Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat ["Reichstagsbrandverordnung"], 28. Februar 1933

Einleitung

Die Frage, ob der am Abend des 27. Februar 1933 im brennenden Reichstag festgenommene Marinus van der Lubbe tatsächlich, wie von ihm selbst behauptet, allein gehandelt oder ob es nationalsozialistische (Mit-)Täter gegeben hat, die den 1934 hingerichteten linksradikalen Niederländer nur als Strohmann benutzten, ist bis heute umstritten. Während nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst die letztgenannte Position dominiert hatte, gewann Anfang der 1960er Jahre infolge der Forschungen des Amateurhistorikers Fritz Tobias die Einzeltäterthese an Boden.

Die Kontroversen um den Reichstagsbrand haben seitdem einen überaus heftigen Charakter angenommen. Dies erklärt sich auch aus dem Umstand, daß die kriminalistische Thematik mit historischen Deutungsmodellen verbunden wurde. So neigten "Intentionalisten", die das nationalsozialistische Regime als planmäßig von oben durchgesetzte Diktatur interpretierten, nicht selten zur These einer nationalsozialistischen Brandstiftung oder äußerten doch zumindest deutliche Zweifel an der Alleintäterthese. Umgekehrt beharrten die "Strukturalisten", die in der Errichtung der Diktatur eher einen ungeordneten – durch die Kollaboration der deutschen Eliten allerdings massiv unterstützten – Prozeß verstanden, auf der Alleintäterschaft van der Lubbes. Zu nennen ist hier insbesondere Hans Mommsen, der wesentlich zur Anerkennung von Tobias beigetragen hat.

Beide Seiten können für ihre Sicht der Brandstiftung eine Fülle von Indizien anführen, die sich freilich teilweise unterschiedlich deuten lassen. Nachdem polizeiliche und gerichtliche Akten aus dem Jahr 1933, die lange Zeit in der Sowjetunion gelegen hatten, in den 1990er Jahren frei zugänglich geworden waren, sind in jüngster Zeit wieder Hinweise auf eine nationalsozialistische Tatbeteiligung in den Vordergrund der Diskussion gerückt. Von einer eindeutigen Klärung bleibt das Problem jedoch weit entfernt; vielmehr sind erneut heftige Kontroversen aufgeflammt. Zahlreiche Historiker, die der wechselseitigen Polemiken und der komplizierten brandtechnischen Beweisführungen überdrüssig geworden sind, neigen allerdings dazu, die Frage nach der Brandstiftung als letztlich sekundär zu betrachten. Wichtiger sei, daß die Nationalsozialisten den Reichstagsbrand als Anlaß für eine weitreichende Ausnahmezustandsverordnung gebrauchten. Deren historische Bedeutung ist unstrittig – unabhängig davon, ob sie als spontane Ausnutzung eines Zufalls oder als Ergebnis längerfristiger Planung interpretiert wird.

Die Reichstagsbrandverordnung umfaßt eine Reihe von Bestimmungen, die insgesamt den Eindruck einer akuten Bedrohung des Staates erwecken. In ihrer Präambel nennt sie als Rechtsgrundlage Artikel 48 Absatz 2 der Weimarer Verfassung, der den Reichspräsidenten unter gewissen Voraussetzungen mit diktatorischen Vollmachten ausstattet. Als Ziel definiert sie die "Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte" – die Brandstiftung wurde von Adolf Hitler und der nationalsozialistischen Propaganda sofort als Zeichen eines bevorstehenden kommunistischen Aufstands gedeutet. § 1 setzt wesentliche Grundrechte "bis auf weiteres" außer Kraft: die Freiheit der Person, die Unverletzbarkeit der Wohnung, das Brief- und Fernsprechgeheimnis, die Meinungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit, das Vereinigungsrecht und die Gewährleistung des Eigentums. § 2 sieht die Möglichkeit eines "vorübergehend[en]" Übergangs der vollziehenden Gewalt von den obersten Landesbehörden an die Reichsregierung vor, falls in einem Lande "die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen nicht getroffen" werden. § 3 legt fest, daß die nachgeordneten Landes- und Gemeindebehörden den gemäß § 2 erlassenen Anordnungen Folge zu leisten haben. § 4 stellt Zuwiderhandlungen gegen Anordnungen der Verordnung unter Strafe. § 5 führt die Todesstrafe für eine Reihe von Tatbeständen ein, die nach dem gültigen Strafgesetzbuch bislang mit lebenslangem Freiheitsentzug geahndet wurden, unter anderem Hochverrat und Brandstiftung. Zudem werden verschiedene Tatbestände neu eingeführt und mit einer Strafandrohung zwischen 15 Jahren Zuchthaus und der Todesstrafe belegt, so beispielsweise Mord bzw. Aufforderung oder Anstiftung zum Mord am Reichspräsidenten oder an einem Regierungsmitglied.

