Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln (Betäubungsmittelgesetz), 10. Januar 1972

Einleitung

Die geschichtswissenschaftliche Forschung zu illegalen Drogen wie zum Beispiel Cannabisprodukten, LSD, Heroin oder Kokain steht in Deutschland noch am Anfang. Es dominieren bislang sozialwissenschaftliche, kriminologische und rechtswissenschaftliche Studien. Allein für die bundesdeutsche Zeitgeschichte sieht diese Bilanz etwas positiver aus, denn es liegen fundierte Detailstudien vor, die es erlauben, die Wandlungen des Drogenkonsums und die Entstehung des Betäubungsmittelgesetzes vom Januar 1972 in den historischen Kontext einzuordnen.

Der Konsum illegaler Drogen blieb in Deutschland bis in die 1960er Jahre ein Randphänomen. Bis dahin kamen die Konsumenten zumeist aus Gesundheitsberufen (Ärzte, Krankenschwestern, Apotheker) oder waren Kriegsveteranen, die durch kriegsbedingten Konsum u.a. von Morphium oder von Wachhaltemitteln wie Pervitin abhängig geworden waren. Diese Konstellation änderte sich jedoch um die Mitte der 1960er Jahre, nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch in Westeuropa und in den USA. Drogenkonsum wurde zum Ausdruck und Motor gesellschaftlicher Wandlungen und individueller konsumbasierter Identitätskonstruktionen, speziell unter jüngeren Menschen aus der Mittel- und Oberschicht. Vor allem nach 1968 nahmen die polizeilich erfassten Rauschgiftdelikte deutlich zu. Wurden 1965 bundesweit 1.003 Straftaten erfasst, die zur Rauschgiftkriminalität zählten, waren es 1968 1.891 und 1970 schließlich 16.104 Straftaten. Ende 1969 waren daher 75 Prozent eines von EMNID befragten repräsentativen Bevölkerungsquerschnitts erschreckt über den weit verbreiteten Drogenkonsum.

Anfang 1970 wurde in der Bundesregierung erkannt, dass gesetzliche Maßnahmen gegen den Drogenkonsum unter jungen Menschen notwendig waren. Im Juni 1970 wurde im Bundestag über Pläne zur Änderung des Opiumgesetzes vom 10. Dezember 1929 diskutiert, im Folgemonat ein Referentenentwurf des Bundesgesundheitsministeriums vorgestellt, im März 1971 fanden die erste und im Oktober die zweite und dritte Lesung des Gesetzes statt. Die Ausschussberatungen, unter Federführung des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit, erstreckten sich von April bis September 1971. In der Forschung besteht aber Einigkeit darüber, dass die Gesetzesinhalte eher von der Ministerialbürokratie als von Parlamentariern bestimmt wurden. Aus kriminologischer Perspektive gilt für das Gesetz: Die "Tatbestände und Regelbeispiele sind großenteils unscharf und realitätsfern formuliert, die Sanktionsstufen nicht klar voneinander abgegrenzt" (Scheerer).

Das Betäubungsmittelgesetz (BtmG) vom Januar 1972 benannte die Stoffe, die unter seine Regelungen fielen, wobei die Bundesregierung ermächtigt war, zukünftig weitere Stoffe hinzuzufügen (§ 1). Soweit nicht anders bestimmt, übte das Bundesgesundheitsamt die Aufsicht über die Durchführung der Gesetzesbestimmungen aus (§ 2), erteilte die Erlaubnis für den Umgang mit Betäubungsmitteln und regelte diesen (§§ 3-10). Das Strafmaß für Freiheitsstrafen und die Ahndung von Ordnungswidrigkeiten war in den §§ 11-13 geregelt. Die Gerichte konnten von einer Bestrafung absehen, wenn Besitz oder Erwerb von Betäubungsmitteln in geringer Menge lediglich dem Eigenverbrauch dienten (§ 10, Absatz 5). Für Grundtatbestände war als Strafmaß drei Jahre vorgesehen. Strafmilderungen waren möglich. Grundsätzlich war das Betäubungsmittelgesetz durch eine "Tendenz zur Lückenlosigkeit" (Scheerer) charakterisiert, bei der fast jeder Umgang mit Betäubungsmitteln eine eigenständige Straftat darstellte.

