebnisses entsprach also durchaus den Absichten des Kaisers. Dennoch setzte sich dieses Verständnis ebenso wenig durch wie das der Sozialdemokratie, sondern musste einer nationalistisch-antidemokratischen Auslegung weichen. Die Thronrede ist auch deshalb ein Schlüsseldokument, weil in ihr diese Sichtweise fehlt. So verzichtet sie sinnfälliger Weise auf den Begriff der „Nation“ in Bezug auf das Deutsche Reich.

Schon die letzten Tage vor Kriegsausbruch waren in den großen Städten von nationalistischen Massen geprägt, die ihren „Patriotismus“ vor allem vor Amtsgebäuden zum Ausdruck brachten. Cafés wurden zu beliebten Sammelpunkten, in denen Besucher vaterländische Lieder wie „Die Wacht am Rhein“ sangen. Hier zeigte sich auch deutlich der Konformitätsdruck, der schließlich der nationalistischen Deutung des „Augusterlebnisses“ zum Durchbruch verhalf. Während vor allem studentische Demonstranten den Kaiser oder das Vaterland hochleben ließen, wurden Cafébesucher, die an diesem Treiben nicht teilnehmen wollten, zur Teilnahme gezwungen oder unter dem Vorwurf des unpatriotischen Verhaltens des Saals verwiesen. Die am 4. August verkündete Einigkeit des deutschen Volkes entzog gewissermaßen dem politischen Protest oder der Forderung nach politischen Zugeständnissen die Legitimation. Der Verweis auf den notwendigen Zusammenhalt in einem so empfundenen „nationalen Schicksalskampf“ erleichterte es radikalen Gruppierungen, die Wortführerschaft im öffentlichen Diskurs zu übernehmen, zumal sie von der OHL um Hindenburg unterstützt wurden. Zwar gab es zahlreiche Stimmen, die mäßigend einzugreifen versuchten, nicht zuletzt auch die Reichsleitung unter Bethmann Hollweg. Da es aber einem politischen Selbstmord gleichkam, als unpatriotisch oder unentschlossen zu erscheinen, konnten sie sich letztlich nicht durchsetzen und wurden mittelfristig verdrängt. Spätestens mit dem von der OHL erzwungenen Rücktritt Bethmann Hollwegs im Sommer 1917 wurde die nationalistische Rechte zur entscheidenden Kraft im Deutschen Reich, die nach ausufernden Kriegszielen und einer völkischen inneren Verfassung strebte. Wilhelm II. war schon vor seinem Sturz nur noch ein Schattenkaiser, der gegen den Willen der neuen faktischen Machthaber, der OHL und ihrer politischen Unterstützer, keinen Reichskanzler mehr halten konnte.

Die Unterordnung aller politischen Erwägungen unter das Primat des Siegfriedens führte in die totale Niederlage. Erst als sich die militärische Niederlage abzeichnete, wurden zaghafte politische Reformen eingeleitet und parlamentarische Vertreter in die Reichsleitung berufen. Dieses Zugeständnis erwies sich jedoch als Danaergeschenk, um die demokratischen Kräfte für die Kriegsniederlage verantwortlich zu machen. Die Novemberrevolution von 1918, die den Frieden endgültig erzwingen und politische Reformen durchsetzen wollte, ließ noch einmal die Hoffnung aufkeimen, dass sich das demokratische Verständnis des „Augusterlebnisses“ durchsetzen würde. Doch wieder waren es die nationalistischen Kräfte mit Paul von Hindenburg an der Spitze, die mit der „Dolchstoßlegende“ das durchsetzungsfähigere Deutungsangebot hatten. An die Stelle des Mythos vom „Augusterlebnis“ trat die Legende von den „Novemberverbrechern“, die den Revolutionären von 1918 vorwarf, verraten zu haben, was nie gegeben hatte: den Burgfrieden von 1914.


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Geehrte Herren![ ]

In schicksalsschwerer Stunde habe Ich die gewählten Vertreter des deutschen Volkes um Mich versammelt. Fast ein halbes Jahrhundert lang konnten wir auf dem Weg des Friedens verharren. Versuche, Deutschland kriegerische Neigungen anzudichten und seine Stellung in der Welt einzuengen, haben unseres Volkes Geduld oft auf harte Proben gestellt. In unbeirrbarer Redlichkeit hat Meine Regierung auch unter herausfordernden Umständen die Entwicklung aller sittlichen, geistigen und wirtschaftlichen Kräfte als höchstes Ziel verfolgt. Die Welt ist Zeuge gewesen, wie unermüdlich wir in dem Drang und den Wirren der letzten Jahre in erster Reihe standen, um den Völkern Europas einen Krieg zwischen Großmächten zu ersparen.

Die schwersten Gefahren, die durch die Ereignisse am Balkan heraufbeschworen waren, schienen überwunden. Da tat sich mit der Ermordung Meines Freundes, des Erzherzogs Franz Ferdinand, ein Abgrund auf. Mein hoher Verbündeter, der Kaiser und König Franz Joseph, war gezwungen, zu den Waffen zu greifen, um die Sicherheit seines Reichs gegen gefährliche Umtriebe aus einem Nachbarstaat zu verteidigen. Bei der Verfolgung ihrer berechtigten Interessen ist der verbündeten Monarchie das Russische Reich in den Weg getreten. An die Seite Österreich-Ungarns ruft uns nicht nur unsere Bündnispflicht. Uns fällt zugleich die gewaltige Aufgabe zu, mit der alten Kulturgemeinschaft der beiden Reiche unsere eigene Stellung gegen den Ansturm feindlicher Kräfte zu schirmen.