Die Entstehung der Verordnung ist nur in groben Zügen nachzuvollziehen. Erste Pläne scheinen noch am Brandabend im preußischen Innenministerium unter Beteiligung von Hitler und Hermann Göring diskutiert worden zu sein. Den ersten Textentwurf präsentierte der Reichsminister des Innern Wilhelm Frick gegen Mittag des 28. Februar in einer Kabinettssitzung. Diese Fassung war mit der späteren Verordnung bereits weitgehend identisch. Kleinere Veränderungen betrafen vor allem § 2, der den Übergang von Landesbefugnissen an das Reich regelte und der zu einem halbherzigen Einspruch des parteilosen Vizekanzlers Franz von Papen führte. Gemäß dem ursprünglichen Verordnungsentwurf wären die Landeskompetenzen an den Reichsinnenminister – und damit an den Nationalsozialisten Frick – gefallen, in der später verkündeten Verordnung standen sie der Reichsregierung insgesamt zu. Angesichts der faktischen Machtverhältnisse im Kabinett war dies allerdings nur eine kosmetische Korrektur.

In einer zweiten Kabinettssitzung am Nachmittag desselben Tages fand die Verordnung ihre endgültige Form. Bald darauf wurde sie von Mitgliedern der Reichsregierung – Kanzler Hitler, Innenminister Frick und Justizminister Franz Gürtner – sowie vom Reichspräsidenten unterzeichnet und im Reichsgesetzblatt verkündet. Über die Beweggründe Paul von Hindenburgs ist wenig bekannt. Möglicherweise spielte das Vorbild weitreichender Ausnahmezustandsverordnungen in der Weimarer Zeit eine gewisse Rolle. Ebenso kann vermutet werden, daß die antikommunistische Zielsetzung der Verordnung die Wahrnehmung des greisen Reichspräsidenten entscheidend geprägt hat.

Die Reichstagsbrandverordnung steht im Kontext einer Reihe spezifischer Notverordnungen nach Artikel 48, die in den ersten Wochen nach der Berufung Hitlers zum Reichskanzler und dem Antritt einer nationalsozialistisch-konservativen Koalitionsregierung eingesetzt wurden, um innenpolitische Gegner zu bekämpfen. So bildete die "Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des deutschen Volkes" vom 4. Februar 1933 die Grundlage für Einschränkungen der Presse- und Versammlungsfreiheit im Vorfeld der Reichstagswahlen vom 5. März 1933. Die am Nachmittag des 27. Februar, unmittelbar vor dem Reichstagsbrand, im Kabinett gebilligte und am 28. von Hindenburg unterzeichnete "Verordnung des Reichspräsidenten gegen Verrat am deutschen Volke und hochverräterische Umtriebe" verfügte drastische Strafverschärfungen bei Landesverrat und Verrat militärischer Geheimnisse.