Auf Bundesebene standen die Bekämpfung von Kriminalität, Drogenkonsum und -handel sowie Terrorismus in den späten 1960er/frühen 1970er Jahre auf der innenpolitischen Agenda weit oben. Das BtmG berührte alle drei Problemfelder und besaß somit eine wichtige Funktion in den bundespolitischen Bestrebungen, Sicherheit nach innen, kurz: die "Innere Sicherheit", umfassend zu gewährleisten. Der vage Begriff der "Inneren Sicherheit" diente der innenpolitischen Legitimation von Staatlichkeit und meinte ein komplexes Maßnahmenbündel zur Definition, Darstellung und Festigung von Staatsfunktionen nach innen. Im Zuge der Planungseuphorie der 1960er Jahre schien die Zukunft generell und mit ihr auch Sicherheit nach innen umfassend gestaltbar. Der Bedeutungsgewinn des innenpolitischen Leitbegriffs "Innere Sicherheit" zeigt sich sowohl im "Sofortprogramm der Bundesregierung zur Modernisierung und Intensivierung der Verbrechensbekämpfung" als auch im "Aktionsprogramm der Bundesregierung zur Bekämpfung des Drogen- und Rauschmittelmißbrauchs" (beide Ende 1970). Dieser Bedeutungszuwachs war nur möglich, weil auch in der bundesdeutschen Gesellschaft die Sensibilität für Sicherheitsfragen gestiegen war und über das für die 1950er Jahre postulierte "Streben nach ‘Sicherheit‘" (Braun) hinausging.

Gesellschaftlich waren die Veränderungen im Drogenkonsum der 1960er Jahre in verschiedene Wandlungsprozesse eingebettet. Zum einen hatte sich in der Bundesrepublik um die Mitte der Dekade die Sicht auf die soziale Ordnung verändert, die nun weniger mit Blick auf harmonische und kleinräumige Gemeinschaften, sondern mittels des durchaus konflikthaften Begriffs der "Gesellschaft" beschrieben und analysiert wurde. Zweitens stiegen seit dem ersten Drittel der 1960er Jahre die in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) registrierten Straftaten. Bei aller berechtigten Kritik an der PKS können die hier erfassten Delikte zumindest Indizien dafür liefern, dass sich um die Mitte der 1960er Jahre bislang unbekannte gesellschaftliche Probleme und Veränderungen zeigten. Vor allem in der Jugenddelinquenz gab es zwei tief greifende Wandlungen: Seit Mitte der 1960er Jahre verlor sie zum einen ihre traditionellen "Orte" und erfasste zum andern nicht nur – wie bislang üblich – überwiegend Jugendliche aus den Unterschichten, sondern auch aus den Mittel- und Oberschichten. Es kam also zu einer räumlichen und sozialen Entgrenzung. Denn nun hatten es Polizei, Jugendschützer und Politiker häufig mit Jugendlichen zu tun, die in einen komplexen "Untergrund", auch "underground" genannt, in eine Art subkulturelle Gegenwelt eingebunden waren, in der Drogenkonsum eine sehr wichtige Rolle spielte, ergänzt durch provokativ-politische Aktionen (wie Happenings, Sit-ins etc.). Außerdem kamen einige der frühen Linksterroristen aus Drogenmilieus, so dass auch aus innenpolitischer Sicht die Bekämpfung des Drogenkonsums enorm an Bedeutung gewann. Darüber hinaus wuchs die öffentlich-medial bekundete Besorgnis um Kriminalität, deren Wahrnehmung sich zugleich wandelte, weg von individuellen hin zu sozialstrukturellen Argumentationsmustern. Wer seit Mitte der 1960er Jahre von Gesellschaft sprach, konnte über Kriminalität nicht schweigen.

In den späten 1970er Jahren führten dann die Zunahme des Heroinkonsums und dessen Bekämpfung erneut zur Überarbeitung des Betäubungsmittelgesetzes, dessen Änderungen zum 1. Januar 1982 in Kraft traten (BGBl I (1981), S. 681). Nach etwa dreijähriger Vorbereitung brachte das Bundeskabinett am 31. Oktober 1979 einen neuen Gesetzentwurf in den Bundestag ein, der unter dem Motto stand "Therapie statt Strafe". Am 26. Mai 1981 nahm der Bundestag einen erheblich veränderten Entwurf einstimmig an, der durch drei Merkmale bestimmt war: vor allem mit Stoßrichtung gegen große Produzenten und Händler erhöhte Strafobergrenzen für schwere Delikte, Strafminderung bzw. Straferlass für Kronzeugen sowie Therapievorrang bei kleineren Delikten und Therapiewilligkeit bei Drogentätern, bei denen nicht mehr als zwei Jahre Freiheitsstrafe zu erwarten waren. Das alte Gesetz von 1972 mit seinen inzwischen 16 Verordnungen wurde damit 1982 ersetzt.

Klaus Weinhauer