Mit schwerem Herzen habe Ich Meine Armee gegen einen Nachbarn mobilisieren müssen, mit dem sie auf so vielen Schlachtfeldern gemeinsam gefochten hat. Mit aufrichtigem Leid sah Ich eine von Deutschland treu bewahrte Freundschaft zerbrechen. Die Kaiserlich russische Regierung hat sich, dem Drängen eines unersättlichen Nationalismus nachgebend, für einen Staat eingesetzt, der durch Begünstigung verbrecherischer Anschläge das Unheil dieses Krieges veranlaßte. Daß auch Frankreich sich auf die Seite unserer Gegner gestellt hat, konnte uns nicht überraschen. Zu oft sind unsere Bemühungen, mit der Französischen Republik zu freundlicheren Beziehungen zu gelangen, auf alte Hoffnungen und alten Groll gestoßen.

Geehrte Herren! Was menschliche Einsicht und Kraft vermag, um ein Volk für die letzten Entscheidungen zu wappnen, das ist mit Ihrer patriotischen Hilfe geschehen. Die Feindseligkeit, die im Osten und im Westen seit langer Zeit um sich gegriffen hat, ist nun zu hellen Flammen aufgelodert. Die gegenwärtige Lage ging nicht aus vorübergehenden Interessenkonflikten oder diplomatischen Konstellationen hervor, sie ist das Ergebnis eines seit langen Jahren tätigen Übelwollens gegen Macht und Gedeihen des Deutschen Reichs.

Uns treibt nicht Eroberungslust, uns beseelt der unbeugsame Wille, den Platz zu bewahren, auf den Gott uns gestellt hat, für uns und alle kommenden Geschlechter.

Aus den Schriftstücken, die Ihnen zugegangen sind, werden Sie ersehen, wie Meine Regierung und vor allem Mein Kanzler bis zum letzten Augenblick bemüht waren, das Äußerste abzuwenden. In aufgedrungener Notwehr mit reinem Gewissen und reiner Hand ergreifen wir das Schwert.

An die Völker und Stämme des Deutschen Reichs ergeht Mein Ruf, mit gesamter Kraft, in brüderlichem Zusammenstehen mit unseren Bundesgenossen, zu verteidigen, was wir in friedlicher Arbeit geschaffen haben. Nach dem Beispiel unserer Väter fest und getreu, ernst und ritterlich, demütig vor Gott und kampfesfroh vor dem Feind, so vertrauen wir der ewigen Allmacht, die unsere Abwehr stärken und zu gutem Ende lenken wolle!

Auf Sie, geehrte Herren, blickt heute, um seine Fürsten und Führer geschart, das ganze deutsche Volk. Fassen Sie Ihre Entschlüsse einmütig und schnell – das ist Mein inniger Wunsch.

[Seine Majestät fügten hinzu:]

Sie haben gelesen, meine Herren, was Ich an Mein Volk vom Balkon des Schlosses aus gesagt habe. Hier wiederhole Ich: Ich kenne keine Parteien mehr, Ich kenne nur Deutsche.

[Langanhaltendes brausendes Bravo.]

Zum Zeichen dessen, daß Sie fest entschlossen sind, ohne Parteiunterschiede, ohne Stammesunterschiede, ohne Konfessionsunterschiede durchzuhalten mit Mir durch dick und dünn, durch Not und Tod, fordere Ich die Vorstände der Parteien auf, vorzutreten und Mir das in die Hand zu geloben.

[Die Parteiführer kamen dieser Aufforderung nach unter stürmischem andauerndem Bravo.]

[...]

Hier nach: Verhandlungen des Reichstags. Dreizehnte Legislaturperiode. Zweite Session. 1914. Eröffnungssitzung im Weißen Saale des Königlichen Schlosses zu Berlin am Dienstag den 4. August 1914, in: Verhandlungen des Reichstags, Stenographische Berichte, 1914/16, Bd. 306, S. 1-2.


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Verhandlungen des Reichstags. Dreizehnte Legislaturperiode. Zweite Session. 1914. Eröffnungssitzung im Weißen Saale des Königlichen Schlosses zu Berlin am Dienstag den 4. August 1914, in: Verhandlungen des Reichstags, Stenographische Berichte, 1914/16, Bd. 306, S. 1-2. Gemeinfrei (Schutzfrist abgelaufen).

Verhandlungen des Reichstags. Dreizehnte Legislaturperiode. Zweite Session. 1914. Eröffnungssitzung im Weißen Saale des Königlichen Schlosses zu Berlin am Dienstag den 4. August 1914 [Протоколы Рейхстага. Тринадцатый законодательный период. Вторая сессия. 1914 г. Открытие сессии в Белом зале Королевского дворца в Берлине во вторник 4 августа 1914 г.] // Verhandlungen des Reichstags, Stenographische Berichte, 1914/16, Bd. 306, S. 1-2. Общественное достояние (срок охраны прав истек).

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