Der Umstand, daß die "Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat" nur einen Tag nach dem Reichstagsbrand in Kraft trat, läßt nicht zwangsläufig auf eine vorbereitete Aktion und damit auch auf eine nationalsozialistische Brandstiftung schließen. Die rasche Ausarbeitung fiel insofern relativ leicht, als es einen Fundus von Ausnahmezustandsverordnungen aus der Weimarer Zeit gab und sich einzelne Bestimmungen nach dem Baukastenprinzip kombinieren ließen. Diese Abhängigkeit von den Instrumenten des Weimarer Ausnahmezustands ist erst in der jüngsten Forschung genauer analysiert worden. Lange Zeit hatte in der bundesdeutschen Geschichtsschreibung das Bemühen dominiert, die neuartige Dimension der Reichstagsbrandverordnung und somit den "revolutionären" Charakter der nationalsozialistischen "Machtergreifung" zu betonen. Dabei war unbeachtet geblieben, daß wesentliche Teile der Verordnung weitgehend wörtlich mit einem 1919 ausgearbeiteten Muster für Ausnahmezustandsverordnungen übereinstimmten, das wiederum Elemente des traditionellen preußischen Belagerungszustands aufgriff. Zentral waren insbesondere die Suspendierung von Grundrechten sowie der Übergang der Exekutive auf den Reichswehrminister bzw. an Militärbefehlshaber. In der schwierigen Anfangsphase der Weimarer Republik wurden unter Reichspräsident Friedrich Ebert auf lokaler und regionaler Ebene immer wieder Verordnungen in Kraft gesetzt, die auf dieser Vorlage aufbauten. Besonders weitreichend war die mit Abbruch des Ruhrkampfes erlassene Verordnung vom 26. September 1923, die erstmals – und bis 1933 das einzige Mal – eine reichsweite Ausdehnung besaß. Ein Präzedenzfall wurde auch insofern geschaffen, als diese Verordnung keinen Hinweis auf ein Schutzhaftgesetz aus dem Jahr 1916 enthielt, das trotz der Suspendierung von Grundrechten fundamentale Rechte von Verhafteten garantierte. Auch in der Reichstagsbrandverordnung fehlte eine entsprechende Bestimmung.

Eine dem Muster der frühen Weimarer Jahre analog konstruierte Verordnung wurde noch einmal während der Endphase der Republik erlassen, als die Regierung Papen für den Fall massiver Widerstände gegen die Entmachtung der preußischen Landesregierung am 20. Juli 1932 für knapp eine Woche den Ausnahmezustand über die Region Berlin verhängte. Die reichsweite Variante wurde schließlich durch einen Verordnungsentwurf aktualisiert, der im November 1932 im Kontext von Überlegungen stand, den militärischen Ausnahmezustand gegen Kommunisten und Nationalsozialisten einzusetzen ("Planspiel Ott").

Ein wesentlicher Unterschied zwischen der Reichstagsbrandverordnung und den meisten früheren Ausnahmezustandsverordnungen lag darin, daß 1933 kein militärischer, sondern ein auf die zivilen Behörden und insbesondere auf die Polizei gestützter Ausnahmezustand verkündet wurde. Auch hierfür hatte es bereits in den Anfangsjahren der Weimarer Republik regionale Beispiele gegeben. Der zivile Ausnahmezustand war Anfang 1933 für die Nationalsozialisten die günstigere Option, da sie zum damaligen Zeitpunkt der Unterstützung der Reichswehr noch nicht sicher sein konnten. Hingegen befand sich die unter Länderhoheit stehende Polizei inzwischen in weiten Teilen Deutschlands unter nationalsozialistischem Einfluß, vor allem weil das größte Land bereits seit dem staatsstreichartigen "Preußenschlag" während der Kanzlerschaft Papens gleichgeschaltet war. Hinzu kam, daß die "nationalen Verbände", d.h. in erster Linie die SA, am 22. Februar 1933 in den Rang einer Hilfspolizei erhoben worden waren und demnach als Vollzugsorgane zur Verfügung standen.

Die Bedeutung der Reichstagsbrandverordnung für die Errichtung und Sicherung der Diktatur ist von der historischen Forschung detailliert analysiert worden. In den ersten Wochen nach Inkraftsetzung kamen ihr vor allem zwei Aufgaben zu: Zum einen diente sie als pseudolegale Rechtsgrundlage für die schon vor ihrer Verkündung einsetzende Verfolgungswelle gegen Kommunisten, Sozialdemokraten und deren vermeintliche Unterstützer. Bedeutsam wurden insbesondere die Aufhebung der wesentlichen Grundrechte in § 1, die den Weg frei machte für die massenhaft praktizierte "Schutzhaft" und für weitgehende Veranstaltungs- und Presseverbote, sowie § 4, der die Zuwiderhandlung gegen die Durchführung der Verordnung unter Strafe stellte. Zum anderen gewann die Reichstagsbrandverordnung eine Droh- und Interventionsfunktion gegen noch nicht nationalsozialistisch beherrschte Länder. In Wechselwirkung zwischen bedrohlichen Aufmärschen von SA und SS und § 2 der Verordnung wurden die Absetzung bzw. der Rücktritt der regulären Landesregierungen sowie die Einsetzung von Reichskommissaren und schließlich von nationalsozialistischen Regierungen betrieben.

In welchem Maße die auf Grundlage der Reichstagsbrandverordnung stattfindende Verfolgungswelle das Wahlergebnis vom 5. März 1933 beeinflußt hat, ist wohl kaum zu klären. Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei erreichte zwar ihr bislang bestes Resultat (43,9 %), verfehlte aber die angestrebte absolute Mehrheit. Hätten die Nationalsozialisten auch zusammen mit ihren deutschnationalen Bundesgenossen keine Mehrheit erlangt, wäre die Reichstagsbrandverordnung eine mögliche Grundlage für den offenen Staatsstreich gewesen. Dank des Ermächtigungsgesetzes vom 24. März – Pläne hierzu hatten im Konzept einer pseudolegalen Machtsicherung schon seit längerem eine zentrale Rolle gespielt – konnte Hitler einen anderen Weg gehen. Gleichzeitig war nun die in Artikel 48 der Weimarer Verfassung verankerte Möglichkeit eines parlamentarischen Aufhebungsverlangens gegen eine Notverordnung insofern wertlos geworden, als das Ermächtigungsgesetz der Regierung eine von parlamentarischer Kontrolle unabhängige legislative Kompetenz verlieh.

Trotz der in Artikel 48 vorgegebenen Beschränkung auf "vorübergehende" Maßnahmen war die Reichstagsbrandverordnung auch langfristig wirksam, vor allem durch die Suspendierung der Grundrechte, die bis zum Ende des nationalsozialistischen Regimes andauerte. Auch blieb die Verordnung die rechtliche Basis für die von gesetzlichen Restriktionen befreite Tätigkeit der Polizei und insbesondere der Gestapo. Die Zielsetzung einer antikommunistischen "Abwehr" wurde schon bald derart umfassend ausgelegt, daß damit alle Maßnahmen, beispielsweise auch die Verfolgung kirchlicher Gruppen, gerechtfertigt werden konnten. Allerdings wurde in späteren Jahren die Verordnung seltener in Anspruch genommen, da unbeschränkte Befugnisse nun mit dem "Gesamtauftrag" des nationalsozialistischen Staatsaufbaus gerechtfertigt wurden. Die Strafnormen des § 4 verloren nach und nach an Bedeutung, indem neue Gesetze und Verordnungen auf der Grundlage des Ermächtigungsgesetzes die Diktatur ausgestalteten. Dies gilt auch für die Strafverschärfungen in § 5 Absatz 1, die 1935 aufgehoben wurden; die Strafbestimmungen gemäß § 5 Absatz 2 blieben dagegen bis 1945 in Kraft.

Insgesamt wurde die Reichstagsbrandverordnung, ebenso wie das Ermächtigungsgesetz, zu einem wirkungsvollen Instrument für die Durchsetzung und Sicherung der nationalsozialistischen Diktatur. Der bereitstehende Fundus des Weimarer Ausnahmerechts, das trotz seiner problematischen Potentiale immer auf die Bewahrung der Demokratie gerichtet war, konnte von den Nationalsozialisten geschickt für die eigenen totalitären Ziele genutzt werden.